Geschichten aus dem Honecker-Land. Die Meistersinger von Nürnberg an der Oper Leipzig
In Leipzig liebt man es, Wagner Opern auf verblichene DDR Folien zu projizieren. Den Rienzi erzählte man vor ein paar Jahren als Parabel vom Aufstieg und Fall eines Spitzenfunktionärs. Eine Regiekonzeption, die im Leipziger Opernhaus, das all der Restaurierungen und Umbauten der letzten Jahre zum Trotz den stalinistischen Zuckerbäcker Stil der späten 50er Jahre nicht abstreifen kann, die Zugereisten geradezu frösteln ließ. Und jetzt „anlässlich des 50jährigen Jubiläums der Einweihung des neuen Opernhauses“ schreibt man die Meistersinger neu, erzählt sie als die Geschichte von der Endphase einer maroden und verknöcherten Gesellschaft und ihrer Neukonstituierung als oberflächliche Spaßgesellschaft. Und wie schon im Rienzi geht die Konzeption auch bei den Meistersingern auf und fasziniert geradezu mit ihrer Kohärenz und Konsequenz. Kein biederes Butzenscheiben Nürnberg, kein gotischer Kirchenraum, keine spätmittelalterlichen Zunftherren, keine Gesellen, keine Lehrlinge, keine züchtige Maid, kein edler Rittersmann, nichts von all dem historischen Plunder ist auf der Bühne zu sehen. Aus der Kirchenhalle ist ein schäbiger Versammlungsraum geworden, in dem der Bachchor der Stadt gerade Choräle probt und den in der nächsten Szene eine Brigade Dienstpersonal in grauen Kitteln für eine Art Politbüro Sitzung herrichtet. Und als biedere, selbstzufriedene ältere Herren treten auch die Funktionäre auf (bei Wagner die Meistersinger). Hans Sachs ist eine Art Reformer inmitten des Systems, der die verkrusteten Strukturen und Denkweisen ein wenig aufbrechen will, ohne indes das System in Frage stellen zu wollen. Beckmesser ist der systemkonforme Intellektuelle, für den alles, was sich außerhalb des Systems tut, des Teufels ist. Und Stolzing ist der elegante und arrogante Westler, der den verknöcherten Herren vom Politbüro das Neue vermitteln will und der mit seinem Stil und mit seiner Arroganz nur auf Unverständnis stößt. Eva hat nichts von einer verhuschten Maid. Ganz im Gegenteil. Sie ist sich schon zur Ouvertüre mit dem Westler einig, wickelt den Sachs um den Finger und bringt ihn beinahe um den Verstand. Die jungen Damen im Honeckerland – das haben wir im Publikum ganz schnell begriffen – sind halt clevere emanzipierte Damen, auch wenn sie sich als Dorfschönheiten verkleiden. In diesem Milieu brauchen wir auch keinen Fliederbaum und keine Johannisnacht. Es genügt eine spießige Bar (vielleicht die Kantine des Opernhauses?) mit roten Lämpchen. Dass das Politbüromitglied Sachs in dieser Bar allerdings auch noch Schuhe reparieren muss, daran ist wohl der Librettist Wagner schuld. Vielleicht haben den Querkopf die Genossen auch für eine Nacht in die Produktion geschickt. Wer will das schon wissen. Mit anderen Worten: im zweiten Akt hackt es ein bisschen. Da geht das Konzept von der maroden Honecker Gesellschaft nicht so richtig auf. Dafür wirkt es dann im dritten Akt umso plausibler. Sachs und Stolzing hocken zum spießigen Frühstück in einem verfallenen Trümmergrundstück und basteln sich gemeinsam das Preislied zusammen. Der linientreue Funktionär Beckmesser, der in der Nacht zuvor in der Bar vom Brigadier David einen Schlag auf den Kopf bekommen hat, ist wohl noch nicht ganz bei Bewusstsein: er fuchtelt mit der Pistole herum und sieht sich im Wahn als von Eva zur Lust Verführter. Den Aufzug der Zünfte und der Meistersinger – die heikle Festwiesenszene – erlebt Sachs als Albtraum und Wahnvorstellung: als Aufzug nazistischer Corps-Studenten und als Tanz der Kollektive der einstigen „Freien deutschen Jugend“ (Achtung: Verweis auf die Rezeptionsgeschichte). Aus Wahn und Albtraum weckt ihn die Festgesellschaft, die neue elegante Spaßgesellschaft, die den Star aus dem Westen feiert, den unbeholfenen einst linientreuen Intellektuellen Beckmesser auslacht und für die die Rede des Hans Sachs auf die deutsche Kunst und die Meistersinger nur lästiges Geschwätz von gestern ist, das den Small Talk auf der Party stört. Kein Wunder, dass den armen Sachs da der Schlag trifft, dass ihn der Notarzt mit seinen Sanitätern schnell fortschafft und dass der Linientreue sich noch schnell mit dem nicht mehr gefragten Systemkritiker versöhnt. Beide sind sie halt hoffnungslose Fälle. Männer aus der Welt von gestern, für die die moderne Gesellschaft der Angepassten keinen Platz mehr hat.
Eine Neuerzählung der Meistersinger (Inszenierung Jochen Biganzoli), die – abgesehen von einigen Unstimmigkeiten im zweiten Akt – überzeugt und fasziniert, die, ohne je aufdringlich zu sein oder gar in plakative Brechtmanier zu verfallen, ein bisschen „Vergangenheitsbewältigung“ betreibt und die doch immer in den Grenzen der Komödie bleibt. Sind sie doch alle, die da auf der Bühne agieren, mag man auch dem Sachs einen Anflug von Tragik zubilligen, letztlich nur komische Gestalten: das blonde Funktionärstöchterchen im roten Kleid mit weißem Spitzenkragen, der Herr von Stolzing im weißen Aschenbach Anzug mit weißem Sonnenhut, der sich proletenhaft gebende Macho Sachs, die Meistersinger-Politbüro Ideologen, die sich so schnell der neuen Zeit anzupassen wissen. Gesungen und musiziert wurde auf hohem Niveau. (Aus München hatte man sich Wolfgang Brendel für die Rolle des Hans Sachs geholt. Doch auch seine von dorther angereisten Groupies konnten das nur schwach besuchte Haus nicht füllen). Vielleicht war die Wagner Droge, die aus dem Orchestergraben gereicht wurde, ein wenig schwach dosiert. „Allein, was tut’s“. Wir müssen ja nicht immer gleich ‚berauscht’ nach Hause ziehen. Wir sahen die Vorstellung am 11. Dezember 2010. Die Premiere war am 9. Oktober 2010.