Welch eine Überraschung. Philipp Stölzl und sein Produktionsteam, die noch vor knapp zwei Jahren in Salzburg Benvenuto Cellini auf eine gigantische Videoclip-Show reduzierten und eine technische Materialschlacht veranstalteten, als wollten sie sich für die Bregenzer Seebühne qualifizieren, sind zu Romantikern geworden, haben romantische Literatur und Malerei für sich entdeckt und nutzen beide als Referenzen für eine zugleich subtile, spannende und unterhaltsame Holländer Inszenierung. Unnötig zu sagen, dass es bei einer Inszenierung, die mit Materialien der Romantik arbeitet, Caspar David Friedrich Zitate in Fülle gibt. Interessanter indes als die zu erwartenden Bildzitate aus romantischer Malerei sind die literarischen Referenzen. Ausgangspunkt ist das berühmte Motiv vom Lektüreschaden, das einstens Flaubert in seiner Madame Bovary für seine Abrechnung mit einer heruntergekommenen, verbrauchten romantischen Literatur nutzte. Im Basler Holländer, wo man Wagners Untertitel „romantische Oper“ im Wortverstande nimmt, wird die Romantik nicht entzaubert. Ganz im Gegenteil. Sie wird als eine der Welt der Imaginationen, der Bücher und der Bilder, ernst genommen und als „Krankheit zum Tode“ gedeutet.
Die romantische Welt ist Sentas Welt, in der sie sich von Anfang an eingerichtet hat und die sie um keinen Preis verlassen will. Und so ist es nur konsequent, dass zur Ouvertüre eine noch jugendliche Senta sich zur Nachtzeit in der Bibliothek des großbürgerlichen Hauses verschließt, sich den Folianten mit der Geschichte vom Fliegenden Holländer sucht und liest und liest. In ihrer Imagination wird Literatur zur Wirklichkeit, wird das Geschehen, werden die Gestalten lebendig, treten sie ganz konkret aus dem großen Gemälde mit seinen Felsen und seinem drohenden Meer, das fast eine ganze Wand in der Bibliothek einnimmt, heraus und machen die Schaluppe des Vaters an den Sesseln in der Bibliothek fest. Der Holländer, kein Unbehauster, kaum ein Erlösung Suchender, sondern eine Piratengestalt wie aus dem Märchenbuch, ist mit einmal mitten unter den Matrosen des Daland, und die kleine Senta, die den schweren Folianten an sich drückt, flüchtet sich ängstlich, neugierig und doch zugleich fasziniert unter den großen Bibliothekstisch und verfolgt so den Pakt, den Vater Daland mit dem ihm Unbekannten schließt und den Senta längst aus ihren Büchern kennt. Im zweiten Akt ist aus einer jugendlichen Senta eine ältere Frau geworden, Opfer der Spottlust des Hauspersonals, die kein Jäger Erik, sondern der Schreiberling der Firma vergeblich umwirbt. Der Bräutigam, den der Vater ihr zuführt, ist entgegen den Erwartungen des Zuschauers nicht der Supermann vom Piratenschiff, sondern ein alter Trunkenbold, eine groteske Figur aus dem Panoptikum eines E.T.A. Hoffmann. Und während Senta scheinbar der ‚Zwangsehe’ zustimmt, sieht sie sich in ihrer Imagination als Braut des Holländers – und der Zuschauer sieht die Szene real, ganz so wie sie Musik und Libretto vorschreiben und wie sie sich in dem Gemälde, das sich zu einer zweiten Bühne weitet, ereignet. Auf diesem Schema der Gleichzeitigkeit von Imagination und philiströser ‚Realität’ basiert der gesamte dritte Akt. In der Realität feiert eine ausgelassene, betrunkene Gesellschaft die Hochzeit des senilen Trunkenbolds mit einer immer ältlicher aussehenden angetrunkenen Senta, und auf der oberen Bühne ereignet sich in der Vorstellungswelt der Senta ihre imaginierte Hochzeit auf dem Piratenschiff, befreit sie wie Ritter Blaubarts Braut die gefangenen ehemaligen Bräute, wandelt sie sich zur neuen, jugendlichen Geliebten des Piraten und entflieht mit ihrem Seeräuber „übers Meer“. In der Wirklichkeit erschlägt Senta mit der Schnapsflasche den volltrunkenen, ihr gerade angetrauten Ehemann und ersticht sich mit den Scherben.
Die Senta, wie sie uns in Basel präsentiert wird, ist keine psychopathische Traumtänzerin, wie sie die gängigen Inszenierungen verstehen, und erst recht ist sie keine Emanzipierte, die am Helfersyndrom leidet oder die einen Erlösungstick hat. In Basel zeigt man eine Senta als Opfer ausschweifender Lektüre populärer romantischer Literatur, eine Senta, die am romantischen Lektüreschaden leidet und die dem entsprechend Literatur und Leben, romantische Fiktion und philiströse Wirklichkeit nicht auseinander halten will, eine Senta, die sich im Konflikt zwischen Fiktion und Wirklichkeit für die Fiktion entscheidet und die, da sie die Dominanz der Wirklichkeit über die Fiktion nicht akzeptieren kann, sich der Wirklichkeit durch Selbstmord entzieht. Mit anderen Worten: in Basel wird der Fliegende Holländer als Flaubert Variante, als Variante des Emma Bovary Mythos in Szene gesetzt. In Basel haben Philipp Stölzl und sein Team mit ihrem Holländer bewiesen, dass sie mehr sind als die billigen Performer und die simplen Videoclip Fans, als die sie sich in Salzburg gaben.
Schade nur, dass an diesem Abend das Basler Sinfonieorchester wohl nicht in Topform war und schade auch, dass nicht alle Rollen optimal besetzt waren. Aber für den nicht überzeugenden musikalischen Part entschädigt die gelungene Inszenierung allemal.
Die Premiere war am 18. Januar 2008. Wir sahen eine der ersten Vorstellungen.