Faschismus auf allen Seiten oder der ewige Kreislauf von Gewalt und Macht, Lüge und Intoleranz. Torsten Fischer inszeniert Rossini, Guillaume Tell am Theater an der Wien

Die Aktualisierung einer ‚grand opéra‘, die man in Paris bei Kriegenburgs Inszenierung der Huguenottes vermisste, hier in Wien bei Fischers Version von Guillaume Tell findet sie sich geradezu im Übermaß.

Dieser Tell, wie Fischer ihn in Szene setzt, ist kein Freiheitsheld, kein nobler Résistance Kämpfer, sondern ein brutaler Macho und Familientyrann, der, koste es, was es wolle, seine private Fehde mit dem Gouverneur Gesler durchziehen will. Dieser Gesler ist kein Landvogt der Habsburger, sondern der Kommandeur einer  hochgerüsteten Eingreiftruppe, die in der Kampfmontur von heute auftritt. Gespielte Zeit ist vielleicht die Zeit des zweiten Weltkriegs. Die eingespielten Videos, die Bomber und Jäger aus den Vierzigerjahren in Aktion zeigen, legen eine solche Assoziation nahe. Ist der Gouverneur Gesler vielleicht ein hoher SS-Offizier?

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„Freiheitskämpfer“ und Fanatiker, Mörder und Fundamentalist. Guillaume Tell an der Bayerischen Staatsoper

Theatermacher Antú Romero Nunes meint es nicht gut mit dem Schweizer Nationalmythos und dessen Helden. Er dekonstruiert den ‚Helden‘, zeigt einen Psychopathen und widerwärtigen Fundamentalisten, der in seiner eingebildeten Mission, in seinem Kampf gegen den Tyrannen bedenkenlos seine Landsleute manipuliert, der auch vor Betrug und Mord an Freunden nicht zurückschreckt, wenn es nur dem hehren Ziel von Einigkeit und Freiheit dient. Um den wegen seiner Liaison mit einer Habsburgerin zögernden Arnold als Mitstreiter zu gewinnen, beseitigt er dessen Vater und schiebt den Habsburgern den Mord in die Schuhe. Und schon reagiert der einfältige und gutmütige Arnold wie ein Pawlowssches Hündchen, rast vor Rache, verlässt seine Prinzessin, bewaffnet eine Schar von  recht tumben Landsleuten mit Maschinenpistolen und lässt diese in ihr Verderben rennen. Natürlich erledigt der schreckliche Tell, ganz wie es der Mythos will, den Tyrannen, und – so das Finale – alle Moribunden, die sich noch gerade rühren können, dürfen „Liberté“ intonieren. Doch zumindest einer der tödlich Verwundeten stößt den ‚Helden‘ von sich. Und der tumbe Tell versteht gar nicht, was ihm da geschieht. Freiheit für die Überlebenden – über den Leichen der anderen.

Die Grand Opéra – das hat sich bei der Renaissance, die diese Gattung zur Zeit erfährt, inzwischen herumgesprochen – lebt vom großen Spektakel, von Massenauftritten, von (fein dosiertem) Sex und viel Crime, von Gewalt und Belcanto Kulinarik. All das bietet der Rossini Abend in der Bayerischen Staatsoper in Fülle: ein in Belcanto Koloraturen und Bravourarien schwelgendes Liebespaar (in den Personen der Sopranistin Marina Rebeka und des Tenors Bryan Hymel), das sich auch schon mal herzen und dabei unter den spöttischen Blicken des Tell Schuhe und Krawatte von sich werfen darf. Massenauftritte aller Arten, von den biederen Brautpaaren, die sich zur Großhochzeit versammelt haben, über die sich verängstigt duckenden kleinen Leute, über die Maschinenpistolen schwingenden Möchtegern-Machos, über den Rütlischwur zur nächtlichen Stunde unter Fackeln bis hin zu den prügelnden SS-Horden und ihrem Kommandanten Gesler. Gewalt zieht sich  als Leitmotiv durch die Szene. Gewalt ist der Auslöser des Geschehens: ein Schweizer erschlägt aus dem Hinterhalt einen Soldaten der Habsburger und löst damit eine Orgie von Gewalt und Gegengewalt aus.

Diese Gewaltexzesse, mögen sie auch alle dramaturgisch begründet sein und mag die Regie sie auch noch so gekonnt und souverän und so spektakulär wie den berüchtigten Apfelschuss in Szene setzen, bewirken auf die Dauer nur Überdruss. Müssen es eigentlich immer wieder nur Nachstellungen von Action-Filmen sein? Geht es nicht auch anders? Ja, es geht auch anders. Es geht auch mit den Mitteln des Märchens und der Pantomime – so signalisiert es die Regie zu Beginn des zweiten Teils. Und jetzt gelingt ihr die vielleicht schönste Szene der Inszenierung. Zur berühmten Ouvertüre, die erst jetzt gespielt wird, sitzt der Tell Knabe schlafend auf der Vorderbühne, und im Traum erscheinen ihm groteske Märchenfiguren, umtanzen ihn, drohen ihm, retten ihn und erlösen ihn von seinem Trauma. Und dann geht es weiter mit Gewaltszenen im kruden Realismus.

Keine Frage, dass an diesem Abend in der Münchner Oper in allen Rollen brillant gesungen und gespielt wird, dass Michael Volle in der Titelrolle den widerwärtigen Fanatiker Tell und Günther Groissböck den nicht minder widerwärtigen SS-Offizier grandios herüber bringen, dass Evgeniya Sotnikova den auf Fanatismus gedrillten und doch noch so kindlichen Sohn des Tell geradezu anrührend zu gestalten weiß. Keine Frage, dass das Orchester einen Rossini spielt, wie man ihn sich nicht besser vorstellen kann, dass die Bühnentechnik, die wohl mehr als zwei Dutzend lang gestreckte Rohre  – sie fungieren als Einheitsbühne -immer wieder vertikal und horizontal geräuschlos bewegen musste, einen großen Tag hatte – und damit das Pausengespräch bestimmte. „Was bedeuten denn die Rohre?“  Sagen wir es ganz vornehm: die Rohre sind polyvalente Symbole: Säulen im Festsaal und in der Kirche, Bäume im Wald, Balken für die Häuser, Kanonen für die Gewalt und natürlich Phallussymbole für die Postfreudianer.

Sublime Musik aus dem Graben, Belcanto auf der Bühne, Gewalt auf der Szene und – Wolken von süßlichem Schweiß und schwerem Parfum im Zuschauerraum. Fürwahr ein großer Opernabend in der Bayerischen Staatsoper.

Ob ich noch einmal hingehe? Wenn man die Grand Opéra, diesen trotz moderner Technik, trotz der Kostüme von heute, trotz der Verweise auf unsere Zeit doch so archaischen, so historisierenden Stil mag, dann sollte man diesen Guillaume Tell nicht versäumen.

Wir sahen die Aufführung am 13. Juli 2014. Die Premiere war am 28. Juni 2014.