Gefangen in den Piranesi Carceri. Gefangen in Affekten und Defekten. Marc Minkowski und Olivier Py präsentieren im Theater an der Wien eine Rarität: Ambroise Thomas, Hamlet

Ich lese nicht gern Theaterkritiken, bevor ich  nicht selber die Aufführung gesehen habe. Zu leicht verstellen sie den Blick, verführen zur Voreingenommenheit. Doch Verrisse und genauso hymnische Besprechungen machen  auch neugierig und provozieren Widerspruch oder Zustimmung. In Salzburg habe ich vor ein paar Jahren eine Schauspielaufführung ertragen und erlitten, die in der FAZ hymnisch besprochen worden war, und ich habe mich gefragt, welcher Teufel wohl den renommierten Kritiker geritten hat, als er seinen Lesern langweiliges Germanistentheater als  großes Theaterereignis aufschwatzte. (Wenn ich mich recht erinnere, war es Starkritiker Stadelmaier, der mich damals hereingelegt hat). Jetzt  im Theater Wien  kann ich Dirk Schümer von der FAZ nur  zustimmen, wenn er den Hamlet  als „perfekte“ Aufführung feiert: „So kommt es zu einer Rarität im hochkomplexen Opernbetrieb: Man erlebt die perfekte Produktion, ohne eine Sekunde Leerlauf oder Routine […]“. In der Tat lassen bei diesem Hamlet Orchesterklang, Gesang und Spiel keine Wünsche offen. Alles ist vom Allerfeinsten. Besser, so sagt sich die begeisterte  Dilettantin, geht es wohl nicht mehr. Nicht minder faszinieren Bühnenbild und Inszenierung. Ort des Geschehens  ist ein labyrinthischer Bau aus schwarzen Ziegeln mit einer Empore, von der zwei Seitentreppen hinab führen.  Ein Ort der Beklemmung und der Isolation, der wohl auf Parinesis Carceri verweisen soll. Die Inszenierung setzt ganz im Stil der französischen Tradition der Grand Opéra auf Effekte: die Geistererscheinung mit Silbermaske  in Dampf und Nebel, die Schauspieler-Szene im zweiten Akt als Theater auf dem Theater, das Frühlingsfest als  Aufbruch zur roten Revolution, Ophelias Todesszene als Todesreigen.

Doch all diese Theatereffekte, so spektakulär sie auch sind, verblassen vor der Brillanz der  Sänger-Darsteller. Christine Schäfer als Ophélie und Stéphane Degout als Hamlet   sind von Bühnenerscheinung, Gesang  und Spiel geradezu idealtypische Besetzungen für die Rollen der beiden Protagonisten: die ‚femme fragile‘, die, von Hamlet zurückgestoßen, nicht weiß,  was ihr geschieht und sich in tödlichen Wahn steigert, der im Sterben die Höllenhunde (Zerberus in mehrfacher Gestalt) erscheinen und sich an sie klammern, die  Ophélie, die sich auf und mit der  Bühnenscheibe im Kreise zu ihrem eigenen Todesreigen dreht und  geradezu verlischt – eine Schwester der Lucia di Lammermoor.  Hamlet, wie ihn Stéphane Degout verkörpert, ist von Anfang an ein Verstörter, vollkommen eingesponnen in seinen Wahn: wie er da auf den Treppen des Piranesi Baus hockt, wie er die Urne mit der Asche des ermordeten Vaters umklammert, wie er dessen Asche mit dem Ventilator in alle Richtungen verstreut, wie er durch die Grotten des Ziegelbaus irrt, wie  er als nacktes Baby mit der Mutter in der Badewanne sitzt und diese in der Badewanne ertränken will (ja wir wissen schon: kleine Zugabe für die Freudianer mit Vorliebe für den ‚Mutterkomplex`). Wenn der Geist des ermordeten Vaters Rache fordert, ist das alles nur Wahn und Einbildung? Sind das Phantastereien  eines Depressiven? Die Inszenierung lässt die Antwort offen. Es ist einfach bewundernswert, mit welcher Bühnenpräsens, mit welch mächtiger und ausdrucksstarker  Stimme, mit welcher darstellerischen Intensität Stéphane Degout diesen Hamlet spielt. Dieser Hamlet bei Ambroise Thomas ist nicht der uns so bekannte und doch so ferne Shakespeare Held, der über Sein und Nichtsein räsoniert. Er ist einfach nur ein überforderter Mensch, der in seinem Wahn gefangen ist, erst in der Todesszene wieder zu sich kommt, keinen Ausweg mehr als den Selbstmord sieht und im Wortverstande den Deckel, den Sargdeckel, über sich selber schließt.

All das ist nicht,  wie Dirk Schümer in seiner Kritik meint, die „lockende Sinnlichkeit der Melancholie“. Die Melancholie  bei Ambroise Thomas, wie sie sie Musik und Inszenierung betonen, hat kaum etwas  mit lustvollem Versenken in den eigenen Schmerz zu tun. Die Melancholie manifestiert sich hier als  eine geradezu manische Depression. „Eine Krankheit zum Tode“, an der sie alle, die da in  den Piranesi Carceri gefangen sind, leiden: der verstörte Hamlet, die ‚reine‘ Ophélie, der Lustgreis und Tyrann von König, die Trieb gesteuerte Mutter Hamlets. Und die Musik?. Die Musikhistoriker stellen   sie zwischen Gounod, Berlioz und Massenet. Das mag auch schon seine Richtigkeit haben. Ich habe sie zum ersten Mal gehört. In Erinnerung bleiben Highlights: die Schauspieler-Szene mit dem Saxophon Solo, Hamlets Trinklied, die schwedische Ballade der Ophélie, die düsteren Chorszenen. Ob das große Musik ist, ich weiß es nicht. Mir  jedenfalls hat sie gefallen. Wieder einmal ein großer Opernabend im Theater an der Wien.  Und wenn die Inszenierung in der nächsten Saison in Brüssel wiederaufgenommen wird, ich glaube, dann gehe ich noch einmal hin.

Wir sahen die Aufführung am 28. April 2012. Die Premiere war am 23. April 2012.