Der Mythos ist geduldig. Der Varianten sind unendlich viele, wenn nur der „Kern“ der Erzählung bewahrt bleibt. Was einst Blumenberg lehrte, ist inzwischen common sense oder, wenn man so will, ‚herabgesunkenes Kulturgut‘ geworden. Eine Beobachtung, die man jetzt wieder beim Münchner Orfeo machen konnte. Theatermacher David Bösch hat in seiner Orfeo Variante alle Verweise auf antike Fassungen des Mythos gestrichen. Aus den Hirten und Nymphen ist eine lustige Gesellschaft von Blumenkindern geworden, die mit einem Kultfahrzeug, einem verbeulten VW-Bus, anrücken, die mit Sekt und Sex, Hasch und munterem Singen die Hochzeit einer der Ihrigen mit einem grüblerischen Herrn mittleren Alters feiern, der auch ein paar Songs auf Lager hat. Als dieser vom plötzlichen Tod seiner Braut erfährt, schaufelt er sich selbst ein Grab und legt sich hinein.
Ein Orpheus, der den Abstieg in die Unterwelt als Todestraum erlebt? Vielleicht. Die Unterwelt, den antiken Hades, all dies gibt es gar nicht. Orfeo verirrt sich in die Welt der Goths, in eine Montage der Gothic Subculture, in der schwarz gekleidete Gestalten mit Totenkopfmasken ihren Spaß mit Euridice treiben und Orfeo zum Narren halten. Pluto in seinen Hausschuhen und mit seinem ungepflegten Äußeren ist wohl ein Goth im Ruhestand. Die „Spiriti“, die ihn umgeben, sind humpelnde Greise, Karikaturen aus dem Altenheim. Caronte nähert sich in einem von einem Propeller angetriebenen Fahrzeug. Vermutlich hat er sich für seine Szene aus dem Filmstudio gestohlen, in dem gerade Mad Max gedreht wird.
Ein lieto fine gibt es nicht. Die Apotheose des Sängers Orpheus findet nicht statt. Aus dem Musengott Apoll ist ein hinkender Bettler geworden, der Orfeo zum Selbstmord sein Messer überlässt. Im Sterben glaubt Orfeo noch einmal die lustige Gesellschaft zu sehen und eine Euridice, die zu ihm ins Grab steigt. Nicht lieto fine, triste fine ist angesagt. Oder frei nach Goethe: das Ewigweibliche zieht uns hinab – ins Grab. Oder frei nach Wagner: Erlösung gibt es nur im Tod.
Der Orfeo, wie ihn die Regie vorschlägt und wie ihn der berühmte Bariton gestaltet, ist ein ganz ungewöhnlicher Orpheus. Dieser Orpheus leidet an der Krankheit zum Tode, ist grüblerisch und melancholisch, suhlt sich wie eine Petrarca Figur im eigenen Schmerz, findet Gefallen am Leiden. Der Tod der Euridice ist in diesem Zusammenhang nur Anlass, das Leiden zu kultivieren, es in Musik zu transponieren. Dieser Orfeo, wie ihn Gerhaher interpretiert, ist ein Egomane, besser: ein Monomane des Leidens. Eine Deutung, die ganz dem Libretto und der Musik entspricht, die nicht von ungefähr der Euridice nur eine kleine Rolle zugedacht haben. In der Fähigkeit, diese Selbstbezogenheit, diese Introvertiertheit des Protagonisten eindringlich und glaubhaft zu gestalten, liegt, so schien es mir, die große Kunst des berühmten Baritons. Die Verlegung des Geschehens unter die Hippies und die Goths bleibt in diesem Kontext nur ein hübscher, doch letztlich bedeutungsloser Einfall. Und wenn wir für einen Augenblick das ganze Brimborium der Szene außer Acht lassen, dann haben wir einen Gerhaher Monteverdi Liederabend auf Festspiel-Niveau erlebt.
Wir sahen im Prinzregententheater die Aufführung am 30. Juli 2014. Die Premiere war am 20. Juli 2014.