Wann hat man schon Gelegenheit, Wagners frühe Grand Opéra, seine „große tragische Oper“, und Lohengrin, seine „romantische Oper“, gleich hintereinander an zwei Abenden zu hören und diese in Inszenierungen zu sehen, die von der gleichen Grundkonzeption ausgehen und doch in der Ausgestaltung dieser Grundidee so gänzlich verschieden sind. Beide erzählen vom Aufstieg und Fall einer charismatischen Persönlichkeit, die als Retter aus einer Zwangslage erscheint, die es versteht, die Massen für sich einzunehmen und diese zu manipulieren. Rienzi wie Lohengrin, beide sind sie Politiker, die sich selber inszenieren: der eine als Meister der Propaganda und brutaler Diktator, der sein Volk und sich selber in den Untergang führt, der andere als ein scheinbar sanfter und doch zugleich unerbittlicher Machtmensch, der unbedingtes Vertrauen und unbedingten Gehorsam verlangt, der sich mit der Aura des Heiligen und Geheimnisvollen umgibt und gerade dadurch die Massen manipuliert. Eine politische Interpretation der beiden Protagonisten, die bei der Figur des Volkstribunen Rienzi evident ist und sich aus der Handlung gleichsam von selber ergibt, die indes bei der Figur des Lohengrin überrascht und sich am Ende doch als nicht minder evident erweist.
Eine politische Auslegung der Rienzi Oper mit Verweisungen auf Geschehnisse des 20. Jahrhunderts ist nicht unbedingt neu. In Leipzig war vor ein paar Jahren Rienzi als die Geschichte von Aufstieg und Machtgier, von Scheitern und Liquidierung eines hohen Parteifunktionärs im DDR Milieu zu sehen, eine Parabel, die im Opernhaus Leipzig, einem Haus, das trotz aller Renovierungsversuche seine stalinistische Patina nicht abstreifen kann, einen zusätzlich morbiden, um nicht zu sagen gruseligen Charme gewann. In Leipzig sah ein in die Jahre gekommenes Publikum, durchweg einstige Untertanen des Herrn H., ein mögliches und wahrscheinliches Geschehen aus seiner eigenen Geschichte auf der Opernbühne und nahm dieses gelassen und beifällig hin. Und jetzt beim Berliner Rienzi da geht man noch ein paar Jahrzehnte weiter zurück in die Geschichte und stellt das Geschehen in die faschistische Epoche, und wieder nehmen wir es gelassen und Beifall spendend freudig hin. In Berlin mutiert der römische Machtpolitiker aus dem 14. Jahrhundert zum Verschnitt aus Duce, Adolf und Chaplins „großem Diktator“. Aus dieser sich so leicht anbietenden Analogie zwischen den faschistischen Diktatoren und dem spätmittelalterlichen Tribun und Volkshelden, der dem Volk in Rom Freiheit, Ruhm und Macht verspricht und am Ende von den enttäuschten Massen liquidiert wird, macht Regisseur Philipp Stölzl zwar auch eine Grand Opéra. Doch vor allem macht er daraus ein großes intermediales Spektakel. Ein Spektakel, das die Wochenschauen und Propagandafilme aus jener Zeit zitiert, den Darsteller des Rienzi als Duce auf der Rednertribüne oder beim Hände- Schütteln in der Volksmenge zeigt, ihn als gebrochenen kranken alten Adolf inmitten seiner Chargen im Führerbunker vorführt, dem vor seinem Tod nichts anderes bleibt, als mit seinen Architekturmodellen zu spielen (und dazu singt er etwas mühsam – als Sänger ist er an diesem Abend leider nicht in Hochform – den Hit „Rienzis Gebet“). Nicht genug damit. Der zwischen den Parteien schwankende Adriano, der unfähige Attentäter, steckt in der berüchtigten schwarzen Uniform der SS Schergen. Natürlich fehlen weder die Choreographie und die Lichtspiele der Reichsparteitage noch die Führeranbetungshysterie der NS Frauen, noch die Durchhaltepropaganda, noch die inszenierten Ansprachen für die Wochenschau. Das ganze Sammelsurium aus unseliger Zeit dürfen wir noch einmal auf der Opernbühne sehen. Doch wir sind nicht bei einer Leni Riefenstahl Gedächtnis Show. All diese Referenzen auf die Propaganda, all diese Verweise auf den germanischen und den römischen Duce werden von Anfang an zur Groteske, zur Parodie und in die Komik verzerrt. Da hört der ‚große Diktator‘ in einem monumentalen Saal, einer Mischung aus Obersalzberg und Reichskanzlei, Wagner: hier im konkreten Fall natürlich die Rienzi Ouvertüre und schlägt dazu Purzelbäume auf seinem riesigen Schreibtisch und träumt, Rad schlagend, von der Weltherrschaft. Das liebe Schwesterlein, das dem Duce Rienzi in inzestuöser Verbindung zugetan ist, wird zur germanischen Maid im bayerischen Trachtenkostüm und mit hoch gestecktem Blondhaar. Und natürlich lässt sie sich in schöner Analogie zu Mussolinis Geliebte am Ende lynchen. In ihrer Transponierung des Geschehens in die faschistische Welt lässt die Regie kaum ein Klischee aus. Da scheinen die Anhänger, die sich um den in braunes Leder gekleideten korpulenten Duce drängeln, in ihrer grotesken Aufmachung geradezu den Bildern eines George Grosz entstiegen zu sein. Und die scheinbar begnadeten Verschwörer werden hinterrücks erledigt. All das ist handwerklich brillant gemacht und in seiner Perfektion auch höchst beeindruckend. Illustrierte Geschichte des deutschen und des italienischen Faschismus, Geschichten von skrupellosen Verführern, leicht manipulierbaren Massen, Geschichten von Gewalt und Tod, Geschichten von angeblichen Freiheitshelden, die zu Tyrannen werden. Ein großes, doch letztlich eindimensionales Spektakel, das die Intendanz wohl als Video an das Museum für deutsche Geschichte verkaufen kann, auf dass es dort (natürlich gekürzt) interessierten Volkshochschulklassen als Parabel vorgeführt werde. In der Oper mag ich Spektakel dieser Art, mögen sie wie jetzt an der Deutschen Oper Berlin auch noch so perfekt gemacht sein, nicht so gern. Das ist Kino mit den Mitteln des Theaters.
Weit subtiler ist die Lohengrin Inszenierung angelegt. Dieser Berliner Lohengrin ist nicht „von Gott gesandt“, wenngleich er im Habit eines Dominikanermönchs auftritt und auf dem Rücken zwei bei Bedarf abnehmbare Flügel trägt. Engelsflügel oder Schwanenflügel? Sankt Dominik vom heiligen Schwan? Das Rätsel löst sich im Schlussbild. Lohengrin ist ein Friedhofsengel, der über Gräbern thront. In der Tat, so signalisiert es schon das befremdende erste Bild, sind Tod und Krieg die ‚Leitmotive‘ der Inszenierung. Zur betörend glitzernden Gralsmusik der Ouvertüre suchen Frauen auf einem Schlachtfeld unter den Gefallenen nach ihren Angehörigen. Und die erste Szene nimmt die Todesthematik gleich wieder auf. Tote, Untote, Wiedergänger sind sie alle, die da in den noch Blut getränkten Uniformen von Soldaten aus den Kriegen der letzten Jahrhunderte als Volk und Edle von Brabant agieren. Gefallen in den Kriegen in Brabant. Lohengrin eine Geschichte aus dem Totenreich. Und von diesem Geheimnisvollen, den sie alle wie einen Heiligen anbeten und feiern, erwarten sie Rettung aus dem Elend und vielleicht sogar die Auferstehung. Der Geheimnisvolle, der da aus den Höhen oder aus dem Licht kommt, vertritt er eine neue Politik? Hat wie einst bei den Auftritten Adolfs ein Propagandaminister seinen Auftritt im Lichtdom als Theaterereignis inszeniert? Wird er die alten Machthaber, wie sie sich in den Personen des Telramund und der Ortrud verkörpern, verdrängen? Warum trägt er die Gralserzählung als politische Rede vor und verhält sich dabei wie ein Wahlredner, der hin und wieder einen Blick auf seine ihm zugesteckten Handzettel wirft? Warum umringen ihn dabei in geradezu hysterische Verzückung die Frauen? Warum bringt er im Finale das Kind Gottfried nicht als „den Herzog von Brabant“ zurück, sondern legt ihn als totes Kind (als ermordetes Kind?) auf den Grabstein? Warum kniet Elsa als Statue ihrer selbst neben dem Grab und warum steht Lohengrin als Friedhofsengel hinter dem Grab? Welche Geschichte wollte Regisseur Kaspar Holten eigentlich erzählen? Sicher auch die Geschichte von der Verführbarkeit der Menschen. Sicher auch die Mär von einem geheimnisvollen Verführer, der scheinbar Erlösung, aber in Wirklichkeit nur den Tod bringt. Alles bleibt mit Ausnahme der so plakativen Krieg- und Todesthematik in der Schwebe – ganz wie es der Vieldeutigkeit der Lohengrin Figur entspricht. Aber vielleicht wollte Theatermacher Holten auch nur „ein Märchen aus uralten Zeiten“ erzählen, ein Antimärchen, in dem der kleine Prinz ermordet wird und die Prinzessin den großen Prinzen nicht bekommt, weil sie (oder vielleicht er?) den kleinen Prinzen getötet hat? Oder war es vielleicht doch die Hofdame? Oder vielleicht der abgewiesene rachsüchtige Liebhaber, der Graf? Wer weiß das schon so genau. An der Deutschen Oper Berlin wird ein recht vieldeutiger Lohengrin gespielt und dazu wurde, wenn das auch nicht alle im Publikum so sehen wollten, musiziert und gesungen, wie es dem Niveau eines großen Hauses entspricht. Allen voran Petra Lang als Ortrud und Stefan Vincke in der Titelrolle.
Wir sahen Rienzi am 21. April und Lohengrin am 22. April 2012. Die Lohengrin Premiere war am 15. April 2012. Die Rienzi Premiere laut Programmheft am 24. Januar 2010.