So unendlich viele Male ist La Bohème schon in Szene gesetzt worden. So viele Schluchzer und Tränen hat das quälend-langsame Sterben der armen Mimi schon ausgelöst, dass unseren berühmten Theatermacher wohl Verzweiflung überkam, als ihm die Aufgabe zufiel, La Bohème zu inszenieren. Verzweifelt suchte er wohl nach Originalität – und wurde fündig in der Geschichte der Fotographie. Daguerres Erfindung der Daguerreotypien bot im Gegensatz zur Malerei ganz neue und ganz schnelle Möglichkeiten der Darstellung und Selbstdarstellung.
Diese neue Möglichkeiten nutzt die Regie und macht aus dem Maler Marcel einen Fotografen und aus dessen Freunden, allen voran dem Poeten Rodolfo und der Näherin Mimi, selbstverliebte Selfifans, die sich bei jeder Gelegenheit als Objekte der Fotographie inszenieren. Sie hören auf, authentische Figuren zu sein. Bei allem Singen und Agieren achten sie darauf, in welcher Pose sie auf die Platte gebannt werden können. Erster Höhepunkt dieses Hangs zur Pose ist gleich das berühmte „Che gelida manina“ – Duett im ersten Bild. Während Mimi ihre Geschichte erzählt, sich vorstellt, sitzt sie in Aufnahmepose auf dem Stuhl des Fotografen. Rodolfo nimmt sie auf, ist nur mit dem Apparat beschäftigt und achtet gar nicht auf das, was sie ihm erzählt.
Selbst die Sterbeszene ist Pose. Wieder setzt Mimi auf dem Stuhl des Fotografen. Rodolfo hält sie, damit sie nicht zu schnell vorn über fällt, nicht stirbt, bevor die Aufnahme im Kasten ist. Alles ist Pose, einstudierte Pose, nichts ist authentisch. Das ‚Reale‘ ist im Wortverstande ausgeblendet. Liebe und Tod, Eifersucht und Streit, Dichten und Malen und Feiern, alles ist Pose, gestellt für das neue Medium der Fotographie. Sie spielen Literat, Maler, Philosoph, Grisette. Sie sind es gar nicht und fliehen entsetzt, als mit Mimis Tod die ‚Wirklichkeit‘ sie einholt, fliehen ins Dunkle, ins Nichts und lassen die Tote als Modell auf dem Stuhl des Fotografen zurück.
Diese Tendenz zur Pose und zum Nichtauthentischen ist die dominierende Grundkonzeption der Inszenierung, eine überzeugende Konzeption, der gegenüber fast alles andere konventionell wirkt. Die Massenauftritte im zweiten Bild – vielleicht Bildzitate aus den zwanziger Jahren und Verweise auf die grotesken Figuren der Feiernden in den Bildern einen George Grosz – zeichnen sich vor allem durch Lärm und Geschiebe aus.
Aus dem Konventionellen heraus fällt allein das dritte Bild: die Trennung, das Auseinander-Gehen der Liebenden. Eine Szene, in der der Fotograf Marcel seinen Apparat beiseite räumt, und Musetta die Fotoausrüstung zerschlägt. Ganz entsprechend ist die Szene der Trennung die einzig ‚authentische‘, die Szene, wo nicht für den Fotografen posiert wird. Und diese ist auch die Szene, in der das Orchester groß aufspielt und in der Mimi in der Person der Heather Engebretson und Rodolfo in der Person des Jonathan Tetelman Puccini Belcanto in Perfektion bieten. Da wirken Musik und Stimmen mit einem Mal nicht mehr zuckersüß und kitschig. Da erzeugen Stimmen und Orchesterklang eine Sogwirkung, der man sich nur schwer entziehen kann. Bellezza italiana, emozione, lacrime, eine raffinierte Mischung von Klängen, mit der Puccini auch noch nach mehr als einhundert Jahren sein Publikum einfängt, es anders als Wagner nicht in schweren Rausch versetzt, sondern ihm eine leichte Droge reicht, die traurig und heiter zugleich stimmt.
Keine Frage, dass diese Gestimmtheit nur möglich ist, weil mit Heather Engebretson und Jonathan Tetelman zwei Puccini Stars auf der Bühne standen, die von Stimme und Bühnenerscheinung her geradezu Idealtypen für ihre Rollen sind: eine blass und schmächtige und anrührende Mimi, eine femme fragile im Wortverstande und neben ihr ein Rodolfo, un bel ragazzo all’italiana, so narzisstisch, dass er vom Lieben und Leiden der armen Mimi eigentlich gar nichts mitkriegt. „Sein schon aso, die jungen Leut!“.
Ein großer Opernabend in der Komischen Oper – auch für die, die Puccini eigentlich gar nicht mögen.
Wir besuchten die Aufführung am 4. April 2019, die achte Vorstellung seit der Premiere am 27. Januar 2019.