Von scheinbar großen und scheinbar kleinen Musiktheatern. Anmerkungen zum Berliner Samson und zum Lübecker Ring

Von scheinbar großen und scheinbar kleinen Musiktheatern. Anmerkungen zum Berliner Samson und zum Lübecker Ring

Manchmal frage ich mich, ob nicht die Musiktheater in der ‚Provinz’ die eigentlichen großen Bühnen sind und ob man sich den Besuch der renommierten Staatstheater nicht besser ersparen sollte. Eine Erfahrung, die wir zuletzt beim Lübecker Ring machen mussten. Ein paar Tage zuvor hatten wir eine reichlich dürftige Samson et Dalila Inszenierung an der Deutschen Oper in Berlin gesehen. Das Haus hatte zwar die üblichen Sängerstars und einen bekannten Ausstatter, der in Personalunion gleich auch noch die Regie übernommen hatte, engagiert. Doch eine halbwegs interessante Aufführung kam nicht zustande. Zwar sang die berühmte bulgarische Mezzosopranistin  von der Zürcher Oper durchaus brillant (dass sie nicht schauspielern kann und  vor allem bei den Femme fatale Rollen ziemlich hilflos wirkt, das müssen wohl inzwischen auch ihre Fans zugeben), und der berühmte Bayreuth Sänger sang auch einen beachtlichen Samson, und ein paar hübsche Bühnenbilder waren auch zu sehen. Die Regiekonzeption, wenn es denn eine gab, war, um es vorsichtig zu sagen, heterogen und versuchte das Geschehen in der Zeit des deutsch-französischen Krieges von 1870 (also mehr oder weniger in der Entstehungszeit der Oper) zu verorten. Ein hübscher, wenn auch antiquierter Ansatz, der nur ein obsoletes Opernspektakel entstehen ließ, das mit der beklemmenden Aktualität, die zum Beispiel die Nürnberger Samson und Dalila Inszenierung auszeichnet, nicht im geringsten mithalten kann. Ein weiteres Beispiel dafür, wie ein Musiktheater in einer mittelgroßen Stadt die hauptstädtischen Bühnen klein aussehen lässt. Doch wir wollen nicht von der Berliner Musiktheater Szene sprechen (zum Berliner Ring im Schillertheater finden sich bereits zwei Artikel in unserem Blog), sondern vom großartigen Lübecker Ring. Beim Lübecker Ring im kleinen Jugendstil Theater, da stimmt nahezu alles. Vom rauschhaften Wagner Klang, den Maestro Brogli-Sacher  mit dem „Philharmonischen Orchester der Hansestadt Lübeck“ produziert, über die mit nur ganz wenigen Ausnahmen brillanten Sängerschauspieler bis hin zu einer geistreichen und literarisch beschlagenen Regie, die mit Thomas Mann Figuren spielt und diese ironisch verfremdet – mit  einem Blinzeln hin zum Publikum, das zur Mitwirkung im literarischen Spiel eingeladen ist, das die Übermalungen der Wagner Figuren erkennen  und  Wagner gleichsam als Thomas Mann Leser sehen soll. Eine anachronistische Lesart, die neues Bedeutungspotential erschließt. Da wird aus dem Walküre Wotan ein gebrochener Thomas Buddenbrook, ein Wotan, den wie sein Bruder im Geiste das Ende nicht mehr schreckt, seit er es selber will. Gunther präsentiert sich bei seinem ersten Auftritt als schwuler Clown Christian Buddenbrook, und die zickige Gutrune verweist auf die naiv durchtriebene Tony. Natürlich fehlen nicht die Wälsungenblut Geschwister, denen allerdings von Glanz und Dekadenz und Reichtum nichts mehr geblieben ist: der geliebte Bruder kehrt als Borcherts Kriegsheimkehrer Beckmann zurück, und Sieglinde ist zur verhuschten kleinen Hausfrau geworden und das Spottobjekt der Geschwister, der Sieglinde zugedachte Ehemann, ist  in seiner Rolle als Hunding zur Shylock  Karikatur mutiert. Im Siegfried sind wir dann wieder ganz bei Thomas Mann: in der Zauberberg Klinik, dem ausschließlichen Ort der Handlung. Mime, der „weise Zwerg“ hat es zum  Chefarzt gebracht, Alberich zum debilen Militär, der im Rollstuhl von der Weltherrschaft träumt, Fasolt ist ein übergewichtiger, misslauniger alter Mann, der in einem riesigen Bett in einem Extrazimmer thront. Wotan ist ein in die Jahre gekommener Rocker, der wohl der heimliche Boss der Klinik ist und dem  die aufreizende Oberschwester (bei Wagner das Waldvöglein) zu Diensten ist. Siegfried ist so eine Art Hausfaktotum, das durch die Klinikräume stürmt, ein kräftiger Zauberberg Bediensteter, der mit seinem Ungestüm allerlei Unheil anrichtet – sanft geleitet von der Oberschwester.  Brünnhilde schläft im Turmzimmer der Klinik und träumt wohl von der inzestuösen Liebe zu Vater Wotan: kaum hat das Enfant terrible Siegfried  sie‚erweckt’, da steckt sie diesen gleich in Papas Generalsmantel und setzt ihm dessen Mütze auf, dem armen Siegfried, der gelangweilt herumsteht und endlich zur ’Sache kommen’ will. Das berühmte Finale: eine ironisch verzerrte Liebesszene – vielleicht eine Parodie auf den ‚Höhepunkt’ im Wälsungenblut. Natürlich gelingen die Verweise nicht immer oder sind für literarisch Unbedarfte nicht zu erkennen. „Allein, was tut’s“. Der Lübecker Ring ist ein Kabinettsstück der literarischen Verweise, geistreich, unterhaltsam,  ironisch gebrochen und berauschend alle Male. Wagner liest Thomas Mann und Borchert und… – Wir sahen das Rheingold am 20. Mai. Die Walküre am 22. Mai. Siegfried am 27. und Götterdämmerung  am 29. Mai.