Bei dieser Karlsruher Walküre stimmt einfach alles – gleich vom ersten Takt und von der ersten Szene an. Da hetzt in der Ouvertüre die Badische Staatskapelle unter der Leitung von Justin Brown den flüchtenden Siegmund mit Atem beraubendem Tempo. Da stürzt dieser geradezu auf die Szene, und Sieglinde steht schon für ihn bereit. Wo nur? In einem „Geisterhaus“, wie uns der Karlsruher Dramaturg wissen lässt. Dieses Haus besteht nur aus einem die gesamte Bühnenbreite einnehmenden Flur. Requisiten gibt es nicht. Drei Türen führen…Man weiß nicht wohin. Sind es Türen, die zu den „traumatischen Erinnerungen“ führen, von denen die Dramaturgie spricht? In der Tat stürzen aus diesen Türen Bruchstücke ihrer Kindheitsgeschichte auf Siegmund und Sieglinde ein. Beide sehen sich noch einmal als Kinder. Im Finale werden sich Kindheitserinnerungen und ‚Gegenwart‘ überlagern: Siegmund trägt eine noch kindliche Schwester auf seinen Schultern, und fliehen wird er mit der Braut und Schwester. Oder vielleicht fliehen sie gar nicht? Bleiben sie im „Geisterhaus“ gefangen? Fliehen sie nur in ihrer Imagination? Im „Geisterhaus“ wird Übervater Wotan wie ein lebendig gewordenes Gemälde aus der Wand treten und Siegmund das Schwert zerbrechen, und Hunding wird ihm einen Speer – Wotans Speer – in den Rücken stoßen.
Ist dieser ganzer erste Akt mit einer in bläulich-dunkles Licht gehaltenen Szene ein tödlicher Albtraum, ein hoffnungsloser Traum eines Paares ohne Zukunft, eine Variante aus einem Fantasy-Film, ein Spiel mit dem Unterbewussten und dem Unbewussten, ein Fall aus der Praxis des Doktor Freud? Die Regie gibt keine Antwort, bietet nur Deutungsmöglichkeiten, überlässt die Antwort der Imagination des Zuschauers. Versuchen wir uns an einer: die Szene ist eine Traumwelt, eine Geisterwelt, eine „Virtual Reality Welt“, in der sich mit den Handelnden zugleich die Zuschauer verlieren, in der die Musik eine immer stärkere Sogwirkung erzielt, in der ein jugendlich-dynamisches „Zwillingspaar“ die „Liebe als Passion“, als Traum in einer filmischen Traumwelt erfährt. Ein grandioser erster Aufzug der Walküre.
Der zweite Akt beginnt scheinbar ganz `real‘ und, wenn man so will, mit einem Signal für die Freudianer im Publikum. ‚Das hohe Paar‘ streitet sich auf einer Treppe, die nach oben wie nach unten ins Nichts führt. Die Leiter oder auch die Treppe ist für die Freudianer ein Sex-Symbol. Hier ein Hinweis darauf, dass sich dieses Paar nie ‚vereinigen‘ wird oder kann. Hier hat die Treppe keinen Zielpunkt.
Mit dem großen, von so manchem Theatermacher gefürchteten Wotan-Monolog, sind wir wieder in der „Virtual Reality Welt“. Regisseur Yuval Sharon macht diese Szene zu einem Höhepunkt seiner Karlsruher Walküre. Wotan übersetzt bei ihm seine Geschichte in filmische Bildsequenzen und erzählt (Pardon: singt sie) aus dem Off. Er selber tritt in diesen Sequenzen als ein körperloser Geisterfürst auf, von dem nur der Kopf präsent ist, eine Kopf Installation, die vielleicht auf die grotesken Köpfe eines Gottfried Helnwein verweisen soll. Ein Gag, der vielleicht für die Kunsthistoriker im Publikum von Interesse ist. Für alle anderen bleibt wohl eine spannungsvolle, faszinierende Rückblende in Erinnerung, ein Wotan-Monolog, in der die Szene die Musik manchmal geradezu erschlägt, nein: in der sie zum einlullenden Sound-Track wird.
Der dritte Aufzug mit dem Walkürenritt ist ein Hoch-Fest der Bühnentechnik. Hier dürfen Bühnentechniker und Videokünstler so richtig zeigen, was sie können. Da gleiten die in rote Schneeanzüge gekleideten Walküren auf Motorschlitten durch eine virtuelle winterliche Hochgebirgslandschaft, und dazu rieselt wie im Märchen der Schnee. Auch im Finale schlägt für die Technik noch einmal eine glückliche Stunde. Im gläsernen Sarg taucht eine in tiefen Schlaf versenke Brünnhilde aus dem Untergrund hervor: Schneewittchen? Oder vielleicht wegen der langen roten Perücke eine präraffaelitische Schönheit?
Bei dem großen Spektakel wie es das Produktionsteam veranstaltet: Yuval Sharon als Regisseur, Sebastian Hannak als Bühnenbildner und Jason H. Thompson, der für die Videos verantwortlich ist, glaubt man sich im barocken Zaubertheater wieder zu finden, in einem Theater, in dem die Maschinen des Barocktheaters zu Spielzeugen der modernen Technik geworden sind. Illusionstheater, ein Theater der Effekte, das die Zuschauer in Erstaunen und Schrecken versetzen soll. Barocke Ästhetik im neuen Gewande.
Wenn sich wie jetzt in Karlsruhe das große Spektakel mit der unbestreitbaren Sogwirkung der Musik verbindet – auf den narkotisierenden Rausch der Wagner Musik verstehen sich in der Tat Maestro Brown und sein Orchester – ja, dann kann man sich als Zuschauer und Zuhörer nur geschlagen geben. Und wenn dann noch hinzu kommt, dass in Karlsruhe ein erstklassiges Ensemble singt und agiert: Peter Wedd als Siegmund, Katherine Broderick als Sieglinde, Heidi Melton als Brünnhilde, Renatus Meszar als Wotan, um nur die großen Rollen zu nennen, dann man nur sagen: „Heut – hast du’s erlebt“, einen begeisternden Wagner-Abend. Oder soll ich jetzt kritteln und sagen: welch ein narkotisierender Kitsch. Sei’s drum. Dann war’s halt Kitsch, ein faszinierender. Ein Kitsch, der mir gefällt.
Wir besuchten die Aufführung am 6. Mai 2018. Die Premiere war am 11 Dezember 2016.