Monteverdi, L‘ Orfeo. Intermediales Spiel und ästhetisches Vergnügen. Eine Sasha Waltz Produktion an der Staatsoper Unter den Linden

Vielleicht war es das ‚Gesamtkunstwerk‘, das wir jetzt in einer Wiederaufnehme in Berlin gesehen und gehört haben: eine Einheit von Klang und Stimmen, von Tanz und Malerei. Ich bin nicht unbedingt ein Fan des Tanztheaters, wenn,  wie wir es zuletzt in Paris in einer Così fan tutte  Inszenierung erlebt haben, Tänzer in Konkurrenz zu Sängern treten und  versucht wird, die unterschiedlichsten Liebesdiskurse in die Sprache des Körpers zu transferieren, ein Bemühen, das die Tänzer letztlich vor der Macht des Gesangs scheitern lässt und sie zu Statisten degradiert.

Nichts von einem gequälten Überlagern von Stimme und Bewegung ist in Sasha Waltz‘ Orfeo zu bemerken. Hier ergänzen die Künste einander.

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Orpheus bei den Hippies und den Goths – Christian Gerhaher brilliert als introvertierter, todessüchtiger Monteverdi Orfeo an der Bayerischen Staatsoper

Der Mythos ist geduldig. Der Varianten sind unendlich viele, wenn nur der „Kern“ der Erzählung bewahrt bleibt. Was einst Blumenberg lehrte, ist inzwischen common sense oder, wenn man so will, ‚herabgesunkenes Kulturgut‘ geworden. Eine Beobachtung, die man jetzt wieder beim Münchner Orfeo machen konnte. Theatermacher David Bösch hat in seiner Orfeo Variante alle Verweise auf antike Fassungen des Mythos gestrichen. Aus den Hirten und Nymphen ist eine lustige Gesellschaft von Blumenkindern geworden, die mit einem Kultfahrzeug, einem verbeulten VW-Bus, anrücken, die mit Sekt und Sex, Hasch und munterem Singen die Hochzeit einer der Ihrigen mit einem grüblerischen Herrn mittleren Alters feiern, der auch ein paar Songs auf Lager hat. Als dieser vom plötzlichen Tod seiner Braut erfährt, schaufelt er sich selbst ein Grab und legt sich hinein.

Ein Orpheus, der den Abstieg in die Unterwelt als Todestraum erlebt? Vielleicht. Die Unterwelt, den antiken Hades, all dies gibt es gar nicht. Orfeo verirrt sich in die Welt der Goths, in eine Montage der Gothic Subculture, in der schwarz gekleidete Gestalten mit Totenkopfmasken ihren Spaß mit Euridice treiben und Orfeo zum Narren halten. Pluto in seinen Hausschuhen und mit seinem ungepflegten Äußeren ist wohl ein Goth im Ruhestand. Die „Spiriti“, die ihn umgeben, sind humpelnde Greise, Karikaturen aus dem Altenheim. Caronte nähert sich in einem von einem Propeller angetriebenen Fahrzeug. Vermutlich hat er sich für seine Szene aus dem Filmstudio gestohlen, in dem gerade Mad Max gedreht wird.

Ein lieto fine gibt es nicht. Die Apotheose des Sängers Orpheus findet nicht statt. Aus dem Musengott Apoll ist ein hinkender Bettler geworden, der Orfeo zum Selbstmord sein Messer überlässt. Im Sterben glaubt Orfeo noch einmal die lustige Gesellschaft zu sehen und eine Euridice, die zu ihm ins Grab steigt. Nicht lieto fine, triste fine ist angesagt. Oder frei nach Goethe: das Ewigweibliche zieht uns hinab – ins Grab. Oder frei nach Wagner: Erlösung gibt es nur im Tod.

Der Orfeo, wie ihn die Regie vorschlägt und wie ihn der berühmte Bariton gestaltet, ist ein ganz ungewöhnlicher Orpheus. Dieser Orpheus leidet an der Krankheit zum Tode, ist grüblerisch und melancholisch, suhlt sich wie eine Petrarca Figur im eigenen Schmerz, findet Gefallen am Leiden. Der Tod der Euridice ist in diesem Zusammenhang nur Anlass, das Leiden zu kultivieren, es in Musik zu transponieren. Dieser Orfeo, wie ihn Gerhaher interpretiert, ist ein Egomane, besser: ein Monomane des Leidens. Eine Deutung, die ganz dem Libretto und der Musik entspricht, die nicht von ungefähr der Euridice nur eine kleine Rolle zugedacht haben. In der Fähigkeit, diese Selbstbezogenheit, diese Introvertiertheit des Protagonisten eindringlich und glaubhaft zu gestalten, liegt, so schien es mir, die große Kunst des berühmten Baritons. Die Verlegung des Geschehens unter die Hippies und die Goths bleibt in diesem Kontext nur ein hübscher, doch letztlich bedeutungsloser Einfall. Und wenn wir für einen Augenblick das ganze Brimborium der Szene außer Acht lassen, dann haben wir einen Gerhaher Monteverdi Liederabend auf Festspiel-Niveau erlebt.

Wir sahen im Prinzregententheater die Aufführung am 30. Juli 2014. Die Premiere war am 20. Juli 2014.

L‘Orfeo mit Mänaden-Tanz und Marienvesper. Monteverdi im Landestheater Niederbayern Passau

Bitte keine Vorurteile. Auch in der tiefen bayerischen Provinz weiß man Musiktheater auf hohem Niveau  zu bieten, verfügt, wenn auch vielleicht nicht für alle Rollen, so doch zumindest für die Rolle des Protagonisten  über einen herausragenden jungen Sänger, der die Aufführung trägt und sie zu einem nicht erwarteten Erlebnis macht.

Im kleinen Rokoko-Theater im ehemals fürstbischöflichen Opernhaus sind nur relativ wenige Parkettplätze verfügbar und die seien, so hörte ich sagen, schon „seit Oktober“ ausgebucht, so dass die Besucher von auswärts sich mit Plätzen im ersten Rang, d.h. mit Plätzen mit sehr eingeschränkter Sicht begnügen müssen. Doch das Wenige, was ich vom Geschehen  auf der Bühne sah, ließ vermuten, dass die Inszenierung sehr ambitiös und subtil angelegt ist, dass sie nicht mit Verweisungen auf Literatur, Oper und bildende Kunst spart, auch vor Selbstironie und Groteske  nicht zurückschreckt und vor allem in der Video-Performance brilliert und sich dabei von den Arbeiten Bill Violas inspirieren lässt. Da schwebt unter einem Sternenhimmel, wobei die Sterne  Notenzeichen sind, La Musica wie eine Königin der Nacht oder wie Hoffmanns Muse herab. Da ist Orfeo ein Starsänger von heute, für den seine betuchten Freunde (vermutlich junge Banker) ein Fest in einem barocken Schlossgarten arrangiert haben  und der zum Dank eine Arie intoniert. Während der Star noch im Parkett seine Autogramme verteilt, verkündet schon La Messagiera den Tod der Euridice. Und damit ist nicht nur das Fest zu Ende. Auch mit allen Verweisen auf die Welt der Stars von heute hat es ein Ende, und es beginnt der Abstieg zu den antiken Varianten des Mythos, die bei aller Ernsthaftigkeit immer wieder ironisch gebrochen oder zur Groteske verzerrt werden. Proserpina ist eine Art Domina, die als ihr Markenzeichen einen riesigen Granatapfel hinter sich her zieht (ein Attribut des Proserpina-Mythos, das ein Großteil des Publikums wohl nur erkennt, wenn es zuvor das kleine Mythenlexikon im Programmheft studiert hat). Plutone scheint gerade aus einer Probe zu Orpheus in der Unterwelt für eine kurze Szene herübergekommen zu sein und hat anscheinend seine erotischen Bedürfnisse noch nicht unter Kontrolle. Caronte könnte auch als zwar strenger doch letztlich gutmütiger Riese in der Kinderoper auftreten.

Das Finale bietet gleich drei Varianten: das konventionelle lieto fine mit dem Auftritt eines goldbetressten Apollo (der auch als Karnevalsfigur durchkäme) und der Vergöttlichung des Orpheus,  dann die Ovid-Poliziano Variante von Orpheus, der der heterosexuellen Liebe entsagt und von Mänaden zerrissen wird und schließlich als Gipfelpunkt die christliche Variante des Orpheus-Mythos: Orpheus als Präfiguration Christi. Und dazu singt und spielt man – so meinte ich es gehört haben – das Alleluja aus Monteverdis Marienvesper. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob diese wirklich zitiert wird. Konsequent im Sinne der Verchristlichung des Mythos wäre es alle Male.

So haben wir denn in einem abgelegenen Winkel der deutschen Opernlandschaft einen höchst ansprechenden Monteverdi-Abend erlebt, in einer Regie, für die der Sänger Kobie van Rensburg verantwortlich zeichnet. Ein Sänger, der offensichtlich zugleich ein intelligenter und gebildeter Theatermacher ist.

Wir sahen die Vorstellung am 24. März, die zweite Aufführung nach der Premiere am 23. März 2013.