Salomes Nachtmäre im Atelier beim Schneidermeister. Claus Guth inszeniert die Salome an der Deutschen Oper Berlin

Von schwülstiger Erotik, von Dekadenz und Jugendstil, von Orientmode, von Schleiertanz und Nekrophilie, von all den Mythen und Obsessionen des Fin de Siècle, in denen sich bei der Salome so mancher konventioneller Theatermacher verfängt, will Claus Guth nichts wissen. Er optiert stattdessen für Traumdiskurs, Puppentheater, Aktualisierung und einen Schuss Psychoanalyse.

Seine Salome, wie sie da im langen Nachthemd durch die Puppen (die Schaufensterpuppen) im Atelier irrt, ist keine Kindfrau mit eigenartigen Gelüsten. Sie ist eine erwachsene Frau, die in ihrer Kindheit vom pädophilen Stiefvater missbraucht wurde, an diesem Trauma leidet und sich gleichsam in einer Nachtmäre ihre Kindheit und Jugend in Erinnerung ruft. Eine Zeit, die sich gleich in sechs Salome Doppelgängerinnen in unterschiedlichen Altersstufen konkretisiert. Kinder und junge Mädchen, die sie nahezu ständig umgeben.

Der Prophet Jochanaan, ein schwerer nackter Mann, der aus einem Haufen von Stoffresten, die in der Schneiderei herumliegen, herauskriecht, ist nichts anderes als der Wiedergänger oder Doppelgänger des verhassten und geliebten Stiefvaters, eine Identität, die offensichtlich wird, wenn die Salome-Mädchen ihn ankleiden und er in Kostüm und Maske, mit Perücke und Brille zum perfekten Doppelgänger des Stiefvaters wird.… → weiterlesen

Führer, Verführer, Verführte und ein Ende ohne Hoffnung: Rienzi und Lohengrin an der Deutschen Oper Berlin

Wann hat man schon Gelegenheit, Wagners frühe Grand Opéra, seine „große tragische Oper“, und Lohengrin, seine „romantische Oper“,  gleich hintereinander an zwei Abenden zu hören und diese in Inszenierungen zu sehen, die von der gleichen Grundkonzeption ausgehen und doch in der Ausgestaltung dieser Grundidee so gänzlich verschieden sind. Beide erzählen vom Aufstieg und Fall einer charismatischen Persönlichkeit, die  als Retter aus einer Zwangslage erscheint, die es versteht, die Massen für sich einzunehmen und diese zu manipulieren. Rienzi wie Lohengrin, beide sind  sie Politiker, die sich selber inszenieren: der eine  als  Meister der Propaganda und  brutaler Diktator, der sein Volk und sich selber in den Untergang führt, der andere  als ein scheinbar sanfter  und  doch zugleich unerbittlicher  Machtmensch, der  unbedingtes Vertrauen und unbedingten Gehorsam verlangt, der sich mit der Aura des Heiligen und Geheimnisvollen umgibt und gerade dadurch die Massen manipuliert. Eine  politische Interpretation der beiden Protagonisten, die bei der Figur des Volkstribunen Rienzi evident ist und sich aus der Handlung gleichsam von selber ergibt, die indes bei der Figur  des Lohengrin überrascht und sich am Ende doch als nicht minder evident erweist.… → weiterlesen

Huis Clos. Die Mär von den Eingeschlossenen. Christof Loy inszeniert Jenufa an der Deutschen Oper Berlin

Hinter verschlossenen Türen („Huis Clos“) leben sie alle. Eingeschlossen sind sie alle: die Küsterin, die Kindsmörderin, die in der Zelle an ihrem Tisch hockt und  ihre und Jenufas Geschichte sich noch einmal in Erinnerung ruft und diese gleichsam als Spielleiter für uns Zuschauer in Szene setzt und sich dabei selber als eingeschlossenen in die Konventionen des Dorfes vorführen muss. Konventionen, die sie dazu zwingen, wenn sie  für ihre Stieftochter einen Ehemann finden will, deren uneheliches Kind beiseite zu schaffen. Eingeschlossenen in ihre Träume und Triebe ist die junge Dorfschönheit Jenufa, die da von der großen Liebe träumt und mit einem gewalttätigen verschmähten Liebhaber, der angeblich zum sanften Ehemann mutiert ist, in der Ehehölle enden wird, die sich im Finale als großer schwarzer Raum vor ihr auftut. Eingeschlossen in sein Machogehabe ist Jenufas primäres Objekt der Begierde. Unmöglich ist es ihm, aus der Rolle des Machos heraus zu treten und die ihm von Jenufa aufgedrängte Rolle des Ehemanns anzunehmen.  Eingeschlossen in ihre Gebräuche sind die böhmische Trachten tragenden Dörfler. Das Eingeschlossen-Sein und das sich gegenseitige Quälen  ist die Grundkonzeption der Inszenierung, eine Konzeption, die Loy  – offensichtlich frei nach Sartres Huis Clos  – zur Metapher der ‚Existenz‘ erhebt.… → weiterlesen

Belcanto Kulinarik in Luxusausführung und der Rest ist Schweigen: Gioacchino Rossini, Tancredi an der Deutschen Oper Berlin

Es war beinahe alles so wie vor ein paar Wochen bei Donizettis Linda in Barcelona: höchst brillante Sänger – eine Inszenierung aus dem Opernmuseum. Der einzige, allerdings entscheidende Unterschied zum Teatre del Liceu: in Berlin  wird nicht müd und matt musiziert. Hier wetteifert das Orchester der Deutschen Oper unter der Leitung von Alberto Zedda, dem Rossini Spezialisten schlechthin, in Brillanz  und Perfektion mit den Sängern. Einen so schwungvollen Rossini, bei dem zugleich  alle Orchesterstimmen solistisch  erklingen, habe ich schon lange nicht mehr gehört. Und wenn auf der Bühne Patrizia Ciofi als unglückliche Amenaide und Hadar Halévy als nicht minder unglücklicher Tancredi in den Rossini Koloraturen  brillieren, dann wird in der Tat  Belcanto vom Allerfeinsten  geboten.… → weiterlesen

Von scheinbar großen und scheinbar kleinen Musiktheatern. Anmerkungen zum Berliner Samson und zum Lübecker Ring

Von scheinbar großen und scheinbar kleinen Musiktheatern. Anmerkungen zum Berliner Samson und zum Lübecker Ring

Manchmal frage ich mich, ob nicht die Musiktheater in der ‚Provinz’ die eigentlichen großen Bühnen sind und ob man sich den Besuch der renommierten Staatstheater nicht besser ersparen sollte. Eine Erfahrung, die wir zuletzt beim Lübecker Ring machen mussten. Ein paar Tage zuvor hatten wir eine reichlich dürftige Samson et Dalila Inszenierung an der Deutschen Oper in Berlin gesehen. Das Haus hatte zwar die üblichen Sängerstars und einen bekannten Ausstatter, der in Personalunion gleich auch noch die Regie übernommen hatte, engagiert. Doch eine halbwegs interessante Aufführung kam nicht zustande. Zwar sang die berühmte bulgarische Mezzosopranistin  von der Zürcher Oper durchaus brillant (dass sie nicht schauspielern kann und  vor allem bei den Femme fatale Rollen ziemlich hilflos wirkt, das müssen wohl inzwischen auch ihre Fans zugeben), und der berühmte Bayreuth Sänger sang auch einen beachtlichen Samson, und ein paar hübsche Bühnenbilder waren auch zu sehen. Die Regiekonzeption, wenn es denn eine gab, war, um es vorsichtig zu sagen, heterogen und versuchte das Geschehen in der Zeit des deutsch-französischen Krieges von 1870 (also mehr oder weniger in der Entstehungszeit der Oper) zu verorten. Ein hübscher, wenn auch antiquierter Ansatz, der nur ein obsoletes Opernspektakel entstehen ließ, das mit der beklemmenden Aktualität, die zum Beispiel die Nürnberger Samson und Dalila Inszenierung auszeichnet, nicht im geringsten mithalten kann. Ein weiteres Beispiel dafür, wie ein Musiktheater in einer mittelgroßen Stadt die hauptstädtischen Bühnen klein aussehen lässt. Doch wir wollen nicht von der Berliner Musiktheater Szene sprechen (zum Berliner Ring im Schillertheater finden sich bereits zwei Artikel in unserem Blog), sondern vom großartigen Lübecker Ring. Beim Lübecker Ring im kleinen Jugendstil Theater, da stimmt nahezu alles. Vom rauschhaften Wagner Klang, den Maestro Brogli-Sacher  mit dem „Philharmonischen Orchester der Hansestadt Lübeck“ produziert, über die mit nur ganz wenigen Ausnahmen brillanten Sängerschauspieler bis hin zu einer geistreichen und literarisch beschlagenen Regie, die mit Thomas Mann Figuren spielt und diese ironisch verfremdet – mit  einem Blinzeln hin zum Publikum, das zur Mitwirkung im literarischen Spiel eingeladen ist, das die Übermalungen der Wagner Figuren erkennen  und  Wagner gleichsam als Thomas Mann Leser sehen soll. Eine anachronistische Lesart, die neues Bedeutungspotential erschließt. Da wird aus dem Walküre Wotan ein gebrochener Thomas Buddenbrook, ein Wotan, den wie sein Bruder im Geiste das Ende nicht mehr schreckt, seit er es selber will. Gunther präsentiert sich bei seinem ersten Auftritt als schwuler Clown Christian Buddenbrook, und die zickige Gutrune verweist auf die naiv durchtriebene Tony. Natürlich fehlen nicht die Wälsungenblut Geschwister, denen allerdings von Glanz und Dekadenz und Reichtum nichts mehr geblieben ist: der geliebte Bruder kehrt als Borcherts Kriegsheimkehrer Beckmann zurück, und Sieglinde ist zur verhuschten kleinen Hausfrau geworden und das Spottobjekt der Geschwister, der Sieglinde zugedachte Ehemann, ist  in seiner Rolle als Hunding zur Shylock  Karikatur mutiert. Im Siegfried sind wir dann wieder ganz bei Thomas Mann: in der Zauberberg Klinik, dem ausschließlichen Ort der Handlung. Mime, der „weise Zwerg“ hat es zum  Chefarzt gebracht, Alberich zum debilen Militär, der im Rollstuhl von der Weltherrschaft träumt, Fasolt ist ein übergewichtiger, misslauniger alter Mann, der in einem riesigen Bett in einem Extrazimmer thront. Wotan ist ein in die Jahre gekommener Rocker, der wohl der heimliche Boss der Klinik ist und dem  die aufreizende Oberschwester (bei Wagner das Waldvöglein) zu Diensten ist. Siegfried ist so eine Art Hausfaktotum, das durch die Klinikräume stürmt, ein kräftiger Zauberberg Bediensteter, der mit seinem Ungestüm allerlei Unheil anrichtet – sanft geleitet von der Oberschwester.  Brünnhilde schläft im Turmzimmer der Klinik und träumt wohl von der inzestuösen Liebe zu Vater Wotan: kaum hat das Enfant terrible Siegfried  sie‚erweckt’, da steckt sie diesen gleich in Papas Generalsmantel und setzt ihm dessen Mütze auf, dem armen Siegfried, der gelangweilt herumsteht und endlich zur ’Sache kommen’ will. Das berühmte Finale: eine ironisch verzerrte Liebesszene – vielleicht eine Parodie auf den ‚Höhepunkt’ im Wälsungenblut. Natürlich gelingen die Verweise nicht immer oder sind für literarisch Unbedarfte nicht zu erkennen. „Allein, was tut’s“. Der Lübecker Ring ist ein Kabinettsstück der literarischen Verweise, geistreich, unterhaltsam,  ironisch gebrochen und berauschend alle Male. Wagner liest Thomas Mann und Borchert und… – Wir sahen das Rheingold am 20. Mai. Die Walküre am 22. Mai. Siegfried am 27. und Götterdämmerung  am 29. Mai.

 

 

Arabella unter Zuhältern im Parkhaus. Eine erbärmliche Strauss Inszenierung an der Deutschen Oper Berlin

Unsere Theatermacher von der Bismarckstrasse – so erfährt man im Programmheft – haben in der Süddeutschen Zeitung gelesen, dass die einstige Autostadt Detroit immer mehr herunterkommt, immer mehr verarmt und dass sogar ein ehemals hoch eleganter Filmpalast so verfallen sei, dass er nunmehr als Parkhaus genützt werde. Das, so mögen unsere Theatermacher gedacht haben, kriegen wir demnächst in Berlin auch. Und da wir Künstler per definitionem natürlich unserer Zeit voraus sind, spielen wir den Leuten ihre Zukunft auf der Bühne schon mal vor – mit einem Stück aus der Vergangenheit, mit einer „lyrischen Komödie“ von Hofmannsthal. Und statt in einem billigen Hotel im Wien des  späten 19. Jahrhunderts lassen wir die Komödie (warum sagen wir nicht gleich: die Operette) von der verarmten kühlen Schönen und ihrem Märchenprinz, von dem androgynen Mädchen und dem verzweifelten Liebhaber in einem vom Abriss bedrohten Parkhaus spielen, das früher wohl mal – so signalisieren wir es mit ein paar Stuckrequisiten – ein Kino war. Ja, warum nicht. Wenn man das Thema „Verfall“, um das es unter anderem auch in der Arabella gehen soll, einfältig nimmt, dann geht’s halt auch so. Aber, so sinniert die frustrierte Opernbesucherin, eigentlich müssten doch unsere Theater- und Musikmacher wissen, dass im ästhetischen Bereich Verfall (vulgo: Dekadenz) nicht mit Abrissbirne gleich zu setzen ist, dass  Dekadenz vielmehr ein positiv besetzter Begriff, ein Sonderfall manieristischer Kunst ist, für höchste Verfeinerung, für morbide Schönheit und wenn man es denn gerne etwas konkreter haben möchte, auch für den „Verfall einer Familie“ steht. Ja, wenn man dies alles nicht wissen will, wenn man die sanfte Ironie, mit der Hofmannsthal die Dekadenzmode zitiert, wenn man die ironisch gebrochenen Selbstzitate des späten Strauss nicht hören will, ja dann landet man konsequenterweise bei der Abrissbirne, bei den Machos, die so eine Mischung aus Gebrauchtwagenhändlern, Zuhältern und Mantafahrern geben, bei einem Mandryka, der als neureicher Prolet daher kommt, bei einer Arabella, die in ihrem Pelzmantel die Edelnutte mimen muss. So haben wir denn in Berlin eine Inszenierung gegen den Strich, eine Inszenierung gegen die Musik und gegen die Literatur gesehen. „Die schöne Musik! […] Da muß ma weinen“ (Hofmannsthal). Wir sahen die Vorstellung am 12. Juni 2010, die „11. Aufführung seit der Premiere am 12. Februar 2006“.