Wassermanns Nightmare. Stefan Herheim inszeniert Rusalka an der Oper Graz

Es regnet, es regnet immerfort, Passanten suchen sich vor dem Regen zu schützen, stolpern immer wieder, hasten zu den Metroeingängen. Eine Bar zur Linken, auf derselben Seite eine neuromanische Kirchenfront. Zur Rechten ein Mietshaus, unten ein Laden, oben eine Wohnung mit Balkon, eine Hausfrau mittleren Alters hängt Bettzeug über die Brüstung. All dies sieht der Zuschauer, noch bevor die Ouvertüre erklingt. Seltsam. Rusalka, so steht es zumindest im Programmheft, ist doch ein „lyrisches Märchen in drei Akten“. Das Märchen, es war einmal. Wenn Stefan Herheim den Undine Mythos nach- und neu erzählt, dann ist alles neu, dann entsteht zum Vergnügen und manchmal auch zum Entsetzen des Publikums eine ganz andere, eine unerwartete Variante des Mythos von der liebessüchtigen Wassernixe. Wer Herheims Lohengrin oder seinen Rosenkavalier gesehen hat, der weiß, was ihn erwartet: allemal ein großer Theaterabend. Und auch in Graz wurden in dieser Hinsicht die Erwartungen nicht enttäuscht. Zwar war wohl manch biederer Opernbesucher  ob des ungewohnten Spektakels zu Anfang ein bisschen irritiert. Doch die Irritation wich schnell der Faszination, ja der Begeisterung. In Graz spielt Rusalka in einem Kleinbürgerbezirk, nein eher in einem Rotlichtviertel  in London. Vielleicht auch in Brüssel oder Paris?  Rusalka spielt, so signalisieren uns gleich bei ihrem ersten Auftritt die „Waldnymphen“, die zu Damen vom Gewerbe mutiert sind, in einem Irma La Douce Ambiente. Rusalka selber ist zur kleinen Hure geworden, die von der großen Liebe träumt. Und der Wassermann in seinem billigen verwaschenen Anzug, den er bald mit einem Schlafanzug tauschen wird, ist zum heruntergekommenen Pantoffelhelden, zum Kleinbürger mit verdrängten Sexsehnsüchten geworden. Der Prinz ist ein kleiner Prinz im Matrosenanzug, fast ein Kind, das nicht so recht weiß, was ihm geschieht. Die „fremde Fürstin“  mimt mal den Hausdrachen beim Wassermann, mal die elegante Opernbesucherin in der Loge, mal die Operndiva, mal die Karnevalsprinzessin, mal, so in den Schlussszenen, ein Opfer von Jack the Ripper. Nicht diese Aktualisierungen, so interessant und so unterhaltsam sie auch sind, machen den Clou der Inszenierung aus. Herheim verlagert das Interesse von der Protagonistin hin zur Figur des Wassermanns, macht die erste Nebenfigur zur Hauptperson des Geschehens, setzt die verborgenen Sehnsüchte eines alternden, eines unterdrückten Kleinbürgers in Szene, der seine latenten Wünsche von der Liebe als Passion auf eine Dame vom Gewerbe und deren unerfahrenen Kunden  projiziert und  für das Scheitern  dieser Passion, für das im Rusalka Märchen die „fremde Fürstin“ steht, die ihn beherrschende Frau verantwortlich macht und diese tötet. So wird der Undine Mythos  bei Herheim zur Psychostudie der Nebenperson, zur Fallstudie einer kranken Person, die als Mörder endet. Doch bei Herheim sind wir im Theater, nicht in der Psychopraxis des Doktor Freud, und der Psychofall  ist für unseren Theatermacher nur der Anlass, im Wortverstande die Puppen tanzen zu lassen und frei nach Bachtin eine groteske Welt zu kreieren. Da werden die Huren zu einer Tanzgruppe aus unförmigen, phallischen Leibern, die den Wassermann bedrängen, da mutieren die Nonnen zu Huren und umgekehrt, da wird die Hexe zur Femme Fatale, da hockt mal Rusalka, mal der Wassermann auf einer natürlich phallischen Plakatsäule, da sinkt die leidende Rusalka als Madonna im Sternenkranz vom Bühnenhimmel herab, da sammeln sich die Bewohner des Viertels (im Libretto die Hofgesellschaft) zu einem wilden Karnevalszug, bei dem der Wassermann den Gott Neptun und der „Prinz“  den Karnevalsprinzen spielen.  Da wird das Finale im zweiten Akt zur Opernparodie, wenn Rusalka mit den theatralischen Gesten  einer routinierten Operndiva ihr Leiden zur Loge des Prinzen und der Fürstin hinaufschmettert und die Fürstin sich nicht lumpen lässt, auf die Bühne herabkommt und gleich als Tosca mitsingt. Und auch der Wassermann darf im Sinne des totalen Theaters gleich vom Zuschauerraum aus mitsingen, während die Karnevalsgesellschaft Konfetti wirft und Rosen im Publikum verteilt. Im dritten Akt gibt es dann noch eine Carmen Parodie und ein spektakuläres Rheingold Zitat – aus einer uralten Inszenierungen: die Rheintöchter bzw. die Waldnymphen entschwinden schwimmend im Bühnenhimmel. Und im Finale: da ermittelt die Kriminalpolizei, und die Spurensicherung macht sich an die Arbeit: der Wassermann Mörder wird abgeführt, die Hure Rusalka schnappt sich lachend den nächsten jungen Mann: Wassermanns nächtliche Projektionen sind zu Ende. Aus ist der Traum – vom Märchen von der liebessehnsüchtigen Undine.

Gesungen und musiziert wurde wie es dem Niveau eines mittelgroßen Hauses entspricht. Aber bei Herheim ist das alles nicht so wichtig. Mozart, Wagner, Strauss und jetzt auch Dvorák werden bei ihm sowieso zu Soundtracklieferanten. Wir sahen die 9. Vorstellung am 27. Februar 2010. Die Premiere war am 18. Dezember 2009. In Graz zeigt man eine „Koproduktion des Théâtre Royal de La Monnaie, Brüssel, und der Oper Graz“.

Wir spielen Theater – As you like it. Peer Boysen inszeniert Ariodante bei den Händel-Festspielen in Karlsruhe

Händels späte Oper gehörte in der Inszenierung von David Alden viele Jahre lang zu den Glanzstücken im Repertoire der Bayerischen Staatsoper. Eine Inszenierung, die in ihrer Verbindung von barocker Festoper, Traum- und Metatheater, Tanztheater und intermedialen Verweisen mich immer wieder fasziniert hat. Und wenn noch dazu unter der Leitung von Ivor Bolton herausragende Sänger auf der Bühne standen, dann blieben in München keine Wünsche offen. So sind denn jetzt auch in Karlsruhe die Erwartungen recht hoch, und sie werden, um es gleich vorweg zu sagen, nicht enttäuscht. Zwar geht es nicht so manieriert zu  wie in München. Doch auch beim Badischen Staatstheater singt und agiert ein hoch karätiges und hoch motiviertes Ensemble, allen voran  Franco Fagioli und Kirsten Blaise in den Rollen des naiven, leichtgläubigen Ariodante bzw. der leidenden, in den Wahnsinn getriebenen Ginevra. Und wenn dann noch dazu Michael Hofstetter dirigiert, dann versteht es sich gleichsam von selber, dass ein höchst facettenreicher Händel erklingt. Ob die  Inszenierung mit dem musikalischen Part mithalten kann? Ich weiß es nicht. Gefallen hat sie mir allemal. Boysen, der neben der Regie auch für die Ausstattung verantwortlich zeichnet, hat tief in die Theaterkiste gegriffen und  wirft all das, was er darin gefunden hat, gleichsam spielerisch in die Luft oder, wenn man so will, seinem Publikum an den Kopf, und bereitet uns mit all dem Theaterkram einen höchst vergnüglichen Abend. Frei nach dem Motto: alles, was ihr seht, ist doch nur Schein und Trug, Schein und Trug, die wir als Publikum im Gegensatz zu den Akteuren auf der Bühne gleich durchschauen. Dieses Spielen mit dem Schein sowie der Kontrast zwischen dem Leiden an der  Scheinwelt, wie es den beiden Protagonisten widerfährt, und dem  Lachen über die Scheinwelt des Theaters, eine Rolle, die dem Publikum zufällt, ist wohl die Grundkonzeption der Inszenierung. Und diese geht auf. Böse Zungen könnten angesichts des ganzen Theaterplunders, der da präsentiert wird, allerdings auch von einem post-postmodernen Zitatensalat sprechen und über die heterogenen Zutaten spötteln. In der Tat greift sich die Regie vom sizilianischen Marionettentheater mit seinen Rittern und Kämpfern, dem Teatro dei Puppi, über das klassische französische Theater und Arkadiens Nymphen bis hin zur Lehar Operette und zum Musical, ja bis hin zu Brechts Schautafeln und dem Metatheater so ziemlich alles, was da im Theaterfundus herumliegt. Und all dies mischt sich zu einem Konglomerat aus Tragischem und Komischem, aus Parodie und Groteske, beinahe wie im französischen romantischen Theater oder, wenn so will, wie in einem Shakespeare Stück. Ginevra ist bei ihrem ersten Auftritt im Theater auf dem Theater eine Art Porzellanfigur, vielleicht auch eine Marionette. Und aus ihrer Schleppe kriecht der intrigante  Polinesso hervor, in Kostüm und Maske einer französischen Theaterfigur aus der Zeit Ludwig XIV. Ariodante spielt zu seinem ersten Auftritt den Gärtner unter den Nymphen  und wenn er dann angetan mit Zylinder und weißem Schal zu seiner bevorstehenden Hochzeit enteilt, dann setzt er sich als Johannes Heesters Parodie in Szene. Der König mit langer grauer Perücke und der Krone auf dem Haupt könnte Grimms Märchen entlaufen sein. Zur berühmten Leidensarie des Ariodante („Scherza infida in grembo del druido…“) erzeugt die barocke Bühnenmaschinerie Meereswellen – und das Publikum sieht dabei, ganz wie es sich für einen Metatheatergag gehört, wie die Wellen gemacht werden. Und der böse Kleriker stürzt  in schauerromantischer Manier den armen  Ariodante in die Wellen, in die Scheinwellen. Ginevra wird wie in einem Mysterienspiel als vermeintliche Sünderin ans Kreuz gebunden, und sie  wäre beinahe als wahnsinnige Ophelia, allerdings nicht im Wasser, sondern am Strick, dahin gegangen, wenn  nicht alle Mitwirkenden, die die Arme  beim schnellen Versöhnungsfest beinahe vergessen hätten, sie in einer grotesken Szene – alle kriechen auf dem Bauch hin zu Ginevra/Ophelia – nicht im letzten Augenblick gerettet hätten. Für das Finale hat sich die Regie noch einen besonderen Gag aufbewahrt. Zwar kann und will sie das obligatorische lieto fine nicht abschaffen. Doch sie karikiert es, zeigt es als Trug und Schein und als Einstieg in ein Antimärchen. Ariodante kriegt zwar seine Ginevra – scheinbar. Zum Schlusstanz verkünden Schautafeln das künftige Geschick der Akteure, und dies ist keineswegs „lieto“ – glücklich. Ginevra wird aus dem Wahn, in den sie die Hofgesellschaft getrieben hat, nicht mehr herausfinden, Ariodante stirbt jung, einsam und verlassen, der König wird…., Dalinda wird….  In Karlsruhe hat eine geistreiche Regie, die souverän mit den Mitteln des Theaters  zu spielen weiß, einen großen Theaterabend herbeigezaubert. Ob dieser Theaterzauber immer mit Händels Musik  konform ging? Ich weiß es nicht. Wir sahen die Premiere am 19. Februar 2010.

Immer Ärger und Langeweile im Club Méditerranné. Vivaldi, Orlando Furioso an der Oper Frankfurt

Ja, warum sollen Angelica und Medoro, Ruggiero und Bramante, Alcina und Orlando, der versierte Opernbesucher  kennt sie alle schon von Händel  her, sich nicht auch einmal in einem südlichen Club Med  treffen, zu der Alcinas Zauberinsel in Frankfurt mutiert ist, einem Club Med mit Felsenstrand, Strandbar und der schönen und eleganten Alcina als Gentil Animateur, die sich um die Liebeshändel der Gäste sorgt, sich aber leider in einen Neuankömmling, einen gewissen Ruggiero, so hoffungslos verknallt, dass sie dabei zugrunde geht und der Club geschlossen werden muss. Natürlich konnte Alcina nicht damit rechnen, dass der abgetakelte Pop Star Orlando ständig Ärger macht und schließlich vollständig durchdreht, dass Ruggiero ein solches Weichei ist, dass er sich gleich von seiner Exfreundin Bramante, einem Monster an Eifersucht, mit allen Tricks wieder einfangen und domestizieren lässt. Nur die beiden Kids, Angelica und Medoro, die heillos ineinander verschossen sind, machen keinen Ärger, wenngleich die arme Angie alle Händel voll zu tun hat, sich den aggressiven Pop Star, der einfach nicht einsehen will, dass er bei ihr keinen Stich machen kann, vom Halse zu schaffen. Eine schöne, eine muntere Konstellation, die das Zeug zu einer Soap Opera oder zu einer Operette hat. In Frankfurt weiß Regisseur Bösch  im „ersten Teil“ auch recht geschickt und zum Gaudi des Publikums mit den Möglichkeiten des Librettos zu spielen. Allein im zweiten Teil da trägt sich die Konzeption nicht mehr so recht.  Wiederholungen und  müde Gags häufen sich, und es breitet sich allgemeine Langeweile aus, eine Todsünde, die auch ein genügsames Publikum nicht verzeiht. Warum, so fragt sich die geduldige Opernbesucherin, streicht man diesen Vivaldi nicht auf zwei Stunden zusammen und spielt mit Tempo und Witz und natürlich ohne Pause einfach durch. An Kompetenz fehlt es doch wirklich nicht. David Bösch, der für die Inszenierung verantwortlich zeichnet, ist doch ein erfahrener Theatermann, und mit Andrea Marco steht ein Vivaldi Spezialist der ersten Garnitur am Pult, bei dem die Musik wirklich so „frisch“ klingt, „als wäre sie im Moment entstanden“(Andrea Marco). Doch da es offensichtlich am Mut zu Strichen fehlt, gerät der eigentlich so gut angelegte Vivaldi Abend zu einem Abend der verschenkten Möglichkeiten. Ganz so schlimm, wie es ein den Frankfurtern nicht unbedingt wohl gesonnener Musikkritiker in der überregionalen Presse meinte, ist der Frankfurter Orlando nun auch  wiederum nicht.  Sonia Prina, die wir bei anderen Gelegenheiten schon viele Male als Vivaldi- und Händelsängerin erlebt haben, legt sich in der Titelrolle als Sängerin und Komödiantin  mächtig ins Zeug und zieht auch das Ensemble mit. Aber, wie es so schön heißt, eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Wir sahen die Vorstellung am 21. Februar. Es war die dritte Aufführung nach der Premiere am 14. Februar 2010.

Mini-Lust / Doch bewußt? Prinz Blechherz und das Burgfräulein oder Tristan und Isolde im Gran Teatre del Liceu in Barcelona

Barcelona war einmal, vor vielen Jahrzehnten, das Zentrum der Wagner Rezeption in Spanien. Wenig, nichts, gar nichts ist von dieser stolzen Tradition geblieben. Was in Barcelona zu hören und zu sehen ist, das ist ein schlichter, ein dürftiger, ein manchmal peinlicher Wagner, der unfreiwilliger Komik recht nahe kommt. Statt sich in München oder in Zürich umzusehen und umzuhören und eine Konwitschny oder eine Guth Inszenierung einzukaufen, hat man sich in Barcelona für eine Produktion aus Los Angeles entschieden, die dort vor mehr als zwanzig Jahren Premiere hatte. Offensichtlich war man von der märchenhaften Ausstattung, die damals der Maler David Hockney geschaffen hatte und die wohl von der amerikanischen Presse sehr gelobt worden war, so begeistert, dass man sie unbedingt nach Barcelona holen wollte. Wer das kitschige Blau und Rot,  die das Bühnenbild dominieren, wer ein  naives Märchenambiente mag, wer sich für Ritter und Burgfräulein, Knappen, die die Schwerter schwingen, eine Isolde mit einem Krönchen auf dem langen Blondhaar, für einen Tristan als Prinz Eisenherz, für einen König Marke im Purpurmantel und der Krone auf dem Haupt (Sollten die Zacken an der Krone ihn als Gehörnten kenntlich machen?) begeistern will,  wer all diesen Opernplunder mag, der kommt bei dieser Inszenierung auf seine Kosten. Es gibt eine richtige Burg zu sehen. Brangäne wacht am Fenster der Kemenate. Zum Rendez-vous trifft sich das Liebespaar unter Pappeln vor der Burg (die Assoziationen zur Zufahrtsstrasse zu einem Parador waren sicher ungewollt). Im dritten Akt lagert der jammervolle Tristan an einer Art Grabstein, eine aufragende Klippe fällt steil zum Meer hinab, und eine etwas ausgepowerte Isolde kommt gleich außer Atem, als sie zu Tristan vom Strand hinaufklettern muss. Doch sind wir nicht so streng. Es muss ja nicht immer gleich Neubayreuth, deutsches ‚Regietheater’ Neuerzählung des Mythos, Aktualisierung, Verortung im Hause Wesendonck sein. In Los Angeles und in Barcelona tun es auch bunte Bilder, Miniaturen aus einem Kodex aus dem Mittelalter oder vorsichtige Hinweise auf die Fantasyliteratur  oder meinetwegen auch flüchtige Verweise auf König Artus, den Ritter Lancelot und die Königin Ginevra. So viel Arglosigkeit hat zumindest den Vorteil, dass uns arme Unbedarfte im Publikum Wagners Weise von Liebe und Tod nichts angeht und seine für frustrierte Gattinnen und neurotische Jünglinge so gefährliche Musik  im Opernmuseum entsorgt werden kann. Im Musentempel der Katalanen hat man ja sowieso eine Vorliebe für das Kastrierte, hasst man alle Leidenschaft, ist  aller Eros des Teufels. Hatte man im vergangenen Jahr die arme Salome musikalisch und szenisch erledigt, so steigert sich jetzt im Tristan das Sehnen, das ewige Sehnen, man hält es kaum für möglich, –   das Sehnen nach der Kastration  noch einmal. Schwunglos, müde und matt schleppt sich der erste Akt dahin.  Im zweiten Akt – vielleicht hat man sich inzwischen auch etwas an die eigenartige Interpretation gewöhnt, kommt ein bisschen Schwung und vielleicht auch eine Ahnung von Leidenschaft  und auch Todessehnsucht auf. Das war’s dann auch schon. Bei allem Respekt vor den Leistungen der Musiker: das ist nicht die Tristan Musik, wie sie in München und in Zürich zu hören ist. Und das sonst so disziplinierte Publikum im Teatro del Liceu hat das auch gemerkt und reagierte mit Hüsteln und Schnäuzen und sonstigen Geräuschen auf diesen langweiligen, blutlosen und, wir sagen es noch einmal in aller Deutlichkeit, auf diesen kastrierten Tristan. Zwei Damen in der Reihe vor mir hielt es im dritten Akt schon gar nicht mehr auf den Sitzen. Sie gingen zwischendurch mal zu den Toiletten.  Doch so schlimm  war der lange Abend nun auch wiederum  nicht. Die bekannte amerikanische Sopranistin, wenngleich ihre Stimme etwas in die Jahre gekommen ist, und der berühmte Heldentenor aus dem Rheinland singen noch immer mehr als passabel. Und auch alle anderen Rollen waren hochgradig besetzt. Doch was sollen Sänger wie Seiffert, Skovhus und Michaela Schuster in einem solch tristen Ambiente. Schade um sie. Wir sahen die Vorstellung am 12. Februar 2010. Die Premiere war am 23. Januar 2010.

Auf dem Laufsteg der Opernfiguren. Agrippina, eine brillante Händel Operette an der Staatsoper Unter den Linden

Zwischen der Bismarckstrasse und der Straße Unter den Linden liegen Welten. Dort präsentiert man am Samstagabend für verknöcherte Wagnerianer ein biederes Lohengrin Spektakel. Hier macht man am Tag darauf aus Händels Agrippina, der Geschichte von der machtbewussten, intriganten römischen Kaiserin, der es mit allen nur möglichen Finten gelingt, ihren Sohn Nero zum Kaiser zu machen, eine Operette in modernen Kostümen. Und dazu braucht es noch nicht einmal eines Bühnenbildes oder gar der Dekorationen. Es genügen ein großes Sofa, auf dem sich der Kaiser Claudius rekeln kann und glitzernde Fäden, die vom Schnürboden herabhängen und die die Illusion vom permanenten Regen, unter dem die Akteure stehen, erzeugt. Die Referenzen auf die populäre Wassersymbolik sind mehr als deutlich. Und wenn dann die Akteure große schwarze Regenschirme für phallische Positionen nutzen, dann haben wir alle im Publikum verstanden, dass Agrippina  bei allem Intrigengeplapper doch primär ein Lust-Spiel ist, das nicht von ungefähr zum Karneval in Venedig uraufgeführt wurde und dort in der Saison 1709/1710 mit überwältigendem Erfolg lief.  Spielfläche ist die glitzernde Bühne und dazu ein breiter Laufsteg zwischen Orchestergraben und Zuschauerraum. Auf dieser doppelten Spielfläche agiert und singt ein glänzend aufgelegtes Ensemble. Allen voran vielleicht Bejun Mehta und Anna Prohaska in den Rollen  des Ottone und der Poppea, doch auch alle anderen Sängerschauspielern stehen den beiden Protagonisten kaum nach. Selbst Maestro Jacobs, den man als einen eher bedächtigen Musiker kennt, als einen Musiker, der Händels Melancholien gleichsam bis zur Neige auszukosten liebt, ließ sich von der Leichtigkeit und Spritzigkeit der Inszenierung anstecken und bot einen temporeichen, geradezu witzigen Händel. Ja, in einer berühmten Passage, in der sich Händel selber zitiert (war es ein Stück aus Il Trionfo del Tempo e del Disinganno?) glaubt man seinen Ohren nicht zu trauen. Da lässt  doch der sonst so seriöse Maestro Händel geradezu im Walzertakt spielen. Der Witz der Inszenierung  liegt indes nicht nur in der Unbeschwertheit, der Leichtigkeit und der Eleganz, mit der das Produktionsteam (Vincent Boussard, Vincent Lemaire, Christian Lacroix) die Intrigen der Agrippina, die Trottelhaftigkeit des Claudius, die Verschlagenheit des kleinen Nero, die Naivität der Liebenden in Szene setzt, diese  parodiert und ironisiert und  dem Gaudi der Zuschauer aussetzt. Es gibt noch eine  zweite, eine subtilere Ebene der Inszenierung. Alle Figuren sind mal mehr, mal weniger Zitate, Kontamination von Zitaten aus Opernfiguren. Claudius, der auf den ersten Blick wie ein Kölner Karnevalsprinz daher kommt, ist zugleich ein lüsterner und dann wieder auch ein müder, resignierter Falstaff. Poppea, die bei ihrem ersten Auftritt an eine Art Butterfly erinnert, mutiert im zweiten Akt zur Almirena aus der Münchner Rinaldo Inszenierung. Agrippina ist eine moderne Mischung aus Armida und Carmen, die Hofschranzen erinnern an die beiden Intriganten Rosenkranz und Güldenstern aus dem Hamlet, der schmachtende Ottone ist ein Werther Verschnitt usw. usw. Ein höchst unterhaltsame Inszenierung, die auf alle billigen Gags verzichtet, eine Aufführung, die zu den besten gehört, die ich in der Berliner Staatsoper gesehen habe.  Wir sahen die Aufführung am 7. Februar 2010. Es war laut Programmheft  die zweite Vorstellung nach der Premiere  am 4. Februar 2010.

„Ein Märchen aus uralten Zeiten…“. Lohengrin an der Deutschen Oper Berlin

Im Opernhaus auf der Bismarckstrasse hat man Wagnerfestwochen ausgerufen. Und alle, alle kamen. Nietzsches nervenschwache Jünglinge –„erstarrt, blass, atemlos“ – , die Zombies aus unseliger deutscher Zeit, die ewig schwatzenden lustigen Witwen – Wagner „ist verhängnisvoll für das Weib“, die sportlichen, bürgerlichen Habitus verachtenden Pseudointellektuellen, mit einem Wort:  „die Wagnerianer: das versteht nichts von Musik – und trotzdem wird Wagner über sie Herr…“.  Die Deutsche Oper Berlin feiert Wagnerwochen, eine willkommene Gelegenheit, eine angestaubte Inszenierung aus dem Jahre 1990 noch einmal aus der Mottenkiste zu holen, ein Spektakel, das ein einstens berühmter und mächtiger Theatermann erarbeitet hat. De mortuis nil sine bene. So sagen wir denn ohne alle Häme: es war eine klassische Inszenierung zu sehen, eine Beruhigungspille für die noch von Herheims Lohengrin Parodie in der Staatsoper schockierten Wagnerianer. Ganz anders als im Haus Unter den Linden versucht man sich  an der Bismarckstrasse erst gar nicht an einer Neuerzählung des Mythos. Hier ist alles so, wie es schon immer war: eine Bühne voller mittelalterlicher Krieger mit flachen Helmen und langen Spießen, Messdiener, Kommunionkinder, Kleriker in vorkonziliären liturgischen Gewändern, ein Bischoff mit Mitra, ein korpulenter König, den man seltsamerweise (vielleicht als Zugeständnis an die „Wendezeit“?) in eine ostdeutsche Offiziersuniform gesteckt hat, eine blond gelockte Elsa im weißen lange Kleide, die Hexe rothaarig und dunkel gekleidet, der böse Graf in schwarzem Leder. Und natürlich Lohengrin im silbernen Gewande. Nichts von beißender Ironie, nichts von böser Parodie, dafür ein Märchenspiel für kindlich gebliebene Erwachsene. Ja, und wenn der frustrierte Traummann, gestützt auf sein Schwert, seine Gralserzählung vorträgt, Elsa „entseelt“ zu Boden sinkt, die friesische Hexe den kleinen Prinzen zum Schlussakkord schon wieder einzufangen sucht, ja dann wir alle gerührt, ergriffen und begeistert, nicht ob des naiven Märchenspiels, das wir sahen, sondern ob der grandiosen Sänger, die man für diesen Abend engagiert hatte. Zwar sind sie allesamt nicht mehr die Jüngsten, und die drei Herren in den Hauptrollen agieren manchmal wie tapsige Bären. Allein tut’s. Brillant singen, das können sie alle noch. Unnötig zu sagen dass der Star des Abends Waltraud Meier hieß. In Gesang und Spiel übertrifft sie noch immer all ihre Mitspieler. Wir sahen die Vorstellung am 6. Februar 2010. Es war laut Programmheft die 54. Aufführung seit der Premiere am 23. 6. 1990.