Klerikale Neurosen auf dem Dorfe. Verena Stoiber inszeniert den Freischütz am Badischen Staatstheater Karlsruhe

Dass  der arme  Max, der unglückliche Protagonist in Webers „romantischer Oper“, ein gravierendes Impotenzproblem hat und darüber zum totalen Versager wird, dass der Max unbedingt zum Urologen muss und auf die Couch von Doktor Freud gehört, das ist unseren Theatermachern nicht verborgen geblieben und ist wohl auch unseren Musikern bewusst.

In Karlsruhe halten sich Verena Stoiber und ihr Team mit derlei Klischees nicht weiter auf, zitieren sie nur hin und wieder in ironischer und parodistischer Verzerrung. Dem Mäxli helfen weder Beichtvater noch Teufel, weder die Dame vom Gewerbe noch eine zur Sakristeiziege mutierte keusche Agathe. Diese Agathe gehört wie Max auf die Couch, wenn auch aus anderen Gründen.

Für einen ganz anderen Ansatz als die konventionellen Inszenierungen  hat sich in Karlsruhe die Regie entschieden. Für sie steht nicht Max, sondern Agathe im Zentrum des Geschehens. Eine Agathe mit kurz gestecktem blonden Haar, weißer Bluse, Faltenrock und absatzlosen Tretern, von Kostüm und Maske her scheinbar eine altjüngferliche Person, die einen schweren klerikalen Schaden hat und in der Kirche das Frauchen für alles ist.  Doch der Schein trügt. Diese Agathe ist kein Engel. Bei Unterleibsproblemen – das erfahren wir gleich in der Ouvertüre – kann sie auf den hyperpotenten Kaspar zählen. Und dem Pfarrer   geht sie nicht nur  als Messdiener und Diakon zur Hand. Die Probleme, die ihr der Max macht, interessieren sie nicht sonderlich. Auch über den Selbstmord des armen Mannes  (oder hat ihn der böse Kaspar abgestochen?) kommt sie schnell hinweg. Sie hat ja den Pfarrer. So steht sie denn im Finale als blond gelockerter Engel mit diesem am Hochalter. Doch die blonden Engel – das wissen wir  ja noch von der gothic novel  oder auch von populären Filmen her –  sind keine Engel, sondern eher das Gegenteil.

Verena Stoibers  Agathe wohnt praktischerweise  gleich in der Kirche. Der Kirchenraum mit gotischem Gewölbe, mit Hochaltar und traditionellen Bänken bildet die Einheitsszene. So braucht man weder Forsthaus noch die deutschen Wälder. Die berüchtigte Wolfsschluchtszene wird zur schwarzen Messe, einer Feier, bei der ein zittriger, von Angst geschüttelter Max mit der Flinte in der Hand (Achtung: Symbolik!) durch den Kirchenraum irrt und Agathe im weißen Nachthemd dem Pfarrer als Messbuchablage dient, auf den Altar steigt und zur Hure von Babylon wird.… → weiterlesen

Elektra und Elektrakomplex. Keith Warner inszeniert Richard Strauss am Badischen Staatstheater in Karlsruhe

Die Karlsruher Elektra ist kein stimmgewaltiges Urweib, das alle Welt das Fürchten lehrt. Sie ist eine schmale kleine Frau mit eher verhaltener Stimme, traumatisiert vom Mord an ihrem Vater, ein Verbrechen, das sie ihrer Mutter und deren Geliebten anlastet. Sie ist besessen von der Vorstellung, diesen Mord rächen zu müssen. Eine Frau von Heute, die sich mit der Elekta des Mythos identifiziert.  – Ein Fall für die Praxis des Dr. Freud.

Elektra – diese Variante des Mythos schlägt die Regie vor – hat sich im Antike- Museum über Nacht einschließen lassen und erlebt dort Schrecklliches, eine Nacht, in  der sie sich in das Grauen aus archaischer Zeit  hineinträumt,  in der ihr die archaischen Figuren erscheinen, in der sie sich mit ihrer Mutter in der Wohnküche streitet – mit ihrer Mutter oder mit Klytämnestra? – , eine Nacht, in der der ersehnte Bruder – nicht als archaischer Heroe, sondern als amerikanischer Offizier – endlich erscheint, in der Wohnküche der Mutter den Kopf abschlägt  und  dem Geliebten der Mutter, der sich in das Bett der Stieftochter verkrochen hat, das Gemächte abschlägt und – vielleicht – Elektra in einem Heilschlaf von ihrem Trauma erlöst.… → weiterlesen

„Im Geisterhaus traumatischer Erinnerungen“ – oder narkotisierender Kitsch? Eine in Szene, Orchesterklang und Gesang brillante Walküre am Badischen Staatstheater Karlsruhe

Bei dieser Karlsruher Walküre stimmt einfach alles  – gleich vom ersten Takt und von der ersten Szene an. Da hetzt in der Ouvertüre die Badische Staatskapelle unter der Leitung von Justin Brown den flüchtenden Siegmund mit  Atem beraubendem Tempo. Da stürzt dieser geradezu auf die Szene, und Sieglinde steht schon für ihn bereit. Wo nur? In einem „Geisterhaus“, wie uns der Karlsruher Dramaturg wissen lässt. Dieses Haus besteht nur aus einem die gesamte Bühnenbreite einnehmenden Flur. Requisiten gibt es nicht. Drei Türen führen…Man weiß nicht wohin. Sind es Türen, die zu den „traumatischen Erinnerungen“ führen, von denen die Dramaturgie spricht? In der Tat stürzen aus diesen Türen Bruchstücke ihrer Kindheitsgeschichte auf Siegmund und Sieglinde ein. Beide sehen sich noch einmal als Kinder. Im Finale werden sich Kindheitserinnerungen und ‚Gegenwart‘ überlagern: Siegmund trägt eine noch kindliche Schwester auf seinen Schultern, und fliehen wird er mit der Braut und Schwester. Oder vielleicht fliehen sie gar nicht?  Bleiben sie im „Geisterhaus“ gefangen? Fliehen sie nur in ihrer Imagination? Im „Geisterhaus“ wird Übervater Wotan wie ein lebendig gewordenes Gemälde aus der Wand treten und Siegmund das Schwert zerbrechen, und Hunding wird ihm einen Speer – Wotans Speer – in den Rücken stoßen.… → weiterlesen

Die Komödie der Impotenten und Machtgeilen nebst Metatheater. Tobias Kratzer inszeniert Götterdämmerung am Badischen Staatstheater Karlsruhe

Ist die Götterdämmerung, die uns so gerne als schwerblütige Tragödie verkauft wird, nicht eigentlich und das trotz der Leichen, die am Ende auf der Bühne herumliegen, eine Komödie, eine zirkuläre Komödie, bei der Wagners Nornen nicht mehr weiter wissen und damit der Imagination der Theatermacher das Feld überlassen?

Bei Tobias Kratzer gibt es keine Nornen, keine Parzen mehr. Ihre Rollen haben  drei Theatermacher übernommen – wohl die drei Regisseure, die in Karlsruhe Das Rheingold, Walküre und Siegfried in  Szene gesetzt hatten, wobei jeder einzelne ein Stück verantwortete.

Jetzt hocken sie da zu Beginn der Götterdämmerung erschöpft und schlaftrunken auf ihren Regiestühlen vor dem Vorhang, der in großen Lettern „The End“ verkündet und wissen nicht weiter, schauen in die Partitur und ins Libretto –  und probieren es mal. Soll es dieser gemütliche, übergewichtige Siegfried, der sich in Unterhosen und Socken  aus dem Designer Schlafzimmer einer attraktiven Brünnhilde davon machen will und von dieser – zumindest vorläufig – wieder  eingefangen wird, soll es der ‚bringen‘? Ist das „der stärkste Held“, der nur mühsam Grane, das Roß, das ihm Brünnhilde überlassen hat, am Zügel halten kann ?  Die Nornen/Regisseure schicken ihn erstmal auf die Rheinfahrt.

Mit diesem tumben Kraftmeier, dem das „wild wütende Weib“  das „Fürchten gelehrt hat“, hat Hagen, eine Karikatur des geschniegelten Machtpolitikers von heute, leichtes Spiel. Und erst recht gilt dies für das gerade aus dem Schlafzimmer gekrochene Geschwisterpaar Gunther und Gutrune, zumal Gunther nicht so genau weiß, ob er sich nun zur „Felsenfrau“ oder zu kräftigen Männern wie Siegfried hingezogen fühlt. So wird er denn im Finale des ersten Aufzugs verzweifelt aus dem „Gemach“ der Walküre stürzen, seinen Unterleib schützen und Hilfe bei Siegfried suchen. Das ist bei Wagner der Anfang vom Ende für den armen Siegfried. Bei Kratzer wird diese Szene zur Komödie -, zur Komödienstadl-Szene: der impotente Liebhaber, die starke Frau, der Freund, der das Geschäft übernehmen muss usw.

Die Inszenierung nimmt den Wagner-Helden jeglichen Anflug von Tragik, macht sie zu Unterhosenhelden in einer Boulevardkomödie.… → weiterlesen

Unter Mafiosi im Casino. Tristan und Isolde am Badischen Staatstheater Karlsruhe

Zum Musiktheater in Karlsruhe gehe ich gern. Man muss schon sehr viel Pech haben, wenn man in eine nicht gelungene Aufführung gerät. Doch jetzt passierte es gleich zweimal hintereinander, dass äußere Umstände die Aufführung beeinträchtigten. Bei den Händel Festspielen im Februar dieses Jahres war es ein Unfall in der Bühnenmaschinerie (ein letztlich noch relativ glimpflich verlaufener Unfall), der nur noch eine konzertante Aufführung zuließ. Jetzt beim Tristan – man kann es kaum glauben – war es das pfeifende Geräusch eines  defekten(?) Hörgeräts, das den Basso continuo im zweiten Akt des Tristan beisteuerte, ein Misston, der Sänger und Musiker und große Teile des Publikums nervte. Doch Wagner hält auch die Misstöne aus dem Saale aus, und es war bewundernswert, wie alle Mitwirkenden es trotzdem schafften, die berüchtigte Wagner Droge ihrem Publikum zu bereiten.

Auch die Regie, der – mit Verlaub gesagt – nur eine recht banalisierende Variante des Mythos eingefallen war, war der Aufführung nicht gerade von Nutzen.… → weiterlesen

Die Venus Eva von Nürnberg nebst „Albtraum der Rezeptionsgeschichte“ und ihrer Komik. Tobias Kratzer inszeniert Die Meistersinger von Nürnberg am Badischen Staatstheater Karlsruhe

Ist es ein Sakrileg, wenn ich gleich sage, dass ich nicht wegen der Musik, sondern wegen der Inszenierung nach Karlsruhe gefahren bin? Nicht wegen Richard Wagner, sondern wegen Tobias Kratzer. Vor ein paar Jahren hatte uns in Leipzig sein so ganz ungewöhnlicher Admeto begeistert. Und jetzt waren wir neugierig, wie dieser „Opernregisseur des Jahres“ wohl Wagners ‚Komödie für Musik‘ in Szene setzen würde. Wir wurden nicht enttäuscht. Ganz im Gegenteil. Sieht man einmal von Stefan Herheims Traumerzählung ab – in diesem Sinne verstand dieser im vorigen Jahr in Salzburg die Meistersinger, dann ist Kratzers Inszenierung eine der brillantesten, die wir in den letzten Jahren gesehen haben.

Aus ihrer Konzeption macht die Regie von Anfang an kein Geheimnis: der eiserne Vorhang ist zugeklebt mit Aufführungsplakaten der Meistersinger aus den unterschiedlichsten Jahren und an den unterschiedlichsten Häusern. Das Signal an die Zuschauer ist eindeutig: Wir kennen die Tradition, wir zitieren sie, wir ‚schaffen Neues‘. Und so schaffen wir gleich im ersten Akt die Kirche ab und begnügen uns mit dem Übungsraum einer Musikhochschule. Im zweiten Akt da zitieren wir auf der Drehbühne gleich drei Formen der Rezeption: das biedermeierliche Butzenscheibenambiente zu Beginn, zur Fliederszene die Wieland Wagner Scheibe in dessen Inszenierung vom Jahre 1956, und bei der Beckmesser-Szene  und zum Finale  da sind wir dann bei der Trash Manie von heute angelangt. Im dritten Akt verzichten wir ganz auf den Plunder beim Aufzug der Stände auf der Festwiese. Die Festwiese ersetzt die Regie durch ein Fernsehstudio, in dem Beckmesser und Stolzing um den großen Preis singen, ein Wettstreit, den ein festlich gekleidetes Publikum auf den  Seitenbühnen über Großbildschirme verfolgt und kommentiert.  Hans Sachs darf seine nostalgische Rede auf die deutsche Kunst vor dem eisernen Vorhang halten, das Karlsruher Aufführungsplakat mit seinem Porträt aufkleben und sich mit den Resten der deutschen Kunst davon machen: mit ein paar Notenbüchern und einer Zierpflanze, die  allesamt in einem Pappkarton Platz finden.  Und Stolzing und Eva? Stolzing hat es zum Chorleiter an der Musikhochschule gebracht und während er den Choral einstudiert, da hat Eva sich schon den nächsten Liebhaber in den Vorraum bestellt. Ein zirkulärer Schluss oder Die Meistersinger von Nürnberg in der Endlosschleife.

All dies setzt die Regie mit ‚Witz‘ und Brillanz, souverän und gekonnt in Szene. Sie weiß um die Tragik und implizite Komik der Hans Sachs Figur und um die bei aller Aufgeschlossenheit für ‚Neues‘ simple Oberflächlichkeit des Stolzing, kennt das Sirenenhafte der Eva, die kleinbürgerliche Spießigkeit der kleinen Meister. Doch all dies lässt sie eher in der Schwebe, denunziert zu keinem Zeitpunkt die Figuren. Im Gegenteil. Sie aktualisiert sie und deckt dabei ‚Neues‘ an ihnen auf.

Kratzer erzählt die bekannte Geschichte neu oder setzt zumindest die Akzente anders und rückt dabei die Figur der Eva stärker ins Zentrum des Interesses. Das scheinbar so brave und wohl behütete Töchterchen eines Professors an der Musikhochschule – die Meistersinger sind wohl allesamt, ob jung oder alt,  kauzige Hochschullehrer, wie man sie zuhauf an  den Universitäten des Landes findet –  die scheinbar so brave Eva, mag sie auch so artig Choral singen, ist eine Venus aus der Kleinstadt. Zur Ouvertüre turtelt sie mit Professor Sachs an der Kaffeebar, beim Choralsingen flirtet mit einem Jungmann im proletarischen Outfit (bei Wagner ein gewisser Ritter Stolzing), in der Johannisnacht vergnügt sie sich mit ihrem proletarischen Liebhaber in und hinter Müllsäcken und schickt ihn anschließend los, Döner zu holen, zum Abschied von Sachs zieht sie diesen noch einmal schnell auf den Teppich, beim Preissingen kriecht sie durchs Studie und irritiert gezielt den armen Beckmesser, und im Finale da ist Ritter Stolzing wohl schon ein gehörnter Ehemann.  Der nächste proletarische Jungmann wartet schon im Vorzimmer.

„Wahn, Wahn! Überall Wahn“. Nicht ganz so, Professor Hans Sachs. Wahn vermischt mit Komik – so signalisiert es die Regie. Und damit trifft sie wohl den Sachverhalt. Die Meistersinger eine „Komödie für Musik“, bei der Altes und Neues durcheinander gewirbelt werden, Traditionen einfach nur Spielmaterial sind, Ingredienzen der Komödie mit ein paar Prisen Tragik gemischt werden und das alles ohne ideologischen Fingerzeig. Eine außergewöhnlich gelungene Inszenierung.

Und die Musik? Keine Frage, dass in Karlsruhe auf hohem Niveau musiziert und gesungen wird und dass, um nur ein Beispiel zu nennen, Renatus Meszar in der Rolle des Hans Sachs als Sänger und Schauspieler überragend ist. Bei den Karlsruher Meistersingern dominiert indes die Szene  und fesselt die Aufmerksamkeit des Publikums. Und so nimmt man – so erging es zumindest mir – Wagner letztlich nur noch als Soundtrack wahr. Präsent ist er indes immer: als Gipskopf auf der Bühne.

Wir sahen die Aufführung am 19. Juni 2014. Die Premiere war am 27. April 2014.