Eine Kultinszenierung, so raunen die Feuilletons, ist in Basel zu besichtigen. Basels Alt68er sind allesamt im Publikum, Basels Schauspieler sind da, ein renommierter Opernregisseur ist extra aus Zürich angereist, das Haus ist – anders als bei Wagner – ausverkauft. Die Presse jubelt. Der kauzige Herr Marthaler hat halt seine Fangemeinde, die in dem Schwyzer wohl so eine Art Wiedergänger des seligen Dürenmatt sieht. Und wir im Publikum werden – im ersten Akt – auch nicht enttäuscht. Unser Theatermann hat eine ganze Menge Gags aus seiner Kiste geholt. Die ersten zehn Minuten spielen wir sozusagen zur Einstimmung auf der Doppelstockbühne – unten zwei Boutiquen, oben so eine Art Hotellobby, die sich über zwei Etagen erstreckt – da spielen wir erstmal ein bisschen Pantomime. So lernt das Publikum die Mitspieler halt schneller kennen: eine tollpatschige Kellnerin, die ständig den Prosecco verschüttet, einen senilen General nebst mannstoller Gefährtin, allerlei Herren im Frack, den Chor des Basler Theaters, der sich dieses Mal als Ballbesucher aus dem 19. Jahrhundert verkleidet hat. Dank des senilen Generals, der ständig einschläft, wissen wir Zuschauer inzwischen, dass heute Abend wohl eine Militärklamotte gegeben wird. Kein Zweifel ist mehr möglich, als das Orchester im Military Look einmarschiert, und der Dirigent sich als schneidiger Operettenoffizier der eidgenössischen Armee präsentiert. Das ist alles unglaublich lustig, und mein Sitznachbar – Typus arbeitsloser Schauspiel mit zahlender Gefährtin – konnte sich auch den ganzen Abend über vor lauter Husten, Lachen und sich auf die Schenkel Klopfen nicht mehr beruhigen. Zur Inszenierung gehörte indes nicht, zumindest teilte dies der beflissene Abendspielleiter dem Publikum mit, dass die Hauptdarstellerin an Magen- und Darmverstimmungen litte und ihre ganze Familie noch dazu (so genau wollten wir das eigentlich nicht wissen). Ich habe da meine Zweifel, ob die Geschichte vom grotesken Leib der Großherzogin nicht doch schon der einleitende Inszenierungsgag war. Wie dem auch sei. In jedem Fall ließ die Inszenierung in der ersten Stunde keinen Gag aus und bereitete doch das Publikum so langsam auf die Marthalsche existentielle Langeweile vor, das bekannte Markenzeichen des berühmten Theaterdirektors. Als die Gefährtin des Generals, der übrigens als Einlage bei jedem lauten Akkord „Der Feind“ winselte, zum ich weiß nicht wievielten Male Turnübungen (vermutlich Sexübungen) mit dessen Adjutanten veranstaltet hatte, dieser der Kellnerin zum sechsten Male das Schürzchen aufgemacht, dem Rekruten Fritz, den die Großherzogin zum General befördert hatte, zum vierten Male das Käppi aufgesetzt worden war, das Orchester den Rückzug angetreten hatte, ein Pianist in der linken oberen Bühnenecke ein Pianoforte mit Wagner, Händel und Bach zu malträtieren begann, da schwante mir Schlimmes. Die Lust, so dozierte da mit erhobenem Zeigefinger Theatermacher Marthaler, die Lust, liebe Brüder und Schwestern im Herrn, die Lust, und sei es sie auch nur der Versuch einer Offenbachiade, ist für uns Puritaner Sünde. Und Rettung bringen allein die Musiker aus Sachsen. Aber auch an die glauben wir nicht mehr so richtig. Uns Spätgeborenen bleibt nur die schwachbrüstige Parodie. Und die zelebrieren wir jetzt und wenn es denn sein muss eine ganze Stunde lang. Und damit Ihr Ignoranten im Publikum – Euch konnte ich schon in meiner Zürcher Zeit nicht ausstehen – nicht einschlaft, gebe ich Euch noch was zum Gucken. Zu unserem Bach und Händel Gesäusel wird Euch eine unserer Damen ein paar Turnübungen am Treppengeländer vormachen. – Welch schöner Marthaler Abend im Basler Opernhaus. Die Intellektuellen wissen noch von Kracauer, dass Offenbach die französische Gesellschaft des zweiten Kaiserreichs parodiert hat, und sie freuen sich daran, wie ihnen Marthaler die Parodie der Parodie serviert. Die eher Unbedarften, die haben halt ihren Spaß an den Gags aus der Klamottenkiste, und sie verstehen nicht so recht, warum sie diesen Bach, den sie zu Weihnachten doch schon in der Kirche gehört haben, jetzt auch noch in der Operette hören sollen – und dann auch noch dazu so leise und grottenschlecht. Seid außer Sorg. Im Wirtshaus gegenüber hat gerade die alemannische Fastnacht begonnen. Auch die gehört zur Inszenierung? Vielleicht. Ach, wie schön ist doch die Operettenseligkeit bei Pastor Marthaler. Wir sahen die Aufführung am 16. Januar 2010. Die Premiere war am 20. Dezember 2009.