Ein Kammerspiel um die Macht, eine Operette mit Herz und Schmerz, eine ‚Komödie für Musik‘ – Händel, Agrippina auf den Münchner Opernfestspielen 2019

All dies ist Händels dramma per musica vom Jahre 1709 – und für manche Progressisten und Feministinnen ist es noch mehr: die Geschichte einer „starken Frau“, die vor nichts zurückschreckt, wenn es gilt, ihre Machtposition zu bewahren und auszubauen.

Zum Glück für die Inszenierung und für die Musik lässt Theatermacher Barrie Kosky sich nicht auf ideologische Spielchen ein, sondern hält es mit dem Komödiantischen. Das gefährliche Intrigenspiel um die Macht, das Manipulieren aller Figuren, ob weiblich, ob männlich, beherrscht Agrippina (in der Person der Alice Coote) so meisterhaft, dass alle anderen nur noch Chargen sind: das naive Püppchen Poppea (alias Elsa Benoit), das am Ende doch noch den braven Ottone (alias Iestyn Davies) kriegt, der gefährliche Einfallspinsel Nerone (in der Person des Franco Fagioli), der  trottelhafte Lustgreis Claudio (alias Gianluca  Buratto), die beiden kleinen Intriganten und Helfershelfer Pallante und Narciso (Andrea Mastroni und  Eric Jurenas).

Doch in diesem Spiel ist der Plot gar nicht so wichtig. Und gleiches gilt für die Ausstattung. Auf leerer Bühne steht ein Stahlgerüst, ein, wenn man so will, drehbarer Käfig. Bei Bedarf öffnet sich oder teilt sich dieser und gibt den Blick frei auf ein aufsteigende Treppe und  auf mehrere kleine Räume. Mit anderen Worten: es gibt gleich mehrere Spielflächen, die simultan bespielt werden können. Ort und Zeit sind die unsrige. Entsprechend trägt man je nach dramatischer Situation Festtagskleidung oder Business Anzug.. Eine Ausnahme macht allein der ausgeflippte Nerone. Er präsentiert  sich im  Schlabberlook der Boys aus der Vorstadt.

In der Münchner Agrippina brilliert die Personenregie. Wie Barrie Kosky die Personen aufeinander hetzt, wie er sie zu Marionetten ihrer  jeweiligen Monomanien macht, das ist großes Theater. Und wenn dann noch dazu ausnahmslos alle Rollen in Stimme, Spiel und Bühnenerscheinung grandios besetzt sind und wenn das  „Bayerische Staatsorchester“ unter Ivor Bolton je nach Szene einen melancholischen, einen schwungvollen, einen witzig-ironischen  Händel spielt, dann kann man nur noch staunen und sich sagen: besser, brillanter, schöner, eindrucksvoller, hinreißender geht es nicht. Das ist Musiktheater in höchster Perfektion. „Heut –  hast du’s erlebt“.

Wir besuchten die Aufführung am 30. Juni 2019 im Münchner Prinzregententheater. Die Premiere war am 23. Juli 2019.

 

 

Machtspiele mit List und Gewalt. Händel zu Besuch bei Mussolini und seiner Clique. Agrippina am Theater an der Wien

Händel und Grimani und Carsen, der Musiker, der Librettist, der Theatermacher, sie alle kennen ihren Machiavelli und wissen von ihm, dass Macht sich nur mit List und Gewalt erobern und bewahren lässt. Doch anders als der kühle Florentiner begnügen sie sich nicht mit der Beschreibung und Analyse politischer Machtstrukturen. Sie ziehen den Machtwahn ins Lächerliche, vernichten die  Figuren in der Satire. Regisseur Robert Carsen geht noch einen Schritt weiter: nicht nur dass er die Satire aktualisiert, er ändert das Finale und kehrt zu Machiavelli zurück. Es gibt bei ihm keinen Komödienschluss, geschweige denn ein lieto fine. Der neue Machthaber greift zur Sicherung seiner Herrschaft als erstes zur Gewalt, lässt den möglichen Rivalen, die Geliebte, die ihn verschmäht und die Person, die ihn mit ihren Intrigen die Macht verschafft hat, umbringen.

Die machiavellistischen Gewalt- und Ränkespiele, die das Libretto in eine ferne Vergangenheit, in das Rom des Kaisers Claudius, verlegt hatte, transferiert die Regie in das faschistische Rom der Dreißigerjahre, macht aus dem Kaiser Claudius den Duce Mussolini , einen leicht vertrottelten älteren Herrn, den statt der Machtspiele nur die Sexspiele mit seinen Girls und die theatralische Selbstinszenierung für die Kameras interessieren. Ein Duce, der die Machtspiele seiner Gattin Agrippina, der die Ränke, Intrigen und Komplotte, mit denen diese ihren Sohn Nerone als Nachfolger des Duce aufbauen will, nicht im Geringsten durchschaut bzw. der diese gar nicht durchschauen will. Ihn interessieren nur seine Gespielinnen. Und die Folgen sind fatal.… → weiterlesen

Auf dem Laufsteg der Opernfiguren. Agrippina, eine brillante Händel Operette an der Staatsoper Unter den Linden

Zwischen der Bismarckstrasse und der Straße Unter den Linden liegen Welten. Dort präsentiert man am Samstagabend für verknöcherte Wagnerianer ein biederes Lohengrin Spektakel. Hier macht man am Tag darauf aus Händels Agrippina, der Geschichte von der machtbewussten, intriganten römischen Kaiserin, der es mit allen nur möglichen Finten gelingt, ihren Sohn Nero zum Kaiser zu machen, eine Operette in modernen Kostümen. Und dazu braucht es noch nicht einmal eines Bühnenbildes oder gar der Dekorationen. Es genügen ein großes Sofa, auf dem sich der Kaiser Claudius rekeln kann und glitzernde Fäden, die vom Schnürboden herabhängen und die die Illusion vom permanenten Regen, unter dem die Akteure stehen, erzeugt. Die Referenzen auf die populäre Wassersymbolik sind mehr als deutlich. Und wenn dann die Akteure große schwarze Regenschirme für phallische Positionen nutzen, dann haben wir alle im Publikum verstanden, dass Agrippina  bei allem Intrigengeplapper doch primär ein Lust-Spiel ist, das nicht von ungefähr zum Karneval in Venedig uraufgeführt wurde und dort in der Saison 1709/1710 mit überwältigendem Erfolg lief.  Spielfläche ist die glitzernde Bühne und dazu ein breiter Laufsteg zwischen Orchestergraben und Zuschauerraum. Auf dieser doppelten Spielfläche agiert und singt ein glänzend aufgelegtes Ensemble. Allen voran vielleicht Bejun Mehta und Anna Prohaska in den Rollen  des Ottone und der Poppea, doch auch alle anderen Sängerschauspielern stehen den beiden Protagonisten kaum nach. Selbst Maestro Jacobs, den man als einen eher bedächtigen Musiker kennt, als einen Musiker, der Händels Melancholien gleichsam bis zur Neige auszukosten liebt, ließ sich von der Leichtigkeit und Spritzigkeit der Inszenierung anstecken und bot einen temporeichen, geradezu witzigen Händel. Ja, in einer berühmten Passage, in der sich Händel selber zitiert (war es ein Stück aus Il Trionfo del Tempo e del Disinganno?) glaubt man seinen Ohren nicht zu trauen. Da lässt  doch der sonst so seriöse Maestro Händel geradezu im Walzertakt spielen. Der Witz der Inszenierung  liegt indes nicht nur in der Unbeschwertheit, der Leichtigkeit und der Eleganz, mit der das Produktionsteam (Vincent Boussard, Vincent Lemaire, Christian Lacroix) die Intrigen der Agrippina, die Trottelhaftigkeit des Claudius, die Verschlagenheit des kleinen Nero, die Naivität der Liebenden in Szene setzt, diese  parodiert und ironisiert und  dem Gaudi der Zuschauer aussetzt. Es gibt noch eine  zweite, eine subtilere Ebene der Inszenierung. Alle Figuren sind mal mehr, mal weniger Zitate, Kontamination von Zitaten aus Opernfiguren. Claudius, der auf den ersten Blick wie ein Kölner Karnevalsprinz daher kommt, ist zugleich ein lüsterner und dann wieder auch ein müder, resignierter Falstaff. Poppea, die bei ihrem ersten Auftritt an eine Art Butterfly erinnert, mutiert im zweiten Akt zur Almirena aus der Münchner Rinaldo Inszenierung. Agrippina ist eine moderne Mischung aus Armida und Carmen, die Hofschranzen erinnern an die beiden Intriganten Rosenkranz und Güldenstern aus dem Hamlet, der schmachtende Ottone ist ein Werther Verschnitt usw. usw. Ein höchst unterhaltsame Inszenierung, die auf alle billigen Gags verzichtet, eine Aufführung, die zu den besten gehört, die ich in der Berliner Staatsoper gesehen habe.  Wir sahen die Aufführung am 7. Februar 2010. Es war laut Programmheft  die zweite Vorstellung nach der Premiere  am 4. Februar 2010.