Die Mär vom „kindischen Helden“ und das Gesellschaftsstück vom scheiternden Banker. Siegfried und Götterdämmerung an der Bayerischen Staatsoper

Sagen wir es gleich, ohne alle Umschweife: der Münchner Ring, das ist Wagner vom Allerfeinsten. Sänger der Spitzenklasse in allen Rollen, ein brillantes Orchester, eine musikalische Interpretation, die auf alles Brimborium, auf alles Gedröhne und Laute verzichtet, die stattdessen auf die sanften Klänge, auf das Piano  setzt, dort das Rauschhafte findet und  mit dieser Wagner Deutung fasziniert und begeistert. Ein Gleiches gilt für die szenische Umsetzung. Die Regie sieht (vielleicht mit Ausnahme der Götterdämmerung) von allen Welterklärungsmodellen, allem Zirkus, allem intermedialen Spektakel und allem Stücke-Zertrümmerungsfuror ab, betont das Märchenhafte und die Fantasy Analogien des Rings und bricht dies Märchentheater immer wieder mit Metatheatereinschüben: wir sind zwar in der Welt des Theaters, in der Welt der Illusionen, so weiß der an Brecht geschulte und von Brecht wohl auch geschädigte Theatermacher  Kriegenburg, und wir Zuschauer wissen es auch seit langem: die Märchen, die wir sehen, sind Theater, nichts als inszeniertes Theater. Illusionen, die mit Desillusionen zurückgenommen werden.

Das Rheingold und die Walküre hatten wir bereits vor einem knappen Jahr gehört und gesehen, das Rheingold mit einer gewissen Skepsis, die Walküre mit Begeisterung aufgenommen (vgl. die entsprechenden Bemerkungen im Blog). Und jetzt Siegfried  und Götterdämmerung. Welcher Eindruck bleibt? Da bleibt als erstes ein absolut überragendes Sängerensemble in Erinnerung, ein Fest der Wagnersänger, wie man es sich besser und schöner gar nicht vorstellen kann (Stephen Gould als Siegfried, Nina Stemme als Brünnhilde in der Götterdämmerung, Catherine Naglestad als Brünnhilde im Siegfried, um nur drei Namen zu nennen). Im Siegfried schwelgt die Regie noch einmal in ihrer Zauber- und Fantasywelt, präsentiert ein Siegfried-Märchen für Erwachsene und fährt noch einmal die Gags des Metatheaters auf. Ach, alles ist doch nur Theater. Die Hundertschaft von Statisten, die wir schon vom Rheingold und von der Walküre her kennen, hat wieder ihren Großkampftag. Nimmer müde bauen  sie Kulissen, schleppen Requisiten herein, mimen Blumen und Bäume und Äste auf den Bäumen, bedienen Windmaschinen und Blasebälge, sinken als teuflische Himmelsrose, um Fafner geschart, vom Bühnenhimmel herab, spielen in der Erda-Szene die nach  Wotan leckenden Toten aus der Unterwelt, mimen  in der Walküre-Szene schlafende Paare,  stellen als Pantomime Sieglindes Flucht und Siegfrieds Geburt nach. Ein großes Bühnenspektakel in jedem Akt.

Ein großes Bühnenspektakel bietet auch die Götterdämmerung:  ein Spektakel anderer Art, das so gar nicht zu der ideologiefreien und ironisch gebrochenen Deutung des Rings passen will, wie sie bisher in Szene gesetzt wurde. Scheinbar aktuelle und doch schon wieder verstaubte Gesellschaftskritik ist jetzt gefragt. Die Welt der Gibichungen, in die der „kindische Held“ gerät, ist wohl die Welt der Banken, in der ein Heer von gesichtslosen, in graue Mao-Anzüge gekleideten Angestellten ihren Geschäften nachgeht, in der Gunter und Hagen in ihren blauen Businessanzügen die Vorstände sind. Siegfried mit seinem Kapital (sprich: Nibelungenhort) soll wohl die längst benötigte Geldspritze liefern. Euro-Prinzessin Gutrune soll ihn einfangen – und dann wird man ihn ausbooten. Bei dieser Konzeption ist es nur konsequent, dass der Neubanker Siegfried  nach einem Besäufnis auf einer Betriebsfeier erstochen wird (der Speer ist ein Ausstellungsstück, das  in einer Vitrine verstaubt), dass daraufhin die Kurse der Bank  vollständig einbrechen (die wertlosen Papiere werfen die Arbeitsbienen aus ihren Büros in die Empfangshalle) und  dass Brünnhilde, die sich um Mann und Kapital betrogen sieht, den Bankpalast in Flammen aufgehen lässt.

Es mag ja sein, dass die Regiekonzeption weit anspruchsvoller ist, als ich sie verstanden habe, dass sie nicht nur verstaubte Gesellschaftskritik ist, dass sie  sich vielleicht doch  an einem Welterklärungsmodell versucht  und dabei auf das böse Kapital verweist, das ja, wie  man zu genüge weiß, an allen Übeln dieser Welt schuld ist. Wie dem auch sei. Gegenüber Rheingold, Walküre und Siegfried fällt die Götterdämmerung erheblich ab – in der Inszenierung. Nicht in Orchesterklang und Gesang.  Beide sind auch in der Götterdämmerung grandios. Wagner vom Allerfeinsten.

Wir sahen Siegfried am 9. Januar und Götterdämmerung am 13. Januar 2013. Die Premieren waren am 27. Mai bzw. am 30. Juni 2012.