Von schwülstiger Erotik, von Dekadenz und Jugendstil, von Orientmode, von Schleiertanz und Nekrophilie, von all den Mythen und Obsessionen des Fin de Siècle, in denen sich bei der Salome so mancher konventioneller Theatermacher verfängt, will Claus Guth nichts wissen. Er optiert stattdessen für Traumdiskurs, Puppentheater, Aktualisierung und einen Schuss Psychoanalyse.
Seine Salome, wie sie da im langen Nachthemd durch die Puppen (die Schaufensterpuppen) im Atelier irrt, ist keine Kindfrau mit eigenartigen Gelüsten. Sie ist eine erwachsene Frau, die in ihrer Kindheit vom pädophilen Stiefvater missbraucht wurde, an diesem Trauma leidet und sich gleichsam in einer Nachtmäre ihre Kindheit und Jugend in Erinnerung ruft. Eine Zeit, die sich gleich in sechs Salome Doppelgängerinnen in unterschiedlichen Altersstufen konkretisiert. Kinder und junge Mädchen, die sie nahezu ständig umgeben.
Der Prophet Jochanaan, ein schwerer nackter Mann, der aus einem Haufen von Stoffresten, die in der Schneiderei herumliegen, herauskriecht, ist nichts anderes als der Wiedergänger oder Doppelgänger des verhassten und geliebten Stiefvaters, eine Identität, die offensichtlich wird, wenn die Salome-Mädchen ihn ankleiden und er in Kostüm und Maske, mit Perücke und Brille zum perfekten Doppelgänger des Stiefvaters wird. Nur konsequent ist es in diesem Zusammenhang, wenn Herodes verzweifelt die Forderung der Salome („Ich will den Kopf des Jochanaan“) abzulehnen sucht: er kämpft um seinen eigenen Kopf. Der Tanz, zu dem er Salome gedrängt hatte, war sein eigener Totentanz, in den er mit einem schwarz verhüllten Todesboten und mit den Salome Doppelgängerinnen geradezu hineingestoßen wurde und in dem er sich gewaltsam an seine pädophilen Neigungen erinnern musste.
Guths erwachsene Salome, die eine nächtliche Psychositzung mit Stiefvater Herodes veranstaltet, besser: diese als Nachtmäre erträumt, ist nicht blutrünstig: sie lässt den Männern ihre Köpfe und reißt nur einer Schaufensterpuppe den Kopf ab. Und wenn sie dann im Finale mit diesem Kopf monologisiert und sich dabei ihre Doppelgängerinnen an sie hängen, dann ist auch dies nur ein Traum, ein therapeutischer Traum, mit dem sich Salome von ihrem Albtraum befreit, sich zu befreien sucht, Missbrauchsopfer eines Pädophilen zu sein. Der berühmte Schlusssatz des Herodes(„Man töte dieses Weib“) wäre dann nur ein versuchter Befreiungsschlag, mit dem sich der Pädophile von seinen Schuldkomplexen lösen will. Vergeblich: Salome geht einfach davon – als Traumwandlerin.
War dies die Grundkonzeption der Regie? Vielleicht. Zumindest habe ich sie so verstanden – oder auch missverstanden. Ob die Inszenierung der Musik gerecht wird? Vielleicht. Eine Inszenierung, die zunächst irritiert und dann immer mehr überzeugt. Die Regiearbeiten von Claus Guth – so wissen seine Fans, und zu diesen zähle ich mich gerne – sind eben anspruchsvoll und intellektuell, vermeiden das Obsolete und schlagen neue Deutungen auch bei scheinbar mehr als bekannten Werken vor. „Arbeit am Mythos“ – wie man sie sich wünscht.
Und die Musik? Die Strauss Musik, mag man sie auch im Laufe der Jahre schon so viele Male gehört haben, ist immer noch hinreißend und betäubend. Und entsprechend wird sie auch vom Orchester der Deutschen Oper Berlin unter der Leitung von Alain Altinoglu gespielt. Unnötig zu sagen, dass auf der Bühne ein exzellentes Ensemble singt und agiert.
Ein großer Opernabend in der Deutschen Oper an der Bismarckstraße. Wir sahen die Aufführung am 2. April 2016, die „5. Vorstellung seit der Premiere am 24. 1. 2016“.