Marionetten sind sie doch alle. Ein hybrider Märchenring. Götterdämmerung im Anhaltischen Theater Dessau

Wagner in Dessau? Wagner in der fernen ostdeutschen Provinz?  Und dann auch gleich noch die Götterdämmerung. Kann das gut gehen? Die von den großen Staatstheatern mit ihren Starbesetzungen und aufwendigen Inszenierungen  verwöhnte (manchmal verwöhnte) ‚Wagnerianerin‘ fährt skeptisch und voller Vorurteile nach Dessau – und sieht und hört eine Götterdämmerung der Spitzenklasse. Nicht nur dass nahezu alle Rollen mit herausragenden Sängerdarstellern besetzt sind, nicht nur dass die „Anhaltische Philharmonie“ unter Maestro Antony Hermus einen höchst faszinierenden Wagner  spielt, eine Götterdämmerung, die Kohorten anämischer Jünglinge und  biedere Bürgerfrauen  zwar nicht gleich berauscht, aber doch in eine Art Trance versetzt, auf dass sie alle stumm und still, ohne einen Huster der Langeweile  von sich zu geben, fünf Stunden sich Wagner hingeben. Wie heißt es doch noch  so schön bei Nietzsche: die „Musik als Circe… […] Wagner ist schlimm für Jünglinge; er ist verhängnisvoll für das Weib“.

Nicht nur Orchesterklang und Gesang auch Inszenierung und  Ausstattung und Kostüme  sind außergewöhnlich und verdienen alles Lob. Die Inszenierung verzichtet auf all die Einfachheit und Schlichtheit, die neuerdings die Theaterkritik der Süddeutschen Zeitung bei den Theatermachern in München, Stuttgart und Basel rühmt und entscheidet sich für ein höchst anspruchsvolles Konzept, für eine Art Patchwork  – vornehm ausgedrückt: für eine hybride Konzeption, bei der unterschiedliche Ansätze sich überlagern, sich vermischen und zitiert werden.   Regisseur André Bücker – dies ist der erste Eindruck, den man gewinnt – kennt seinen Bob Wilson, orientiert sich an dessen antirealistischem und symbolischem Theater, an dessen Manie der Lichteffekte, an  den ritualisierten Gesten, den minimalistischen Bewegungen, die Wilson seinen Darstellern verordnet. Doch noch stärker als Wilson macht Bücker   seine Personen zu bleich geschminkten Marionetten, lässt sie auftreten wie  Spielfiguren aus dem sizilianischen Teatro dei  Pupi (allerdings nicht in mittelalterlichen Trachten, sondern in Kostümen, die bei den Damen an den japanischen ModeschöpferYamamoto  und bei den Herren an Oskar Schlemmers Theaterfiguren erinnern). In Dessau mag man bei dem Marionettenthema wohl weniger an Sizilien  als an Oskar Schlemmers Dessauer  Bauhausbühne  aus den frühen 20er Jahren gedacht haben.  Wie dem auch sei. Die zugereiste Zuschauerin hat andere Assoziationen. Überdeutlich wird das Marionettenhafte an  der Figur des Siegfried, der bei seinem ersten Auftritt im Bühnenhintergrund aus einem Kasten heraustritt und wie ein hölzernes Bengele mit steifen und mechanischen Bewegungen auf  die Szene schreitet und bei allen seinen Auftritten in dieser hölzernen Pose verharrt. In der Todesszene fällt er, wie man das von den realistischen Inszenierungen her kennt, nicht zu Boden, sondern bleibt aufrecht stehen, eben wie eine Marionette, die an den Fäden des Puppenspielers hängt.  Die Dessauer Götterdämmerung bietet indes mehr als eine übersteigerte Robert Wilson Variante im Kontext des Teatro dei Pupi. Sie bietet – und dies ist der bleibende Eindruck – ein intermediales Lichtspektakel, das, mag es auch von Wilsons Licht – und Schattenspielen angeregt worden sein, in eine ganz andere Richtung geht. Die Projektionen zitieren, wenn ich das richtig gesehen habe, Kandinsky, Klee, Oskar Schlemmer, wohl auch Otto Dix und – so im Finale des zweiten Akts – Skulpturen von Giacometti. Ob all diese Projektionen zum jeweiligen Geschehen passen, das kann der Zuschauer wohl nicht immer gleich erfassen – vielleicht mit Ausnahme der Giacometti Zitate. Die Skulpturen, die als Projektionen vorbeiziehen, als die Verschwörer Siegfrieds Ermordung beschließen, nehmen das Ergebnis der Verschwörung,  eben Siegfrieds Tod gleichsam optisch vorweg.

Mit anderen Worten: in Dessau ereignet sich die Götterdämmerung als Marionettenspiel, das bei allen impliziten Verweisen auf die Regiekunst eines Robert Wilson sich wohl vor allem als  Hommage  an die Bauhauskünstler und die Bühnenexperimente eines Oskar Schlemmer versteht. Eine Grundkonzeption, die gerade weil sie sich jeglichem Realitätsbezug und jeglicher Ideologie verweigert und ganz auf das Zusammenspiel von Musik und Theater und bildender Kunst setzt, beeindruckt und fasziniert. Ein großer Opernabend, bei dem das Publikum zu Recht alle Mitwirkenden begeistert feierte. Wir sahen die Premiere am 12. Mai 2012.