Zerlina von Faninal?

Wer ist das? – Ein Pseudonym, ein leicht zu entschlüsselndes Pseudonym.  Zerlina von Faninal ist eine erfundene Opernfigur. Eine Verbindung zweier Opernfiguren, eine Kontamination aus der Sophie von Faninal aus dem Rosenkavalier und der Zerlina aus dem Don Giovanni. Zwei scheinbar gänzlich naive, scheinbar leicht verführbare, doch zugleich ziemlich durchtriebene und vor allem zielbewusste junge Damen, die sich nur scheinbar etwas vormachen lassen und die die Spielchen, die selbstbewusste Herren  oder einfacher gesagt: dünkelhafte Machos mit ihnen zu treiben gedenken, zwar nicht gleich, aber dann doch umso klarer und bestimmter durchschauen.

Wenn unsere Zerlina von Faninal ins Musiktheater geht – und das tut sie viele, viele Mal im Jahr, dann sucht sie sich ähnlich wie ihre illustren Schwestern Naivität und  Neugierde und doch zugleich den kritischen Blick auf  das, was ihr da vorgemacht hat, zu bewahren. Ähnlich wie das Fräulein von Faninal und die ‚Magd Zerlina’ lässt sie sich gern verführen und verzaubern: von der ‚musica celeste’ und dem Belcanto, von der ‚Wagner Droge’, und der Glitzermusik der Dekadenten. Doch all die  Musik und all der Theaterzauber, all die fiktiven Passionen und Figuren, die die Welt des Theaters kreiert, all der Tand und all die sublim-schönen und all die grotesk-hässlichen Welten, die ihr im Musiktheater vorgegaukelt werden, halten Zerlina von Faninal nicht davon ab, einen kühlen Kopf zu bewahren und sich zu fragen: „Was habt Ihr Theatermacher eigentlich für Konzeptionen und wie verwirklicht Ihr die in Eurer Inszenierung“. „Gefällt mir oder missfällt mir das, was sich da auf der Bühne und im Orchestergraben tut?“

Zerlina von Faninal ist keine Kritikerin und keine Theaterwissenschaftlerin,  keine Musikerin und keine Dramaturgin. Sie  hat beruflich überhaupt nichts mit dem Musiktheater zu tun. Sie ist – im Wortverstande – eine Dilettantin, das heißt:  sie liebt das Theater. Sie könnte jeden Abend ins Theater – ins Musiktheater gehen. Sie kann sich maßlos begeistern, sie kann sich maßlos ärgern. Sie ist niemandem verpflichtet, keinem Intendanten und keiner Feuilletonredaktion. Sie profitiert nicht von „Steuerkarten“ oder Freibillets. Sie sitzt nicht auf Kritikerplätzen. Sie bezahlt wie viele andere im Publikum ihre Eintrittskarte selber.

„Ich bin ganz einfach das interessierte, das engagierte Publikum, das von so vielen Theaterleuten gern belächelte, gern für dumm und spießig gehaltene, mitunter verachtete Publikum. Dieses Publikum sieht selten die Scheinwelt der festlichen Premieren. Es sieht – anders als die professionellen Kritiker – die Repertoireaufführungen, den Alltag der Theater. Von diesen manchmal sehr dürftigen und manchmal sehr brillanten Alltagsvorstellungen in  Staats- und Provinztheatern und Festspielhäusern berichten diese Blätter. Und ohne dass es eigentlich beabsichtigt war, fügen sie sich zu einem Opernführer ganz anderer, ganz neuer Art: zu einem Opernführer, der nicht  Bühnenfiguren vorstellt, der nicht  ein weiteres Mal über die Vorgaben des Komponisten informiert, sondern der aus der Sicht des Publikums davon erzählt, wie heute in den unterschiedlichsten Musiktheatern  aus den unterschiedlichsten Sichtweisen das Spektakel Oper in Szene gesetzt wird – zur gefühlsseligen Begeisterung und zum intellektuellen Vergnügen, zum Ärger und zum Entsetzen der  Theaterbesucher.

In seinem Roman „Verlorene Illusionen“ erzählt Balzac einmal davon, wie  in seiner Zeit eine damals ganz neue Form der Kritik Furore gemacht habe: eine Kritik, die primär von den eigenen Impressionen ausging, die die eigene Empfindung, die eigene Sichtweise, das eigene gänzlich subjektive Urteil zum Maßstab der Kritik erhob. Die Romanfigur Balzacs, den  Kritiker Lucien aus „Les Illusions Perdues“, dieses Balzacsche „imaginäre Feuilleton“ (Adorno), nehme ich mir zum Vorbild wenn ich mir aufschreibe, was ich bei  Festspielen in Salzburg oder Bayreuth erlebe, welche Glanzstücke und Flops ich in der Bayerischen Staatsoper, im Opernhaus Zürich, in der Pariser Opéra Bastille, im Théâtre de la Monnaie in Brüssel, im Liceu in Barcelona und in anderen nicht minder renommierten Häusern sehe und höre, welch immer wieder hervorragende Inszenierungen die Oper Stuttgart bietet oder welch höchst brillante Aufführungen das Theater an der Wien  präsentiert. Und wie steht es mit den kleineren und mittleren Häusern, den Musiktheatern in Basel oder Freiburg, in Nürnberg oder Köln, in Leipzig oder Halle, in Berlin oder Genf?  In  – um noch einmal einen Balzac-Titel (jetzt in fragmentarischer Form) zu zitieren – in „Glanz und Elend“ sind sie doch nur Miniaturen, vielleicht auch Zerrspiegel, der großen Staatstheater. Zerrspiegel, weil dort überragende Leistungen noch glänzender, Flops noch erbärmlicher erscheinen.