Bombenstimmung in Basel. Calixto Bieito zertrümmert Così fan tutte und erfindet den dritten Akt

Ja, das wollten wir schon immer wissen. Was machen die (scheinbar?) versöhnten Paare eigentlich – danach?  Machen sie weiter mit ihrem Projekt „Gespielte Liebe“? Werden sie biedere Ehepaare? Fragen, für die einst Ponnelle, der so viele Male Così fan tutte in Szene gesetzt hatte, nur Hohn und Spott übrig hatte: Fiordiligi bleibt an der Seite Guglielmos frigide. Er wird sie dauernd betrügen. Ferrando wird impotent. Dorrabella bleibt flatterhaft. „Also ein Desaster. Und darüber freut sich Don Alfonso“.

Fragen, die dreißig Jahre nach Ponnelle Theatermacher Bieito ernsthaft beunruhigen. So schafft er denn in Basel Lorenzo Da Ponte einfach ab, lässt Mozart die Highlights (gruppiert sie allerdings neu), streicht radikal alle Rezitative, ersetzt sie durch Lyrik von Houellebecq, triste Liebeslyrik, und erfindet – so der Untertitel der Basler Così fan tutte Variante – „Eine Geschichte über Liebe, Enttäuschung und Wunschträume“.… → weiterlesen

Ariodante für Kunsthistoriker und Videokünstler am Theater Basel – und das Publikum darf auch mal mitsingen

Man verstehe uns nicht falsch. In Basel ist ein außergewöhnlicher Ariodante zu sehen und zu hören. In Basel wird unter der Leitung von Andrea Marcon brillant musiziert und gesungen – allen voran Franziska Gottwald in der Rolle des Protagonisten und Maya Boog als unglückliche Prinzessin Ginevra. Und doch steht trotz aller Brillanz, aller Perfektion, trotz aller Bewunderung und Begeisterung, die zu Recht Solisten, Dirigent und Orchester erfahren, nicht der musikalische Part, nicht Händels Musik im Zentrum des  Abends. Im Mittelpunkt stehen Bühnenbild, Video- und Lichtregie. Oder etwas weniger pointiert ausgedrückt: die Fülle  der Bildzitate aus der Malerei der Renaissance ( van Eyck, van Dyck,  Lucas Cranach, Dürer und manche andere), die Traum- und Albtraumszenen,  die Verdoppelung der Personen, die die Videotechnik herbeizaubert, all dies ist höchst kunstvoll und virtuos arrangiert, fasziniert das Publikum – und lenkt es von Musik, Gesang und Bühnengeschehen ab, von einem Bühnengeschehen indes, das es kaum gibt.

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Alles ist Theater. Jan Bosse und Andrea Marcon machen in Basel aus der Calisto einen grandiosen Theaterabend

Fort mit der traditionellen Guckkastenbühne, fort mit dem Orchestergraben. Schluss mit der Trennung von Zuschauern und Akteuren. In Basel sitzen die Zuschauer auf der Bühne und im Parkett, und Spielfläche sind der zugedeckte Orchestergraben und – das ganze Haus. Die Sänger sitzen durchweg im Publikum, treten von dorther auf, singen und spielen, wo und wie es sich gerade ergib. Hauptspielfläche bleibt indes der zugedeckte Orchestergraben. Das Orchester ist zweigeteilt, sitzt zu beiden Seiten des Grabens. Einziges Requisit ist das Wasser, das als gewaltige Dusche oder als Regenvorhang auf die Sänger herabstürzt bzw. herabregnet, wann immer sie  sie von der Liebe singen – und das tun sie eigentlich ständig. Ach ja, die erotischen Konnotationen der Wassersymbolik, die kennen wir noch aus dem ersten Semester. Heißt es nicht irgendwo bei Novalis: „Das Wasser, dieses ewige Element luftiger (oder meinte er lustiger?) Verschmelzung“. Und natürlich: „Und der Geist Gottes schwebte über den Wassern“ (in unserem Kontext muss es wohl heißen: und Jupiter lässt es regnen – in ambivalenter Hinsicht). Und wer das alles  nicht versteht, für den hat die Regie einen stummen Amor dazu erfunden, der als Spielleiter immer dabei ist, auf dass auch der Einfältigste im Publikum kapiere, um was es in Calisto geht. Und im Finale, da darf das Publikum sogar mitspielen: mit Lämpchen, die in der Pause verteilt werden und natürlich nach der Vorstellung wieder eingesammelt werden, darf es die Sterne markieren, unter die Calisto, die Bärin, versetzt wird.

Ach, welch schöner Theaterabend. Großes Spaßtheater für alle, ein heiter gestimmtes Publikum, das nie weiß, ob der Sitznachbar vielleicht gleich aufspringt und mitspielt oder nur so tut. Brillante Sängerschauspieler, ein hoch motiviertes Orchester. Che divertimento an einem heißen Sommerabend. Und den tollsten (?) Gag hätte ich beinahe vergessen: die Zuschauer sitzen wie einstens die Gläubigen in der Kirche nach Geschlechtern getrennt: die Damen im Parkett, die Herren auf der Bühne, auf dass sie von ihren Ehegespons, ihren Mätressen und Liebhabern getrennt, doch endlich einmal sehen, wie es die Männer mit den Weibern und die Weiber mit den Männern treiben? Oder sollen wir noch einmal erfahren, dass es Passionen nur in der Scheinwelt des Theaters gibt? Viel Lärm um nichts? Wie dem auch sei. Die Basler Theatermacher haben uns glänzend unterhalten. Wir sahen die Vorstellung am 5. Juni 2010. Die Premiere war am 21. Mai des gleichen Jahres.

Liebesreigen im Penthouse. Im Theater Basel transponiert Elmar Goerden Le Nozze di Figaro in die amerikanische High Society

Da haben sie nun die Perücken und die Rokokokostüme abgelegt und tragen die modische Kleidung von heute, da haben sie  Spanien, das Schloss und den Garten mit seinen Pinien verlassen und residieren und wohnen alle zusammen im Penthouse mit einer Gartenterrasse voller Kakteen, mit dem Blick auf die Lichter einer Metropole: der Conte einer eleganter junger Mann, dem wohl ein großes Vermögen zugefallen ist, die Contessa eine etwas schnippische, blonde Dame mit einem Hang zu teuren Roben, Figaro eine Mischung aus Hausmeister und Hausfreund, Cherubino auch so eine Art Hausfreund, Bartolo ein  gut situierter Rentner, Marcellina eine bösartige Zicke, Basilio ein Chauffeur in Lederjacke und Jeans, Barbarina die farbige Hausangestellte im gestreiften Kittel. Und Susanna? Susanna ist wie immer: eine attraktive junge Frau, die scheinbar getrieben doch die Herrin des Spiels ist. Mögen sie auch die Kostüme gewechselt haben, mögen sich auch die Zeiten geändert haben, Erotomanen sind  doch allesamt geblieben, Liebessüchtige, die nicht voneinander lassen, die mit der Liebe oder genauer: mit den Liebesdiskursen ihr Spiel treiben. Und wer die meisten Diskurse beherrscht und mit diesen am besten zu spielen weiß, der steht am Ende eines „ tollen Tags“ als Sieger da. Und Sieger ist zweifellos Susanna: Le nozze di Susanna ist der eigentliche Titel des Stücks, der eigentliche Titel des Spiels mit der Liebe. Und so wird es auch im Theater Basel begriffen und in Szene gesetzt. All der obsolete Theaterplunder des 18. Jahrhunderts, die scheinbar zwanghaften Verweise auf die bevorstehende große Revolution, ohne die so manch mittlerer Theatermacher nicht auszukommen glaubt, all dies wird einfach weggelassen, eben zu Gunsten des heiteren Spiels mit der Liebe, eines Spiels, dem es  an parodistischen Zitaten nicht mangelt und deren Bedeutung sich auch dem simpelsten Zuschauer leicht erschließt: die Dachterrasse ein Wald, ein ‚Lustgarten’ voll Kakteen, an denen sich die Akteure immer wieder schmerzlich stoßen, der düpierte Conte, der gleichsam in einem kollektiven (Geschlechts)akt an die Wand gedrückt wird, Cherubino, der einen ganzen Koffer voller Papillons dabei hat: papierne Liebespfeile, die zur Polonaise auf das verängstige Grafenpaar fliegen, ein Tanz der Liebespfeile anstatt der oft so unseligen Tänze, die in manchen Aufführungen die Chorsänger veranstalten müssen. Im Finale schießt Cherubino die übrig gebliebenen Pfeile ins Publikum. Und wer jetzt immer noch nicht verstanden hat, um was es in Le Nozze di Figaro geht, ja dem ist nicht zu helfen. Anders ausgedrückt: gut gemeinte Überdetermination muss nicht unbedingt sein. Es versteht sich von selber, dass eine  Konzeption, die ganz im Sinne Mozarts und Da Ponte auf den Reigen der Liebesdiskurse als Grundstruktur setzt, nur dann aufgehen kann, wenn wie jetzt hier in Basel herausragende junge Sängerschauspieler, die mit ihrer Spielfreude und ihrem Witz, ihrer Leichtigkeit und ihrem Charme und selbstverständlich mit ihrer sängerischen Brillanz brillieren, auf der Bühne stehen. Mag auch der Basler Figaro in seiner Konzeption an Bechtolfs Zürcher Figaro erinnern. Gelungen ist er alle Male. Wir sahen die Aufführung am 10. Mai 2010. Die Premiere war am 25. März dieses Jahres.

Was Dich langweilig macht, ist, dass Du nicht enden kannst. Christoph Marthaler und Offenbachs La Grande-Duchesse de Gérolstein im Theater Basel

Eine Kultinszenierung, so raunen die Feuilletons, ist in Basel zu besichtigen. Basels Alt68er sind allesamt im Publikum, Basels Schauspieler sind da, ein renommierter Opernregisseur ist extra aus Zürich angereist, das Haus ist – anders als bei Wagner – ausverkauft. Die Presse jubelt. Der kauzige  Herr Marthaler hat halt seine Fangemeinde, die in dem Schwyzer  wohl so eine Art Wiedergänger des seligen Dürenmatt sieht. Und wir im Publikum werden – im ersten Akt – auch nicht enttäuscht. Unser Theatermann hat eine ganze Menge Gags aus seiner Kiste geholt. Die ersten zehn Minuten spielen wir sozusagen zur Einstimmung auf der Doppelstockbühne – unten zwei Boutiquen, oben so eine Art Hotellobby, die sich über zwei Etagen erstreckt – da spielen wir erstmal ein bisschen Pantomime. So lernt das Publikum die Mitspieler halt schneller kennen: eine tollpatschige Kellnerin, die ständig den Prosecco verschüttet, einen senilen General nebst mannstoller Gefährtin, allerlei Herren im Frack, den Chor des Basler Theaters, der sich dieses Mal als Ballbesucher aus dem 19. Jahrhundert verkleidet hat. Dank des senilen Generals, der ständig einschläft, wissen wir Zuschauer inzwischen, dass heute Abend wohl eine Militärklamotte gegeben wird. Kein Zweifel ist mehr möglich, als das Orchester im Military Look einmarschiert, und der Dirigent sich als schneidiger Operettenoffizier der eidgenössischen Armee präsentiert. Das ist alles unglaublich lustig, und mein Sitznachbar – Typus arbeitsloser Schauspiel mit zahlender Gefährtin – konnte sich auch den ganzen Abend über vor lauter Husten, Lachen und sich auf die Schenkel Klopfen nicht mehr beruhigen. Zur Inszenierung gehörte indes nicht, zumindest teilte dies der beflissene Abendspielleiter dem Publikum mit, dass die Hauptdarstellerin an Magen- und Darmverstimmungen litte und ihre ganze Familie noch dazu (so genau wollten wir das eigentlich nicht wissen). Ich habe da meine Zweifel, ob die Geschichte vom grotesken Leib der Großherzogin nicht doch schon der einleitende Inszenierungsgag war. Wie dem auch sei. In jedem Fall ließ die Inszenierung in der ersten Stunde keinen Gag aus und bereitete doch das Publikum so langsam auf die Marthalsche existentielle Langeweile vor, das bekannte Markenzeichen des berühmten Theaterdirektors. Als die Gefährtin des Generals, der übrigens als Einlage bei jedem lauten Akkord „Der Feind“ winselte, zum ich weiß nicht wievielten Male Turnübungen (vermutlich Sexübungen) mit dessen Adjutanten  veranstaltet hatte, dieser der Kellnerin zum sechsten Male das Schürzchen aufgemacht, dem Rekruten Fritz, den die Großherzogin zum General befördert hatte, zum vierten Male das Käppi aufgesetzt worden war, das Orchester den Rückzug angetreten hatte, ein Pianist in der linken oberen Bühnenecke ein Pianoforte mit Wagner, Händel und Bach zu malträtieren begann, da schwante mir Schlimmes. Die Lust, so dozierte da mit erhobenem Zeigefinger Theatermacher Marthaler, die Lust, liebe Brüder und Schwestern im Herrn, die Lust, und sei es sie auch nur der Versuch einer Offenbachiade, ist für uns Puritaner Sünde. Und Rettung bringen allein die Musiker aus Sachsen. Aber auch an die glauben wir nicht mehr so richtig. Uns Spätgeborenen bleibt nur die schwachbrüstige Parodie. Und die zelebrieren wir jetzt und wenn es denn sein muss eine ganze Stunde lang. Und damit Ihr Ignoranten im Publikum – Euch konnte ich schon in meiner Zürcher Zeit nicht ausstehen –  nicht einschlaft, gebe ich Euch noch was zum Gucken. Zu unserem Bach und Händel Gesäusel wird Euch eine unserer Damen ein paar Turnübungen am Treppengeländer vormachen. – Welch schöner Marthaler Abend im Basler Opernhaus. Die Intellektuellen wissen noch von Kracauer, dass Offenbach die französische Gesellschaft des zweiten Kaiserreichs parodiert hat, und sie freuen sich daran, wie ihnen Marthaler die Parodie der Parodie serviert. Die eher Unbedarften, die haben halt ihren Spaß an den Gags aus der Klamottenkiste, und sie verstehen nicht so recht, warum sie diesen Bach, den sie zu Weihnachten doch schon in der Kirche gehört haben, jetzt auch noch in der Operette hören sollen – und dann auch noch dazu so leise und grottenschlecht. Seid außer Sorg. Im Wirtshaus gegenüber hat gerade die alemannische Fastnacht begonnen. Auch die gehört zur Inszenierung? Vielleicht. Ach, wie schön ist doch die Operettenseligkeit bei  Pastor Marthaler. Wir sahen die Aufführung am 16. Januar 2010. Die Premiere war am 20. Dezember 2009.

2. 02. 09. Und Senta liest Balladen und literarisiert das Leben – oder Emma Bovary und der farbige Piraten Kapitän aus der Karibik. Der Fliegende Holländer im Theater Basel

Welch eine Überraschung. Philipp Stölzl und sein Produktionsteam, die noch vor knapp zwei Jahren in Salzburg Benvenuto Cellini auf eine gigantische Videoclip-Show reduzierten und eine technische Materialschlacht veranstalteten, als wollten sie sich für die Bregenzer Seebühne qualifizieren, sind zu Romantikern geworden, haben romantische Literatur und Malerei für sich entdeckt und nutzen beide als Referenzen  für eine zugleich subtile, spannende und unterhaltsame Holländer  Inszenierung. Unnötig  zu sagen, dass es bei einer Inszenierung, die mit Materialien der Romantik arbeitet, Caspar David Friedrich Zitate in Fülle gibt. Interessanter indes als die zu erwartenden Bildzitate aus romantischer Malerei sind die literarischen Referenzen. Ausgangspunkt ist das berühmte Motiv vom Lektüreschaden, das einstens Flaubert in seiner Madame Bovary für seine Abrechnung  mit einer heruntergekommenen, verbrauchten romantischen Literatur nutzte. Im Basler Holländer, wo man Wagners Untertitel „romantische Oper“ im Wortverstande nimmt, wird die Romantik nicht entzaubert. Ganz im Gegenteil. Sie wird als eine der Welt der Imaginationen, der Bücher und der Bilder, ernst genommen und als „Krankheit zum Tode“ gedeutet.

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