Träumereien in preußischen Kasernenhöfen mit tödlichem Ausgang. Claus Guth inszeniert Lohengrin an der Scala

In der Scala war in diesem  Dezember ein  ungewöhnlicher, wenn nicht gar ein seltsamer  Lohengrin zu sehen und zu hören, der manche Erwartungen mehr als erfüllt, andere mehr als enttäuscht. Der berühmte Maestro von der Berliner Staatsoper (bekanntlich nebenbei noch „direttore musicale“ an der Scala) präsentiert einen sanften zurückhaltenden Wagner, kostet das Pianissimo bis zum  Exzess aus, verabreicht dem Publikum, wenn überhaupt, allenfalls eine schwach dosierte Wagner Droge, die erst im Finale – bei der Gralserzählung – ihre Wirkung tut. Wie Jonas Kaufmann die Gralserzählung im Piano und Pianissimo singt, nein geradezu haucht, wie dazu der Maestro das Orchester so weit zurücknimmt, dass es kaum noch zu hören ist, das ist schon höchst beeindruckend und in der Tat der Höhepunkt, vielleicht auch wohl der einsame Höhepunkt der Aufführung. Der Rest ist – freundlich gesagt – gehobener Durchschnitt.

Die berühmte Sopranistin, die wir zuletzt als Elsa im Münchner Lohengrin gehört haben und deren Kunst wir stets bewundert haben, wirkt in der Scala  so merkwürdig blass und verhalten, eine kränkelnde Ophelia im weißen  langen Kleid, vielleicht auch eine Violetta, verloren und einsam, die – so will es die Regie –  sich ihren Traummann aus ihren Träumereien am Klavier erschafft, gestriezt von der Hauslehrerin Ortrud, die schon das kleine Mädchen Elsa malträtierte.

Dass Elsa, die sich vor der Welt verschließt, sich einen Traummann aus ihren Träumereien schafft und dass dieser Traum an der ‚Wirklichkeit‘ scheitert, das ist ein Ansatz, den das Libretto nahe legt und der schon häufig in Szene gesetzt wurde. Dass dieser Traummann allerdings auch ein Träumer, eine Art Schlafwandler ist, der im preußische Kasernenhof inmitten von Militärs  erwacht – der König in Generalsuniform, der Heerrufer im Bismarck Outfit –  und  dass er gar nicht weiß, was ihm geschieht, immer wieder verängstigt und verloren im Kasernenhof herumirrt, sich mit der kränkelnden Elsa eine Traumfrau erschafft und sich wie diese immer wieder Kraft und Imagination aus der Musik, ganz konkret: aus dem Klavier holt, das ist als Ansatz und Grundkonzeption der Regie wohl originell.

So sehen wir denn ein schwächliches, kränkliches, geradezu  somnambules Traumpaar vor uns, dass sich in der  Brautgemach Szene für kurze Zeit einen locus amoenus  mit Teich und Schilf und Steg imaginiert und das sich dort für wenige Augenblicke – auch im konkreten Sinne – nahe kommt. Das Wasser ist indes, wie könnte es bei der diesem eigentümlichen Symbolkraft auch anders sein, nicht  immer nur der Ort “ ewig luftiger Verschmelzung „. Das Wasser ist der Ort des Todes. Im Wasser erschlägt Lohengrin den Intriganten. Ins Wasser geht Elsa im Wahn als neue Ophelia. Und Lohengrin? Der Träumer kehrt nicht zum Gral zurück. Den Gral gibt es nur in der Gralserzählung, in der Traumerzählung vom Gral. Die Soldaten erschlagen den Träumer, den vermeintlichen Hoffnungsträger, der in ihren Augen doch nur ein Betrüger war.

So hat denn die Regie den Lohengrin Mythos  nebst seinen gängigen Varianten nicht nur dekonstruiert. Sie hat ihn erlediget und vernichtet. Mag Lohengrin alias Jonas Kaufmann auch noch so überirdisch schön singen. Von der „romantischen Oper“ bleibt nichts mehr übrig.

An der Scala ist, wenn man die Deutung mag, die Guth und Barenboim anbieten, ein in Szene und Musik ungewöhnlicher Lohengrin zu erleben. Vielleicht ist die Inszenierung  nicht ganz so stringent und faszinierend wie Guths  Wiener Tannhäuser oder sein Zürcher Tristan. Doch großes Theater ist auch sein Mailänder Lohengrin alle Male. Und Barenboims Wagner Interpretation? Mit Verlaub gesagt: mir sagt sie nicht unbedingt zu.

 

Und das Teatro alla Scala? Der klassische italienische Operntempel, der  mythische Treffpunkt der Melomanen und der angeblich großbürgerlichen Gesellschaft?

Ein Treffpunkt für den Kulturtourismus. Ein Haus, in dem Plätze frei bleiben. Vor mir ein reifes Liebespaar aus dem Habsburger Land, das ungeduldig auf das Finale wartet und sich schon mal im Vorspiel übt, neben mir zwei ältere Damen, die eine aus Amerika, die andere aus Russland. Beide  lauschen andächtig und freuen sich schon – so ihr Pausengespräch – auf das Romeo und Julia Ballett am übernächsten Abend.  Mythen – mögen sie sich nun Lohengrin oder Teatro alla Scala nennen – sind halt dazu da erledigt zu werden. Ob ich bald noch mal zur Scala fahre? Ich glaube nicht. Die nächsten Wagner Produktionen entstehen sowieso in Zusammenarbeit mit der Berliner Staatsoper. Und der Berliner Ring, der dann auch der Mailänder  sein wird, davon habe ich schon drei Teile gesehen – und die sind sicher kein Jahrhundertwerk.

Wir sahen die Aufführung am 27. Dezember, die sechste und letzte Vorstellung. Die Premiere war am 7. Dezember 2012.