Orpheus bei den Hippies und den Goths – Christian Gerhaher brilliert als introvertierter, todessüchtiger Monteverdi Orfeo an der Bayerischen Staatsoper

Der Mythos ist geduldig. Der Varianten sind unendlich viele, wenn nur der „Kern“ der Erzählung bewahrt bleibt. Was einst Blumenberg lehrte, ist inzwischen common sense oder, wenn man so will, ‚herabgesunkenes Kulturgut‘ geworden. Eine Beobachtung, die man jetzt wieder beim Münchner Orfeo machen konnte. Theatermacher David Bösch hat in seiner Orfeo Variante alle Verweise auf antike Fassungen des Mythos gestrichen. Aus den Hirten und Nymphen ist eine lustige Gesellschaft von Blumenkindern geworden, die mit einem Kultfahrzeug, einem verbeulten VW-Bus, anrücken, die mit Sekt und Sex, Hasch und munterem Singen die Hochzeit einer der Ihrigen mit einem grüblerischen Herrn mittleren Alters feiern, der auch ein paar Songs auf Lager hat. Als dieser vom plötzlichen Tod seiner Braut erfährt, schaufelt er sich selbst ein Grab und legt sich hinein.

Ein Orpheus, der den Abstieg in die Unterwelt als Todestraum erlebt? Vielleicht. Die Unterwelt, den antiken Hades, all dies gibt es gar nicht. Orfeo verirrt sich in die Welt der Goths, in eine Montage der Gothic Subculture, in der schwarz gekleidete Gestalten mit Totenkopfmasken ihren Spaß mit Euridice treiben und Orfeo zum Narren halten. Pluto in seinen Hausschuhen und mit seinem ungepflegten Äußeren ist wohl ein Goth im Ruhestand. Die „Spiriti“, die ihn umgeben, sind humpelnde Greise, Karikaturen aus dem Altenheim. Caronte nähert sich in einem von einem Propeller angetriebenen Fahrzeug. Vermutlich hat er sich für seine Szene aus dem Filmstudio gestohlen, in dem gerade Mad Max gedreht wird.

Ein lieto fine gibt es nicht. Die Apotheose des Sängers Orpheus findet nicht statt. Aus dem Musengott Apoll ist ein hinkender Bettler geworden, der Orfeo zum Selbstmord sein Messer überlässt. Im Sterben glaubt Orfeo noch einmal die lustige Gesellschaft zu sehen und eine Euridice, die zu ihm ins Grab steigt. Nicht lieto fine, triste fine ist angesagt. Oder frei nach Goethe: das Ewigweibliche zieht uns hinab – ins Grab. Oder frei nach Wagner: Erlösung gibt es nur im Tod.

Der Orfeo, wie ihn die Regie vorschlägt und wie ihn der berühmte Bariton gestaltet, ist ein ganz ungewöhnlicher Orpheus. Dieser Orpheus leidet an der Krankheit zum Tode, ist grüblerisch und melancholisch, suhlt sich wie eine Petrarca Figur im eigenen Schmerz, findet Gefallen am Leiden. Der Tod der Euridice ist in diesem Zusammenhang nur Anlass, das Leiden zu kultivieren, es in Musik zu transponieren. Dieser Orfeo, wie ihn Gerhaher interpretiert, ist ein Egomane, besser: ein Monomane des Leidens. Eine Deutung, die ganz dem Libretto und der Musik entspricht, die nicht von ungefähr der Euridice nur eine kleine Rolle zugedacht haben. In der Fähigkeit, diese Selbstbezogenheit, diese Introvertiertheit des Protagonisten eindringlich und glaubhaft zu gestalten, liegt, so schien es mir, die große Kunst des berühmten Baritons. Die Verlegung des Geschehens unter die Hippies und die Goths bleibt in diesem Kontext nur ein hübscher, doch letztlich bedeutungsloser Einfall. Und wenn wir für einen Augenblick das ganze Brimborium der Szene außer Acht lassen, dann haben wir einen Gerhaher Monteverdi Liederabend auf Festspiel-Niveau erlebt.

Wir sahen im Prinzregententheater die Aufführung am 30. Juli 2014. Die Premiere war am 20. Juli 2014.

„Freiheitskämpfer“ und Fanatiker, Mörder und Fundamentalist. Guillaume Tell an der Bayerischen Staatsoper

Theatermacher Antú Romero Nunes meint es nicht gut mit dem Schweizer Nationalmythos und dessen Helden. Er dekonstruiert den ‚Helden‘, zeigt einen Psychopathen und widerwärtigen Fundamentalisten, der in seiner eingebildeten Mission, in seinem Kampf gegen den Tyrannen bedenkenlos seine Landsleute manipuliert, der auch vor Betrug und Mord an Freunden nicht zurückschreckt, wenn es nur dem hehren Ziel von Einigkeit und Freiheit dient. Um den wegen seiner Liaison mit einer Habsburgerin zögernden Arnold als Mitstreiter zu gewinnen, beseitigt er dessen Vater und schiebt den Habsburgern den Mord in die Schuhe. Und schon reagiert der einfältige und gutmütige Arnold wie ein Pawlowssches Hündchen, rast vor Rache, verlässt seine Prinzessin, bewaffnet eine Schar von  recht tumben Landsleuten mit Maschinenpistolen und lässt diese in ihr Verderben rennen. Natürlich erledigt der schreckliche Tell, ganz wie es der Mythos will, den Tyrannen, und – so das Finale – alle Moribunden, die sich noch gerade rühren können, dürfen „Liberté“ intonieren. Doch zumindest einer der tödlich Verwundeten stößt den ‚Helden‘ von sich. Und der tumbe Tell versteht gar nicht, was ihm da geschieht. Freiheit für die Überlebenden – über den Leichen der anderen.

Die Grand Opéra – das hat sich bei der Renaissance, die diese Gattung zur Zeit erfährt, inzwischen herumgesprochen – lebt vom großen Spektakel, von Massenauftritten, von (fein dosiertem) Sex und viel Crime, von Gewalt und Belcanto Kulinarik. All das bietet der Rossini Abend in der Bayerischen Staatsoper in Fülle: ein in Belcanto Koloraturen und Bravourarien schwelgendes Liebespaar (in den Personen der Sopranistin Marina Rebeka und des Tenors Bryan Hymel), das sich auch schon mal herzen und dabei unter den spöttischen Blicken des Tell Schuhe und Krawatte von sich werfen darf. Massenauftritte aller Arten, von den biederen Brautpaaren, die sich zur Großhochzeit versammelt haben, über die sich verängstigt duckenden kleinen Leute, über die Maschinenpistolen schwingenden Möchtegern-Machos, über den Rütlischwur zur nächtlichen Stunde unter Fackeln bis hin zu den prügelnden SS-Horden und ihrem Kommandanten Gesler. Gewalt zieht sich  als Leitmotiv durch die Szene. Gewalt ist der Auslöser des Geschehens: ein Schweizer erschlägt aus dem Hinterhalt einen Soldaten der Habsburger und löst damit eine Orgie von Gewalt und Gegengewalt aus.

Diese Gewaltexzesse, mögen sie auch alle dramaturgisch begründet sein und mag die Regie sie auch noch so gekonnt und souverän und so spektakulär wie den berüchtigten Apfelschuss in Szene setzen, bewirken auf die Dauer nur Überdruss. Müssen es eigentlich immer wieder nur Nachstellungen von Action-Filmen sein? Geht es nicht auch anders? Ja, es geht auch anders. Es geht auch mit den Mitteln des Märchens und der Pantomime – so signalisiert es die Regie zu Beginn des zweiten Teils. Und jetzt gelingt ihr die vielleicht schönste Szene der Inszenierung. Zur berühmten Ouvertüre, die erst jetzt gespielt wird, sitzt der Tell Knabe schlafend auf der Vorderbühne, und im Traum erscheinen ihm groteske Märchenfiguren, umtanzen ihn, drohen ihm, retten ihn und erlösen ihn von seinem Trauma. Und dann geht es weiter mit Gewaltszenen im kruden Realismus.

Keine Frage, dass an diesem Abend in der Münchner Oper in allen Rollen brillant gesungen und gespielt wird, dass Michael Volle in der Titelrolle den widerwärtigen Fanatiker Tell und Günther Groissböck den nicht minder widerwärtigen SS-Offizier grandios herüber bringen, dass Evgeniya Sotnikova den auf Fanatismus gedrillten und doch noch so kindlichen Sohn des Tell geradezu anrührend zu gestalten weiß. Keine Frage, dass das Orchester einen Rossini spielt, wie man ihn sich nicht besser vorstellen kann, dass die Bühnentechnik, die wohl mehr als zwei Dutzend lang gestreckte Rohre  – sie fungieren als Einheitsbühne -immer wieder vertikal und horizontal geräuschlos bewegen musste, einen großen Tag hatte – und damit das Pausengespräch bestimmte. „Was bedeuten denn die Rohre?“  Sagen wir es ganz vornehm: die Rohre sind polyvalente Symbole: Säulen im Festsaal und in der Kirche, Bäume im Wald, Balken für die Häuser, Kanonen für die Gewalt und natürlich Phallussymbole für die Postfreudianer.

Sublime Musik aus dem Graben, Belcanto auf der Bühne, Gewalt auf der Szene und – Wolken von süßlichem Schweiß und schwerem Parfum im Zuschauerraum. Fürwahr ein großer Opernabend in der Bayerischen Staatsoper.

Ob ich noch einmal hingehe? Wenn man die Grand Opéra, diesen trotz moderner Technik, trotz der Kostüme von heute, trotz der Verweise auf unsere Zeit doch so archaischen, so historisierenden Stil mag, dann sollte man diesen Guillaume Tell nicht versäumen.

Wir sahen die Aufführung am 13. Juli 2014. Die Premiere war am 28. Juni 2014.

Absolutistisches Huldigungstheater in der klassizistischen Arena und auf der Probebühne. Eine vieldeutige oder auch nur eine konzeptionslose La Clemenza di Tito an der Bayerischen Staatsoper

Ein Libretto nach Metastasio, auf das Mozart einige seiner schönsten Arien für Frauenstimmen komponiert  –  und einige seiner langweiligsten Rezitative geschrieben hat (bzw. hat schreiben lassen). La Clemenza di Tito, eine wahre Crux für unsere Theatermacher. Vor ein paar Jahren hatte  Martin Kusej in Salzburg die Figur des Tito als Trottel ‚entlarvt‘ und dessen Nachsicht und Milde als Masochismus eines Gestörten gedeutet.  Eine ganz andere, vielleicht sogar eine ganz  neue Interpretation schlug unlängst Krzysztof Warlikowski im  Théâtre de la Monnaie vor, wenn  er das Moment der permanenten Öffentlichkeit, in der der absolutistische Herrscher und seine Entourage stehen, herausstellt und dem entsprechend  die Handlung konsequent in ein Fernsehstudio verlegt und die Handelnden zu Politikern von heute macht, die  unter ständigem Stress ihr Leben verbringen und ihre Entscheidungen treffen. Eine wiederum andere Deutung war  im vergangenen Sommer beim Festival der Alten Musik in Innsbruck zu sehen, eine Inszenierung, bei der das Produktionsteam unter Christoph von Bernuth eine Modeerscheinung des 18. Jahrhunderts, den Freundschaftsdiskurs, in das Zentrum des Interesses rückt und die homoerotischen Neigungen eines alternden Mannes zu einem androgynen Jüngling, dem jungen Sesto, in Szene setzt. Allesamt Deutungen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können und die für die Polyvalenz des scheinbar so antiquierten  Librettos sprechen.

Und jetzt in München? Da weiß sich Theatermacher Jan Bosse nicht so recht zu entscheiden.… → weiterlesen

„Ich bin ein Weib und will ein Weiberschicksal“, Herr Dr. Freud. Eine umjubelte Die Frau ohne Schatten an der Bayerischen Staatsoper

Kein Zweifel. In München singt ein teures Ensemble internationaler Stars höchst brillant. Hier zelebriert das Bayerische Staatsorchester unter Maestro Petrenko Richard Strauss auf höchstem Niveau. Hier wird Hofmannsthals hybrider Text, dieses Gemenge aus  fernöstlicher Symbolik, Psychodrama und Märchen, in eine in sich schlüssige, kohärente und überzeugende Inszenierung umgesetzt.

Doch muss man diese – nach den vielen Flops der letzten Jahre – zweifellos in jeder Weise gelungene Produktion so kritiklos und hymnisch bejubeln, wie das manche Feuilletonkritiker und –  im Gefolge dieser –  große Teile des Publikums tun? „Kommt der neue Gott gegangen, hingegeben war ich“ – nein, nicht stumm. Dann werd‘ ich trunken, redselig. Dann gebe ich meinen Verstand zusammen mit Hut und Stock an der Garderobe ab.  Dieser Eindruck drängt sich auf, wenn man die  geradezu peinlich unkritischen Hymnen auf Maestro Petrenko in der Presse liest. Wir haben vor ein paar Jahren Thielemanns Frau ohne Schatten in Salzburg  und zuvor die Interpretation von Welser-Möst in Zürich gehört. In Salzburg und in Zürich hat man vielleicht nicht so stark auf das selige Pianissimo gesetzt, das man in München bis zum Exzess auskostet und das eine geradezu hynotisierende  Wirkung  auf die Zuhörer ausübt. Dort stellte man, wenn ich mich recht erinnere, eher die rauschhafte Klangfarbenpracht der Musik heraus. Wie dem auch sei. De gustibus non disputandum est.  In München wird, dran gibt es überhaupt nichts zu bekritteln,  eine grandiose Die Frau ohne Schatten zelebriert.  Doch Zürich und Salzburg, mögen  dort die Akzente  auch etwas anders gesetzt worden sein,  können da durchaus mithalten.

Doch sprechen wir lieber von der Inszenierung und überlassen wir  den musikalischen Part den Musikern  und den Musikkritikern.… → weiterlesen

Die Mär vom „kindischen Helden“ und das Gesellschaftsstück vom scheiternden Banker. Siegfried und Götterdämmerung an der Bayerischen Staatsoper

Sagen wir es gleich, ohne alle Umschweife: der Münchner Ring, das ist Wagner vom Allerfeinsten. Sänger der Spitzenklasse in allen Rollen, ein brillantes Orchester, eine musikalische Interpretation, die auf alles Brimborium, auf alles Gedröhne und Laute verzichtet, die stattdessen auf die sanften Klänge, auf das Piano  setzt, dort das Rauschhafte findet und  mit dieser Wagner Deutung fasziniert und begeistert. Ein Gleiches gilt für die szenische Umsetzung. Die Regie sieht (vielleicht mit Ausnahme der Götterdämmerung) von allen Welterklärungsmodellen, allem Zirkus, allem intermedialen Spektakel und allem Stücke-Zertrümmerungsfuror ab, betont das Märchenhafte und die Fantasy Analogien des Rings und bricht dies Märchentheater immer wieder mit Metatheatereinschüben: wir sind zwar in der Welt des Theaters, in der Welt der Illusionen, so weiß der an Brecht geschulte und von Brecht wohl auch geschädigte Theatermacher  Kriegenburg, und wir Zuschauer wissen es auch seit langem: die Märchen, die wir sehen, sind Theater, nichts als inszeniertes Theater. Illusionen, die mit Desillusionen zurückgenommen werden.

Das Rheingold und die Walküre hatten wir bereits vor einem knappen Jahr gehört und gesehen, das Rheingold mit einer gewissen Skepsis, die Walküre mit Begeisterung aufgenommen (vgl. die entsprechenden Bemerkungen im Blog). Und jetzt Siegfried  und Götterdämmerung. Welcher Eindruck bleibt?… → weiterlesen

Ein Sängerfest – ohne Inszenierung. Rigoletto an der Bayerischen Staatsoper

Sagen wir es gleich – ohne alle Umschweife. In München ist ein Rigoletto zu hören, ich betone zu hören, wie er brillanter und schöner wohl kaum vorstellbar ist. Hier ist Belcanto in Hochkultur zu erleben:  mit Joseph Calleja als Duca di Mantova, mit Franco Vassallo als Rigoletto und Patricia Petibon als Gilda.  Verdi Musik, Verdi Gesang vom Allerfeinsten. Italienische Oper als Hochkultur.

Wer indes in München Musiktheater erwartet, der wird enttäuscht. Die Bayerische Staatsoper präsentiert mit ihrem neuen Rigoletto  eine Verdi-Oper, bei der die Inszenierung  weder eine Deutung anbietet noch das Publikum provozieren will, noch sich gegen die Musik wendet, noch sich im Trash austobt, noch Verruchtheit und Dekadenz vorgaukelt. In München – welch ein Kuriosum – findet die Inszenierung gar nicht statt.… → weiterlesen