Edle Langweile und versuchte Größe

Eine Starregisseurin, ein großes Aufgebot von Starschauspielern, ein berühmter Text, hymnische Kritiken im Feuilleton – und unerträgliche Zähigkeit und Langeweile und vielleicht sogar Konzeptionslosigkeit

Andrea Breth zeigt bei den Salzburger Festspielen 2009 im Landestheater wieder ihre „Fassung“ von Dostojewskijs Verbrechen und Strafe

In den Augen unserer Theatermacher gibt es offensichtlich zu wenig dramatische Texte. Und wie unsere Filmemacher schon seit Urzeiten Romane in Drehbücher verwandeln, so machen  auch unsere Theatermacher Theaterstücke aus Prosatexten –  und vergessen dabei, dass das Epische und das Dramatische  zwei verschiedene Gattungen, „Urformen der Poesie“ sind, wie einstens ein bekannter Literat aus Weimar bemerkte, die man nicht nach Belieben austauschen kann. Und das schon aus dem einfachen Grunde, weil das „epische Verweilen“ sich nur schwer oder eigentlich überhaupt nicht in Handlung umsetzten lässt. Und wenn man es trotzdem versucht, wie das in Salzburg die berühmte Hausregisseurin vom Burgtheater tut (in offensichtlicher Konkurrenz mit dem Herrn der Berliner Volksbühne, der im Jahre 2005 sich schon an einer Dramatisierung Dostojewskis versuchte), dann entsteht trotz mancher brillanter Einzelszenen, trotz der so grandiosen Schauspieler, trotz eines bewundernswerten Jens Harzer in der Titelrolle ein quälend endloser Abend, ein fast fünfstündiges Schaustück, das spätestens nach der zweiten Pause, nach vier Stunden Szenensequenzen, die einem manchmal wie Filmschnipsel vorkommen, auch den geduldigen und aufgeschlossen Zuschauer nur noch an Wotans Diktum denken lässt: „Nur eines will ich noch: das Ende“.

Und dabei wäre es trotz der gattungsbedingten Widerstände des Romans so einfach gewesen, aus Dostojewskijs Text ein spannendes Theaterstück, ein Stück mit dramatischer Wucht  machen. Weist doch der Roman trotz seiner epischen Breite, trotz seiner philosophischen Exkurse eine ganze Reihe dramentauglicher Komponenten auf. Es hätte genügt, den Text radikal zu kürzen, sich auf die dramatischen Elemente zu konzentrieren, alle Nebenhandlungen beiseite zu lassen, die Zahl der Sekundärfiguren auf ein Minimum zu reduzieren und ausschließlich das Psychogramm und den zentralen Konflikt des Protagonisten Raskolnikow zu zeigen: seine gleichsam Hamletartigen Monologe, die Auseinandersetzung mit seinem Gegenpol, dem Untersuchungsrichter, die Dialoge mit der zweiten Gegenfigur, mit der „heiligen Hure“ Sonja. Schon im 18. Jahrhundert hatte Alfieri in seinen Freiheitstragödien gezeigt, wie man mit einem Minimum an  Figuren und unter Konzentration auf das Wesentliche so genannte Menschheitsfragen auf der Bühne abhandeln kann. Und Albert Camus, viele Jahrzehnte ein Lieblingsautor unserer Theatermacher, hat es in modernen Kostümen kaum anders gemacht. Aber Frau Breth wollte wohl offensichtlich kein Thesenstück in Szene setzen, sondern einen epischen Text in Bilder und Szenen transformieren. So berauschte sie sich gleichsam an Dostojewskijs Figuren und Episoden und konnte nicht enden. „Regieorgasmus“ nennt das meine Freundin Ariadne. Nennen wir es lieber einen Mangel an kritischem Bewusstsein und eine rücksichtslose Überforderung der Aufnahmefähigkeit des Publikums, zwei Negativa, die einen Theaterabend, der unter den besten Voraussetzungen stand,  ruinierten. Was trotz aller Brillanz der Schauspieler  an diesem Abend produziert wurde, das war vor allem gedankenschweres, langweiliges Germanistentheater, das noch dazu mit dem üblichen abgestandenen naturalistischen Brei verkocht war. Und was den neuen Titel angeht – Dostojewskijs Text firmiert  nicht mehr unter dem traditionellen Titel: Schuld und Sühne, sondern wird jetzt zu Verbrechen und Strafe – so ist unserer renommierten Theatermacherin wohl entgangen, dass dieser Titel, mag er auch dem Originaltitel vielleicht näher kommen als der gängige,  zugleich der Titel der bekanntesten rechtsphilosophischen Schrift der Aufklärung ist: Dei delitti e delle pene, so lautet der Titel von Beccarias Traktat vom Jahre 1764, in dem er das Strafrecht von allen metaphysischen und ethischen Bezügen löst und die religiös bestimmten Kategorien des Bösen und der Sünde zu unwichtigen Größen reduziert. Wollte unsere Theatermacherin mit dem neuen Titel (vielleicht im Einklang mit der Übersetzerin?) Dostojewskij zum areligiösen Aufklärer stilisieren? Hätte sie dann nicht eigentlich die Figur der Sonja streichen müssen? War Andrea Breths Dostojewskij „Fassung“ nicht nur langweilig, sondern noch dazu widersprüchlich? Oder ist der Dostojewski Text widersprüchlich, und die Brüche in der Dramatisierung spiegeln nur die Brüche des ursprünglichen Textes wieder? Wie dem auch sei. Ich fand die in der Presse so bejubelte Inszenierung vor allem zähflüssig. Mit einem Wort: langweilig. Und Langeweile im Theater verzeiht wohl noch nicht einmal Mozarts so generöser Bassa Selim.

An den Schnee vom vergangenen Jahr erinnert man sich kaum. Doch in Salzburg, da ist das alles anders. Da verwahrt man den Schnee vom vergangenen Jahr in der Tiefkühltruhe und taut ihn zum Festspielsommer 2009 wieder auf. Warum auch nicht. In Salzburg schluckt ein geduldiges Publikum sowieso alles, was ihm serviert wird und nimmt klaglos „das Spiel der Mächtigen“ hin.

Wir sahen die Vorstellung am 03. August 2008.