In der Rue Daguerre. Die Bohème entdeckt Daguerre und die Fotographie – und verliert ihre Unschuld. Barrie Kosky inszeniert La Bohème an der Komischen Oper Berlin

So unendlich viele Male ist La Bohème schon in Szene gesetzt worden. So viele Schluchzer und Tränen hat das quälend-langsame  Sterben der armen Mimi schon ausgelöst, dass unseren berühmten Theatermacher wohl Verzweiflung überkam, als ihm die Aufgabe zufiel, La Bohème zu inszenieren. Verzweifelt suchte er wohl nach Originalität – und wurde fündig in der Geschichte der Fotographie. Daguerres Erfindung der Daguerreotypien bot im Gegensatz zur Malerei ganz neue und ganz schnelle Möglichkeiten der Darstellung und Selbstdarstellung.

Diese neue Möglichkeiten nutzt die Regie und macht aus dem Maler Marcel einen Fotografen   und aus dessen Freunden, allen voran dem Poeten Rodolfo und der Näherin Mimi,  selbstverliebte Selfifans, die sich bei jeder Gelegenheit als Objekte der Fotographie inszenieren. Sie hören auf, authentische Figuren zu sein. Bei allem Singen und Agieren achten sie darauf, in welcher Pose sie auf die Platte gebannt werden können. Erster Höhepunkt dieses Hangs zur Pose ist gleich das berühmte „Che gelida manina“ –  Duett im ersten Bild. Während Mimi ihre Geschichte erzählt, sich vorstellt, sitzt sie in Aufnahmepose auf dem Stuhl des Fotografen. Rodolfo nimmt sie auf, ist nur mit dem Apparat beschäftigt und achtet gar nicht auf das, was sie ihm erzählt.

Selbst die Sterbeszene ist Pose. Wieder setzt Mimi auf dem Stuhl des Fotografen. Rodolfo hält sie, damit sie nicht zu schnell vorn über fällt, nicht stirbt, bevor die Aufnahme im Kasten ist. Alles ist Pose, einstudierte Pose, nichts ist authentisch. Das ‚Reale‘ ist im Wortverstande ausgeblendet. Liebe und Tod, Eifersucht und Streit, Dichten und Malen und Feiern, alles ist Pose, gestellt für das neue Medium der Fotographie. Sie spielen Literat, Maler, Philosoph, Grisette. Sie sind es gar nicht und fliehen entsetzt, als mit Mimis Tod die ‚Wirklichkeit‘ sie einholt, fliehen ins Dunkle, ins Nichts und lassen die Tote als Modell auf dem Stuhl des Fotografen zurück… → weiterlesen

„Glück, das mir verblieb“. Robert Carsen inszeniert Korngold, Die tote Stadt als szenisches Potpourri an der Komischen Oper

Bei Theatermacher Carsen geht es drastisch und plakativ zu. Hier ist der um seine jung verstorbene Frau Trauernde kein Hypochonder, kein von Melancholie und Depressionen Geschlagener, sondern ein hochgradiger Psychopath, der den Totenkult um die  verstorbene Marie zur Obsession, zur Paranoia gesteigert hat und unter  Betreuung von Arzt und Krankenschwester sich in der Klinik das einstige gemeinsame Schlafzimmer  wieder eingerichtet, es mit Ikonen der Erinnerung  ausgeschmückt, sich eine „Kirche des Gewesenen“ geschaffen hat.

Einen Wendepunkt im Totenkult und in den exzessiven Wahnvorstellungen bildet die Begegnung, die wahnhafte Begegnung, mit einer anderen Frau. Marietta, in der der Kranke eine Wiedergängerin der Toten zu erkennen meint, eine zu seinem Entsetzen höchst irdische, erotisierende und ihn sexuell  faszinierende Variante seiner Marie. … → weiterlesen

Leid und Liebe und ein halbes Happy End. Damiano Michieletto inszeniert Massenet, Cendrillon an der Komischen Oper

Keine glitzernden Koloraturen, kein strahlendes Finale mit obligatorischer Bravourarie der Primadonna wie bei Rossinis Cenerentola, keine versoffenen Banker auf der Szene wie in der Stuttgarter Rossini Inszenierung.

Massenets Aschenputtel Variante vom Jahre 1899 steht Rossini fern. Zur Musik, ich hatte Cendrillon nie zuvor gehört, geschweige denn auf der Bühne gesehen, mag und kann ich nichts sagen. Eine gefällige, spätromantische Musik? Wohl auch ein bisschen Kitsch? Massenet –  so Maestro Henrik Nánási im Programmheft –  sei „ein handwerklich unglaublich professioneller Komponist von großer Könnerschaft: Harmonik, Form und Orchestrierung bilden eine Einheit“(p. 13).  Das mag schon so sein.

Sprechen wir lieber von der der Inszenierung. Sie hat alles, was man von Michieletto kennt und auch erwartet: Witz, Komik und Groteske und eine neue Geschichte  und als Zugabe noch eine Prise Kitsch.… → weiterlesen

Ein sich immerfort drehender Reigen von Arien und fraktalen Bildzitaten. Giulio Cesare in Egitto an der Komischen Oper

Nach der so spektakulären Don Giovanni Komödie, die wir kürzlich dort gesehen haben und nach dem in Szene und Musik nicht minder grandiosen Giulio Cesare glaube ich gern, dass  die Komische Oper unter den Musiktheatern zu den ersten Häusern zählt. Hier singt und spielt ein durchweg hochkarätiges Ensemble. Auf der Szene ereignet sich großes Theater: unverstaubt, ungewöhnlich in der Konzeption, aufgeschlossen, voller Witz, unterhaltsam und zugleich anspruchsvoll. Theater, Musiktheater, das begeistert und fasziniert, das an die Imagination des Zuschauers appelliert und das nicht zuletzt auch zum Widerspruch provoziert.… → weiterlesen

Deconstructing Max und die Männlichkeitsrituale gleich mit. Der Freischütz an der Komischen Oper Berlin

Ein schärferer Kontrast ist kaum denkbar. Am Freitagabend sahen wir in Madrid eine klassisch stilisierte, der Ästhetik des Schönen verpflichtete Clemenza di Tito, bei der alle Leidenschaft, so bedrohlich sie auch sein mag, doch immer maßvoll bleibt, eine Inszenierung, die in keinem Augenblick gegen die Konventionen verstößt oder gar das Publikum in seinen Vorstellungen und Erwartungen schockiert und provoziert. Am Sonntagabend sahen wir in Berlin einen den Trash stilisierenden, der Ästhetik des Hässlichen verpflichteten Freischütz, bei dem alle Leidenschaft bedrohlich und tödlich, sadistisch und pervers wird, sich maßlos austobt, eine Inszenierung, die permanent gegen die Konventionen verstößt, die das Publikum ständig provoziert und schockiert – und es glänzend unterhält.… → weiterlesen

Groteske Märchenfiguren im Metatheater. Andreas Homoki ‚karnevalisiert’ die Meistersinger an der Komischen Oper

Theatermacher Homoki kennt seinen Bachtin seit vielen Jahren: seit seiner Zauberflöte in Köln, seit seinen Königskindern in München, seit…, ich weiß nicht seit wie vielen Jahren. Und stets weiß er die Bachtinschen Kategorien von der Karnevalisierung der Literatur – vor allem die vom „grotesken Leib“ hat es ihm angetan –  brillant und unterhaltsam in Szene zu setzen. So jetzt auch in Berlin. Seine Meistersinger mit ihren unförmigen Leibern scheinen geradezu geklonte Wilhelm Busch Figuren zu sein. Und das Nürnberger Volk könnte durchaus ein rheinischer Karnevalsverein auf Betriebsausflug sein. Der verständnisvolle Edelproletarier Hans Sachs  mit seinem Schnurrbärtchen, seiner Schusterschürze, seinem Proletenkäppi  ist wohl dem Museum für Handwerker Karikaturen entlaufen und hätte auch auf einem Karnevalswagen hereingefahren werden können. Doch das hätte das Publikum wohl zu sehr irritiert. Im Vergleich mit den Nürnberger Singern sind der Junker von Stolzing in seinem Military Look und Eva in ihrem braven Glockenröckchen geradezu wohlwollende Karikaturen. All das, was sich da auf der Bühne tummelt, das ist alles sehr hübsch anzusehen, ist unterhaltsam und provoziert in keinem Augenblick. Und man braucht auch noch nie etwas von Bachtin und seinen Karnevalskategorien gehört zu haben, um an dieser Karnevalskomödie, zu der Theatermacher Homoki Wagners Meistersinger hindreht, nicht seinen Spaß zu haben. Zwar kennt unser berühmter Theatermacher und hoch gehandelte Intendant außer dem von ihm so sehr verinnerlichten Bachtin auch die  auf allen Bühnen  längst üblichen Metatheater Klischees. Doch auch wir im Publikum kennen diese Gags bis zum Überdruss, und sie beginnen uns zu langweilen: die bis zu den Brandmauern offene Bühne, die stets sichtbaren Theatermaschinen, die Kulissen, die herbei geschoben werden, die Signale, die dem Publikum auf diese Weise vermittelt werden: Achtung! Wir spielen Theater. Alles sind nur Illusionen, die nichts mit der ‚Welt da draußen’ zu tun haben. Theater ereignet sich allein in Euren Köpfen, in Euren Imaginationen. Diese Pseudobelehrungen, die wohl von fern an einen Dramatiker aus der Nachbarschaft erinnern sollen, das ist doch Schnee vom vergangenen Jahr. Sie zitieren, sehr geehrter Herr Intendant, in Ihrem Programmheft mit feiner, mit unfreiwilliger(?) Ironie Wagners bekanntes Diktum: „Kinder! Macht Neues! Neues! […]“.Gilt dieser Satz nicht auch für Ihre Komische Oper? Bachtin plus Metatheater. Ist das als Konzeption nicht ein bisschen zu wenig? In Leipzig hat man Wagners Diktum ernst genommen. Dort schreibt man die Meistersinger neu, erzählt sie als die Geschichte von der Endphase einer maroden und verknöcherten Gesellschaft und ihrer Neukonstituierung als oberflächliche Spaßgesellschaft. Vielleicht schauen Sie sich einmal bei Gelegenheit die dortige Inszenierung an. Wie dem auch sei. Trotz der Einwände, die man gegen Ihre Inszenierung vorbringen könnte, hat mir der Abend in Ihrem Haus gefallen. Wie Sie die Indisposition der drei Hauptpersonen mit zwei brillant von der Seitenbühne singenden Ensemblemitgliedern und  mit einem Star wie Jeffrey Dowd, der die gesamte Rolle des Stolzing von  der Seitenbühne her sang, aufgefangen haben, wie dieses scheinbare Manko die Vorstellung kaum oder eigentlich gar nicht beeinträchtigte, das ist bewundernswert und spricht für die Qualität Ihres Hauses. Wir sahen die Vorstellung am 26. Dezember 2010, die laut Programmheft achte Aufführung seit der Premiere am 26. Dezember 2010.