Man kann es verstehen, dass ein hoch gehandelter Schauspielregisseur, der gerade seine ersten Versuche mit dem Musiktheater macht, mit dem Fidelio, dieser Melange aus biedermeierlicher Spieloper, Grand Opéra avant la lettre und Oratorium , nicht viel anzufangen weiß und deswegen eine radikale Lösung vorschlägt: eine Melange aus Gothic Novel, Inferno, Marionettentheater, Kasperletheater, Traumdiskurs, Metatheater. Gewürzt das Ganze mit Referenzen auf Bachtins These vom ‚grotesken Leib‘, auf Artauds ‚Theater der Grausamkeit‘ und auf Märchenfiguren aus dem Achim Freyer Arsenal (Letzteres kennt das Mannheimer Publikum ja noch aus dessen Ring Produktion).
Mit anderen Worte: Theatermacher Roger Vontobel hat tief in seine Theaterkiste gegriffen, hat seinen Zettelkasten umgestürzt und das ganze disparate Material auf die Bühne geworfen und dazu das ganze Gutmenschen Gerede aus der Schillerzeit auf den Müllhaufen der Geschichte befördert, ganz konkret: in den Schlamm und Dreck, der die schmale, leicht schräg gestellte Spielfläche füllt.
Florestans Kerker ist eine Hölle, in der ein wahnsinnig Gewordener im
Schlamm und Dreck wühlt und sich in seinem Wahn das Theaterstück von seiner Rettung und Befreiung zusammenfabuliert. Die Figuren, die er sich herbei zitiert, sind ein hinkendes Barockpüppchen im Reifrock, ein autistischer Zwerg, ein buckliger Riese von Kerkermeister, ein Kasperle als Bösewicht, ein schwarzer Engel, eine Art Luzifer, als Retter. Sich selbst sieht er als Postfiguration des leidenden. Christus, der am Kreuz hängt, der mit seinem Double (dem Sänger des Florestan) eine Pietà nachstellt und der im Finale als Schmerzensmann in den Bühnenhimmel gewieft wird. Einzig Fideliio erträumt sich der Spielleiter als Menschen, dem er allerdings die Rolle des Retters neidet: er selber – so sieht er es in seinem Wahn – bändigt den Bösewicht.
Im Finale, im berüchtigten Oratorium, da sind alle, die Guten und die Bösen, die Gefangenen und ihre Peiniger, Engelchen mit Flügeln auf dem Rücken geworden. Und der schwarze Engel, Luzifer, dirigiert sie alle.
Das ist keine Parodie mehr. Das ist eine Satire auf das Gutmenschen Geplapper von der hohen Liebe, der Brüderlichkeit und der Erlösung und zugleich ein Konterkarieren von Beethovens so lauten, fordernden hymnischen Klängen.
Mein Gott, Beethoven. Ich habe selten eine Aufführung gesehen, in der der Komponist so erledigt, von der Inszenierung so malträtiert wurde wie bei diesem Mannheimer Fidelio. Schon die Ouvertüre geht unter, weil die Bühne alle Aufmerksamkeit auf sich zieht: ein schwarzer Gasometer, ein Höllentrichter, wird nach oben gezogen und gilbt den Blick frei auf eine sich mit Schlamm bewerfende und im Schlamm wühlende Gestalt.
Die Zwischenaktmusik, die so gern gehörte Leonoren Ouvertüre, ist gestrichen.
Ich versage mir jedes Herumkritteln am Musikpart der Aufführung. Doch mit Verlaub gesagt: optimal war das nicht.
Wie dem auch sei. Fast allen im Publikum hat‘s gefallen. Es hat ja auch nicht lang gedauert.
Wir besuchten die Premiere am 9. Dezember 2027.