Groteske Märchenfiguren im Metatheater. Andreas Homoki ‚karnevalisiert’ die Meistersinger an der Komischen Oper

Theatermacher Homoki kennt seinen Bachtin seit vielen Jahren: seit seiner Zauberflöte in Köln, seit seinen Königskindern in München, seit…, ich weiß nicht seit wie vielen Jahren. Und stets weiß er die Bachtinschen Kategorien von der Karnevalisierung der Literatur – vor allem die vom „grotesken Leib“ hat es ihm angetan –  brillant und unterhaltsam in Szene zu setzen. So jetzt auch in Berlin. Seine Meistersinger mit ihren unförmigen Leibern scheinen geradezu geklonte Wilhelm Busch Figuren zu sein. Und das Nürnberger Volk könnte durchaus ein rheinischer Karnevalsverein auf Betriebsausflug sein. Der verständnisvolle Edelproletarier Hans Sachs  mit seinem Schnurrbärtchen, seiner Schusterschürze, seinem Proletenkäppi  ist wohl dem Museum für Handwerker Karikaturen entlaufen und hätte auch auf einem Karnevalswagen hereingefahren werden können. Doch das hätte das Publikum wohl zu sehr irritiert. Im Vergleich mit den Nürnberger Singern sind der Junker von Stolzing in seinem Military Look und Eva in ihrem braven Glockenröckchen geradezu wohlwollende Karikaturen. All das, was sich da auf der Bühne tummelt, das ist alles sehr hübsch anzusehen, ist unterhaltsam und provoziert in keinem Augenblick. Und man braucht auch noch nie etwas von Bachtin und seinen Karnevalskategorien gehört zu haben, um an dieser Karnevalskomödie, zu der Theatermacher Homoki Wagners Meistersinger hindreht, nicht seinen Spaß zu haben. Zwar kennt unser berühmter Theatermacher und hoch gehandelte Intendant außer dem von ihm so sehr verinnerlichten Bachtin auch die  auf allen Bühnen  längst üblichen Metatheater Klischees. Doch auch wir im Publikum kennen diese Gags bis zum Überdruss, und sie beginnen uns zu langweilen: die bis zu den Brandmauern offene Bühne, die stets sichtbaren Theatermaschinen, die Kulissen, die herbei geschoben werden, die Signale, die dem Publikum auf diese Weise vermittelt werden: Achtung! Wir spielen Theater. Alles sind nur Illusionen, die nichts mit der ‚Welt da draußen’ zu tun haben. Theater ereignet sich allein in Euren Köpfen, in Euren Imaginationen. Diese Pseudobelehrungen, die wohl von fern an einen Dramatiker aus der Nachbarschaft erinnern sollen, das ist doch Schnee vom vergangenen Jahr. Sie zitieren, sehr geehrter Herr Intendant, in Ihrem Programmheft mit feiner, mit unfreiwilliger(?) Ironie Wagners bekanntes Diktum: „Kinder! Macht Neues! Neues! […]“.Gilt dieser Satz nicht auch für Ihre Komische Oper? Bachtin plus Metatheater. Ist das als Konzeption nicht ein bisschen zu wenig? In Leipzig hat man Wagners Diktum ernst genommen. Dort schreibt man die Meistersinger neu, erzählt sie als die Geschichte von der Endphase einer maroden und verknöcherten Gesellschaft und ihrer Neukonstituierung als oberflächliche Spaßgesellschaft. Vielleicht schauen Sie sich einmal bei Gelegenheit die dortige Inszenierung an. Wie dem auch sei. Trotz der Einwände, die man gegen Ihre Inszenierung vorbringen könnte, hat mir der Abend in Ihrem Haus gefallen. Wie Sie die Indisposition der drei Hauptpersonen mit zwei brillant von der Seitenbühne singenden Ensemblemitgliedern und  mit einem Star wie Jeffrey Dowd, der die gesamte Rolle des Stolzing von  der Seitenbühne her sang, aufgefangen haben, wie dieses scheinbare Manko die Vorstellung kaum oder eigentlich gar nicht beeinträchtigte, das ist bewundernswert und spricht für die Qualität Ihres Hauses. Wir sahen die Vorstellung am 26. Dezember 2010, die laut Programmheft achte Aufführung seit der Premiere am 26. Dezember 2010.

Kitsch im Doppelpack oder vom „Dichter der Liebe und des Volkes“. Il Postino von Daniel Catán am Theater an der Wien

Kitsch im Doppelpack oder vom „Dichter der Liebe und des Volkes“. Il Postino von Daniel Catán am Theater an der Wien

„Eine Oper auf Spanisch“, so lässt er uns im Programmheft wissen, wollte Daniel Catán, in Personalunion Komponist und Librettist,  schaffen. Herausgekommenen ist dabei eine Art Zarzuela Verschnitt ohne happy end, ein Gebräu aus zuckrigem altehrwürdigem Puccini Sound, bei dem der Sirup nur so von der Bühne heruntertropft und im Publikum  den Damen mittleren Alters vor lauter Rührung die Tränen kommen. Kitsch Nummer eins: die Musik. Kitsch Nummer zwei  das Libretto. Da hat doch der kleine Postler (il postino)  den großbürgerlichen Literaten Neruda kennen gelernt, der auf einer kleinen Insel im Mittelmeer sein luxuriöses Exil erleidet, Liebesgedichte schreibt, die nackte Schönheit seiner Geliebten preist und diese gleich in der ersten Szene mit Worten und Händen entkleidet. Zwar meinte einstens ein gewisser Mallarmé, dass man Gedichte mit Worten mache. Aber  – so haben wir jetzt gelernt – auf dem Theater braucht man dazu auch die Hände und natürlich eine attraktive Muse. Der arme Postler erfährt im Zusammensein mit dem großen Poeten etwas von der Macht der „metáfora“. Oder sagen wir besser: er erfährt etwas von der Macht der „Fragments d’un discours amoureux“, davon, dass  sich mit  schönen Worten eine schöne Frau erobern lässt und das erst recht, wenn diese Beatrice heißt. Und all dieser Brei, der da aus Materialien des gleichnamigen Erfolgsfilms zusammengerührt wird, der sei,  so meinte mancher im Publikum,  so richtig ‚romantisch’. Leider ist dem nicht so. Auf der Bühne wird trotz all der schönen Neruda Verse, die da zitiert werden, nur Nichtauthentisches produziert. Mit anderen Worten: Kitsch. Ein heiterer süßlicher Kitsch indes. Eine Geschichte von junger Liebe verbunden mit der Geschichte von der patriarchalisch herablassenden Freundschaft des großbürgerlichen linken Intellektuellen zu einem armen naiven Schlucker, der mit Hilfe der schönen Worte, die der Intellektuelle zu produzieren weiß, sein Mädchen kriegt. Ein schöner, ein scheinbar ungefährlicher Kitsch, dieser Kitsch Nummer zwei. Ärgerlich ist nur,  dass der Librettist auch noch den Revolutionskitsch hineinrühren musste. Dem kleinen Freund des großen Literaten wird nicht nur eine Einführung in die Sprache der Liebe, sondern auch ein Crashkurs in  Revolutionsrhetorik zuteil. Und die Folgen sind fatal, nein: letal. Der Postino wird bei einer Demonstration, als er gerade ein Gedicht zu Ehren seines großen Freundes zitieren will, von einem der Schwarzhemden erschossen. Und der Intellektuelle (der Verführer? der Mentor?) steht, als er Jahre später die Nachricht vom gewaltsamen Tode seines kleinen Freundes erfährt, nur betroffen herum. Revolutionskitsch? Ich denke schon. Wie dem auch sei. Im Theater an der Wien ist ein etwas betulicher, doch noch immer brillant singender  Plácido Domingo  in der Rolle des Poeten Neruda zu bewundern, ein Domingo, mit dem Amanda Squitieri als Beatrice und Israel Lozano als Postino durchaus mithalten können. Vom Produktionsteam mag man das nur mit Zurückhaltung sagen. Jegliche Ironie, mit der sich die Süßlichkeit der Musik und die Pseudoromantik des Librettos zumindest ein wenig konterkarieren  ließen,  liegt diesem gänzlich fern. So wurde denn in aller Biederkeit, in durchaus gekonnter Biederkeit, ein naives Opus für sentimentale Seelen in Szene gesetzt. Ein schöner Abend, ein heiterer Abend. Eine Musik – die Uraufführung war im Jahre 2010 (!) – die keinerlei Ansprüche an den Zuhörer stellt. Eine Inszenierung, die den Zuschauer nicht verärgert. Ein Star auf der Bühne, den man schon immer einmal live erleben wollte. Und bei der Oper  muss es ja nicht immer gleich Wagner oder Strauss oder Henze sein. Manchmal tut es auch ein Daniel Catán. Wir sahen die Vorstellung am 18. Dezember 2010. Die Premiere, die „europäische Erstaufführung“, war am 9. Dezember.

Intermedialitätsrevue unter Schwulen. The Rake’s Progress in der Staatsoper im Schillertheater

Intermedialitätsrevue unter Schwulen. The Rake’s Progress in der Staatsoper im Schillertheater

Strawinsky mag ich eigentlich nicht sonderlich. Und ganz unerträglich erscheint mir das Libretto: dieser Mischmasch aus armseligem Faustjüngelchen, impotentem Don Giovanni, ewig-weiblichem Erlösungsdrang, sozialkritischem  Quark und Brecht ‚Verfremdung“. Doch wenn Metzmacher dirigiert, Warlinowski, der in München vor ein paar Jahren Eugen Onegin als grandios-effektvolle Schwulenoper in Szene gesetzt hatte, inszeniert und wenn noch dazu die Besetzung viel versprechend ist (und man überdies sowieso gerade in Berlin ist), ja dann meint man etwas zu versäumen, wenn man nicht zur Neuproduktion von The Rake’s Progress geht (Die Premiere war am 10.Dezember. Wir sahen die Aufführung am 12. Dezember). Ich hätte nicht viel versäumt, wenn ich zu Hause geblieben wäre. Kein Zweifel, dass brillant gesungen und gespielt wurde und sicherlich wurde auch dem entsprechend musiziert. Mir allerdings kam alles ein bisschen langweilig vor – der unmaßgebliche Eindruck einer Dilettantin.  Langweilig ging es auch auf der Bühne zu. Ja, warum soll man nicht eine Strawinsky Oper  als Revue Theater, als Theater auf dem Theater, als Video Show, als Studioaufnahme für einen Fernsehfilm, bei dem die Studiogäste auf der Bühne gleich mitspielen dürfen, als trianguläre Beziehungskiste unter Schwulen (der Jüngling, der Verführer, der Transvestit) in Szene setzen. Warum soll man nicht die Andy Warhol Kiste aufmachen und dessen Popfiguren sich auf der Bühne tummeln lassen. Warum soll man nicht Film- und Theaterfiguren wiederauferstehen lassen und diese parodieren: so wird aus dem Idol James Dean ein kümmerlicher Schwächling (der Protagonist Tom Rakewell), da erinnert in der Friedhofsszene der Verführer Nick Shadow von ferne an den Gründgens Mephisto (es fehlt nur die weiße Schminke im Gesicht), da scheint die erlösungssüchtige  Anne gerade aus einer Probe  zu Brecht/Weill Die Sieben Todsünden der Kleinbürger herüber gelaufen zu sein.  All das ist hübsch anzusehen und anfangs auch recht unterhaltsam. Der technische Aufwand, der betrieben wird, ist bewundernswert. Lichtregie und Statisterie kommen kaum zur Ruhe.  Und trotzdem: auf die Dauer wirkt das alles ein bisschen öd und fad. Aber wie gesagt: ich bin eben kein Strawinsky Fan. Vielleicht ist dies auch der Grund, warum es mir nicht sonderlich gefallen hat. Ein Renner für die Berliner Staatsoper wird The Rake’s Progress wohl ohnehin nicht. Schon die zweite Vorstellung war nur mäßig besucht.

Geschichten aus dem Honecker-Land. Die Meistersinger von Nürnberg an der Oper Leipzig

Geschichten aus dem Honecker-Land. Die Meistersinger von Nürnberg an der Oper Leipzig

In Leipzig liebt man es, Wagner Opern auf verblichene DDR Folien zu projizieren. Den Rienzi erzählte man vor ein paar Jahren als Parabel vom Aufstieg und Fall eines Spitzenfunktionärs. Eine Regiekonzeption, die im Leipziger Opernhaus, das all der Restaurierungen und Umbauten der letzten Jahre zum Trotz den stalinistischen Zuckerbäcker Stil  der späten 50er Jahre nicht abstreifen kann, die Zugereisten geradezu frösteln ließ. Und jetzt „anlässlich des 50jährigen Jubiläums der Einweihung des neuen Opernhauses“ schreibt man die Meistersinger neu, erzählt sie als die Geschichte von der Endphase einer maroden und verknöcherten Gesellschaft und ihrer Neukonstituierung als oberflächliche Spaßgesellschaft. Und wie schon im Rienzi geht die Konzeption auch bei den Meistersingern auf und fasziniert geradezu mit ihrer Kohärenz und Konsequenz. Kein biederes Butzenscheiben Nürnberg, kein gotischer Kirchenraum, keine spätmittelalterlichen Zunftherren, keine Gesellen, keine Lehrlinge, keine züchtige Maid, kein edler Rittersmann, nichts von all dem historischen Plunder ist auf der Bühne zu sehen. Aus der Kirchenhalle ist ein schäbiger Versammlungsraum geworden, in dem der Bachchor der Stadt gerade Choräle probt und den in der nächsten Szene  eine Brigade Dienstpersonal in grauen Kitteln für eine Art Politbüro Sitzung herrichtet. Und als biedere, selbstzufriedene ältere Herren treten auch die Funktionäre auf (bei Wagner die Meistersinger). Hans Sachs ist eine Art Reformer inmitten des Systems, der die verkrusteten Strukturen und Denkweisen ein wenig aufbrechen will, ohne indes das System in Frage stellen zu wollen. Beckmesser ist der systemkonforme Intellektuelle, für den alles, was sich außerhalb des Systems tut, des Teufels ist. Und Stolzing ist der elegante und arrogante Westler, der den verknöcherten  Herren vom Politbüro das Neue vermitteln will und der mit seinem Stil und mit seiner Arroganz nur auf Unverständnis stößt.  Eva hat nichts von einer verhuschten Maid. Ganz im Gegenteil. Sie ist sich schon zur Ouvertüre mit dem Westler einig, wickelt den Sachs um den Finger und bringt ihn beinahe um den Verstand. Die jungen Damen im Honeckerland – das haben wir im Publikum ganz schnell begriffen – sind halt clevere emanzipierte Damen, auch wenn sie sich als Dorfschönheiten verkleiden. In diesem Milieu brauchen wir auch keinen Fliederbaum und keine Johannisnacht. Es genügt eine spießige Bar (vielleicht die Kantine des Opernhauses?) mit roten Lämpchen. Dass das Politbüromitglied Sachs in dieser Bar allerdings auch noch Schuhe reparieren muss, daran ist wohl der Librettist Wagner schuld.  Vielleicht haben den Querkopf die Genossen auch für eine Nacht in die Produktion geschickt. Wer will das schon wissen. Mit anderen Worten: im zweiten Akt hackt es ein bisschen. Da geht das Konzept von der maroden Honecker Gesellschaft  nicht so richtig auf. Dafür wirkt es dann im dritten Akt umso plausibler. Sachs und Stolzing hocken zum spießigen Frühstück in einem verfallenen Trümmergrundstück und basteln sich gemeinsam das Preislied zusammen. Der linientreue Funktionär Beckmesser, der in der Nacht zuvor in der Bar vom Brigadier David einen Schlag auf den Kopf bekommen hat, ist wohl noch nicht ganz bei Bewusstsein: er fuchtelt mit der Pistole herum und sieht sich im Wahn als von Eva zur Lust Verführter. Den Aufzug der Zünfte und der Meistersinger – die heikle Festwiesenszene –  erlebt Sachs als Albtraum und Wahnvorstellung: als Aufzug nazistischer Corps-Studenten und als Tanz der Kollektive der einstigen „Freien deutschen Jugend“ (Achtung: Verweis auf die Rezeptionsgeschichte). Aus Wahn und Albtraum weckt ihn die Festgesellschaft, die neue elegante Spaßgesellschaft, die den Star aus dem Westen feiert, den unbeholfenen einst linientreuen Intellektuellen Beckmesser auslacht und für die die  Rede des Hans Sachs auf die deutsche Kunst und die Meistersinger nur lästiges Geschwätz von gestern ist, das den Small Talk auf der Party stört. Kein Wunder, dass den armen Sachs da der Schlag trifft, dass ihn der Notarzt mit seinen Sanitätern schnell fortschafft und dass der Linientreue sich noch schnell mit dem nicht mehr gefragten Systemkritiker versöhnt. Beide sind sie halt hoffnungslose Fälle. Männer aus der Welt von gestern, für die die moderne Gesellschaft der Angepassten keinen Platz mehr hat.

Eine Neuerzählung der Meistersinger (Inszenierung Jochen Biganzoli), die – abgesehen von einigen Unstimmigkeiten im zweiten Akt  – überzeugt und fasziniert, die, ohne je aufdringlich zu sein oder gar in plakative Brechtmanier zu verfallen, ein bisschen „Vergangenheitsbewältigung“ betreibt und die doch immer in den Grenzen der Komödie bleibt. Sind sie doch  alle, die da auf der Bühne agieren, mag man auch dem Sachs einen Anflug von Tragik zubilligen, letztlich nur komische Gestalten: das blonde Funktionärstöchterchen im roten Kleid mit weißem Spitzenkragen, der Herr von Stolzing im weißen Aschenbach Anzug mit weißem Sonnenhut, der sich proletenhaft gebende Macho Sachs, die Meistersinger-Politbüro Ideologen, die sich so schnell der neuen Zeit anzupassen wissen.  Gesungen und musiziert wurde  auf hohem Niveau. (Aus München hatte man sich Wolfgang Brendel für die Rolle des Hans Sachs geholt. Doch auch seine von dorther angereisten Groupies konnten das nur schwach besuchte Haus nicht füllen). Vielleicht war die Wagner Droge, die aus dem Orchestergraben gereicht wurde, ein wenig schwach dosiert. „Allein, was tut’s“. Wir müssen ja nicht immer gleich ‚berauscht’ nach Hause ziehen. Wir sahen die Vorstellung am 11. Dezember 2010. Die Premiere war am 9. Oktober 2010.