Mystische Erotik – erotische Mystik. Calixto Bieito setzt im Nationaltheater Mannheim Monteverdis Marienvesper in Szene

Die Marienvesper, ein Konglomerat aus Psalmen und Hohem Lied, aus Hymnen und dem berühmten Magnificat aus dem Lukas Evangelium, in Szene zu setzen, geht das überhaupt? Ja, es geht – wenn man von den Interferenzen von mystischem und erotischem Sprechen weiß und diese für die Szene zu nutzen weiß. Und dies gelingt  Calixto Bieito auf brillante und überzeugende Weise.

Vielleicht muss man das einstige katholische Spanien mit seinen religiösen Umzügen, den Pasos, und mit seinem exzessiven Jungfrauen- und Marienkult erlebt und erlitten haben, um die Marienvesper als erotisch-mystisches Spektakel begreifen zu können. Zugleich muss einem die Marienmystik, im konkreten Fall die religiöse Umdeutung des Hohen Lieds, des alttestamentarischen  Dialogs zwischen Braut und Bräutigam, mit ihrer Gleichsetzung der Braut mit der Jungfrau Maria sowie die moderne Re-Erotisierung des Hohen Lieds vertraut sein.

Keine Frage, dass dem spanischen Theatermacher Bieito all dies vertraut ist und dass er  aus diesem Fundus zu schöpfen weiß. Nicht genug damit. Auch die bildnerische Tradition des Marienkults nutzt er für seine Zwecke, wenn er  in Tableaux Vivants Maria als Mater Dolorosa oder – so im Finale – als Maria lactans darstellt.

Theatermacher Bieito fordert sein Publikum erheblich und lässt trotzdem allen, denen die Tradition der Mystik nicht geläufig ist, Raum für eigene Phantasien. So mag, wer es denn möchte, das ganze Spektakel als Hymne an Schwangerschaft und Mutterschaft oder als Feier eines Fruchtbarkeitskults verstehen, ein Fest, in dem gleich ganze Kohorten von verzückt drein blickenden Schwangeren auftreten. Die nicht minder verzückt gen Himmel blickenden oder sich auf dem Boden wälzenden Männer mag er für irre Fundamentalisten halten, wenn er in deren Verhalten nicht Auswüchse mystischer Ektasen  erkennen kann. In dem jungen Mädchen Maria, das zur Ehre der Altäre erhoben wird,  mag man auch die Göttin Venus sehen. Eine Interpretation, die ganz in der Tradition der Überlagerung christlicher und heidnischen Mythen stünde.

Der wohlwollende Zuschauer könnte auch in dem Jesuitenpater, der ständig mit einer Schar kleiner Mädchen herumrennt und an diese Lutscher verteilt, den ‚guten Hirten‘ sehen. Irritierend bei dieser Deutung wäre nur, dass der Pater auf dem Rücken schwarze Flügel trägt. Der ‚gute Hirte‘ wäre dann wohl zum gefallenen  Engel Luzifer oder  neudeutsch zum  pädophilen Priester mutiert.  Und die Maria lactans mit ihrem entblößten Busen, vor der ein spanisch gekleideter Heiliger kniet (der heilige Ignatius?) , könnte dem Heiligen, wie es die pikturale Tradition will, Weisheit ‚spenden‘ oder als Venus auch etwas anderes.

Ganz konsequent im Sinne der Interferenz von Mystik und Erotik bietet die Inszenierung immer wieder beide Deutungsmöglichkeiten an. So mag der eine Zuschauer sich am religiösen Spektakel erbauen, der andere sich am erotischen Spektakel erfreuen und der dritte die Interferenzen goutieren.

Tut ein solch ambivalentes Spektakel der Musik Monteverdis wirklich gut? Zeichnet die Musik sich auch durch Ambivalenz aus, durch ein Schwingen zwischen zwei scheinbar entgegen gesetzten Polen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur,  dass das Orchester Il Gusto Barocco unter der Leitung von Jörg Halubek einen exzellenten Monteverdi zelebriert hat und  dass man den Vespro della Beata Vergine gerne wieder hören möchte – ohne ablenkendes Szenarium.

Wir besuchten die Aufführung am 11. Januar 2019, die 4. Vorstellung seit der Premiere am 15. Dezember 2018.

 

Ambitiös die Regie – Mittelmäßig der Rest. Oder Trash -Theater erschlägt Beethoven. Fidelio am Nationaltheater Mannheim

Man kann es verstehen, dass ein hoch gehandelter Schauspielregisseur, der gerade seine ersten Versuche mit dem Musiktheater macht, mit dem Fidelio, dieser Melange aus biedermeierlicher Spieloper, Grand Opéra avant la lettre und Oratorium , nicht viel anzufangen weiß und deswegen eine radikale Lösung vorschlägt: eine Melange aus Gothic Novel, Inferno, Marionettentheater, Kasperletheater, Traumdiskurs, Metatheater. Gewürzt das Ganze mit Referenzen auf Bachtins These vom ‚grotesken Leib‘, auf Artauds ‚Theater der Grausamkeit‘ und auf Märchenfiguren aus dem Achim Freyer Arsenal (Letzteres kennt das Mannheimer Publikum ja noch aus dessen Ring Produktion).
Mit anderen Worte: Theatermacher Roger Vontobel hat tief in seine Theaterkiste gegriffen, hat seinen Zettelkasten umgestürzt und das ganze disparate Material auf die Bühne geworfen und dazu das ganze Gutmenschen Gerede aus der Schillerzeit auf den Müllhaufen der Geschichte befördert, ganz konkret: in den Schlamm und Dreck, der die schmale, leicht schräg gestellte Spielfläche füllt.… → weiterlesen

Ertrinken, Versinken – in einem Meer von Kitsch? Oder vielleicht doch nicht? Schreker, Der ferne Klang am Nationaltheater Mannheim

Diese hybriden Klänge aus Wagner, Strauss, Debussy, Lehár, die die unverbildete Opernbesucherin da zu hören glaubt, begründen sie wirklich einen neuen Stil? Ist diese Musik ein „Traum als tönendes Bild“, ein „aus der Assoziation von Klang- und Bildwirkungen entwickelter Operntypus“? (Ulrich Rügner).  Ist diese Musik „100% Sexualität“? Ist sie „sexuell sehr extravagant, aber gleichzeitig sehr intim“? (Dan Ettinger).

Ist diese Musik wirklich so grandios? Mir fällt es schwer, den Lobeshymnen der Kritiker und Musiker zu folgen.… → weiterlesen

Welch schöner bunter Bilderbogen. Welch schönes Spiel mit Masken, Marionetten und Doppelgängern. Achim Freyers Mannheimer Ring

Fries am Nationaltheater MannheimNein, dirigiert hat er nicht. Das besorgte für ihn Maestro Dan Ettinger. Ob das, was aus dem Graben klang, mit der spektakulären Bühne mithalten konnte? Ich weiß es nicht. Verhalten und kaum rauschhaft schien mir in Mannheim Wagners Musik , und ihr Zauber wollte sich selten so recht einstellen.  Mir schien es so, als ob  im Rheingold wie in der Walküre Orchester und Solisten  sich erst im letzten Drittel zur Hochform steigerten. Ein vollkommen subjektiver Eindruck. Vielleicht war auch alles ganz anders, und ich habe Ettingers Interpretation gar nicht verstanden.

Nein, für die Musik zeichnet Freyer nicht verantwortlich. Alles andere hat er selber gemacht: die Regie, das Bühnenbild, die Kostüme, das Lichtkonzept. Und zum Programmheft hat er auch noch eine Seite beigesteuert. Der Theatermacher als (beinahe) Gesamtkunstwerk-Macher. Und was unser Grossmeister bietet, das ist nicht nur schön anzusehen, sondern höchst beeindruckend. Nichts von müder Intellektualität, nichts von ideologischen Botschaften, nichts von obsoleter Rezeptionsgeschichte und abgestandenem ‚Realismus‘. Von all diesen schon so viele Male durchprobierten Konzeptionen hält Freyer sich fern und optiert stattdessen für ein archaisches oder,  wenn man so will,  für ein attisches Theater, bei dem die Personen hinter Masken und schweren Kostümen verschwinden und jegliche Individualität verlieren. Zum Verlust der Individualität trägt weiter bei, dass alle Personen ihre Doppelgänger haben, dass diese Doppelgänger für die Handelnden agieren, während diese, von ihren Vertretern durch einen Gazevorhang getrennt, an der Rampe singen und sich ihre Gestik auf wenige rituelle Handbewegungen beschränkt. Antirealistisches, rituelles Theater mit impliziten Verweisen auf  Robert Wilson?… → weiterlesen