Elektra und Elektrakomplex. Keith Warner inszeniert Richard Strauss am Badischen Staatstheater in Karlsruhe

Die Karlsruher Elektra ist kein stimmgewaltiges Urweib, das alle Welt das Fürchten lehrt. Sie ist eine schmale kleine Frau mit eher verhaltener Stimme, traumatisiert vom Mord an ihrem Vater, ein Verbrechen, das sie ihrer Mutter und deren Geliebten anlastet. Sie ist besessen von der Vorstellung, diesen Mord rächen zu müssen. Eine Frau von Heute, die sich mit der Elekta des Mythos identifiziert.  – Ein Fall für die Praxis des Dr. Freud.

Elektra – diese Variante des Mythos schlägt die Regie vor – hat sich im Antike- Museum über Nacht einschließen lassen und erlebt dort Schrecklliches, eine Nacht, in  der sie sich in das Grauen aus archaischer Zeit  hineinträumt,  in der ihr die archaischen Figuren erscheinen, in der sie sich mit ihrer Mutter in der Wohnküche streitet – mit ihrer Mutter oder mit Klytämnestra? – , eine Nacht, in der der ersehnte Bruder – nicht als archaischer Heroe, sondern als amerikanischer Offizier – endlich erscheint, in der Wohnküche der Mutter den Kopf abschlägt  und  dem Geliebten der Mutter, der sich in das Bett der Stieftochter verkrochen hat, das Gemächte abschlägt und – vielleicht – Elektra in einem Heilschlaf von ihrem Trauma erlöst.… → weiterlesen

Prima la Musica – poi la Resistenza. Capriccio an der Oper Frankfurt

Vorhang Capriccio Oper Frankfurt

Keine Capriccio Inszenierung ohne Bezug auf die Entstehungszeit und die Zeit der Uraufführung. Dass Capriccio, „ein Konversationsstück für Musik“ wie Richard Strauss seine letzte Oper nennt, mitten in der Zeit der Nazis geschrieben und komponiert und noch dazu mitten im zweiten Weltkrieg, im Jahre 1942, uraufgeführt wurde, dies hat offensichtlich bei den Theatermachern geradezu eine Zwangsneurose ausgelöst. Ein  Zeitbezug muss – koste es, was es wolle – in Szene gesetzt werden, mögen sich auch Bühnengeschehen und Musik gerade dem Zeitbezug widersetzen. „Allein was tut’s“.

So stellen denn die einen Gestapo Agenten an den Rand der Szene, die die Akteure im Finale abführen. Andere verlagern das Geschehen auf ein Gräberfeld, in dem Madeleine unter den Gefallenen nach ihren Freunden Flamand und Olivier sucht. Und in ihrer Erinnerung ereignet sich noch einmal das so schöngeistige Plaudern über den Vorrang von Musik oder Text, die Konversation über die Kunstform der Oper, der große Monolog über die Macht des Theaters und nicht zuletzt Madeleines Schwanken zwischen Musik und Poesie und deren Repräsentanten. Wieder andere transponieren das Geschehen auf die Probebühne und den Zuschauerraum eines ramponierten Theaters, machen die Tänzerin und die Schauspielerin zu Juden, die sich den Deportierten anschließen müssen und erfinden gleichsam als Zugabe eine nur eben angedeutete Liebesgeschichte zwischen Madeleine und ihrem Haushofmeister.

In Frankfurt hat sich die Regie für eine französische Variante der Zeitgeschichte entschieden: im Finale schließt sich Gräfin Madeleine zusammen mit ihren Musikern und Bediensteten der Résistance an.… → weiterlesen

„…den Schluss für ihre Oper? Gibt es einen, der nicht trivial ist?“ Richard Strauss, Capriccio am Théâtre de la Monnaie

Die Brüsseler Oper spielt noch immer in ihrem Ausweichquartier: ‚unweit‘ von La Gare du Nord, ‚unweit‘ von dem berüchtigten Problemviertel Molenbeek. Sie spielt in einem großen Zelt, das man auf einer Brache ein paar hundert Meter hinter dem Palais de la Monnaie Tour et Taxis errichtet hat. Wann sie wieder in die Innenstadt, in das Théâtre de la Monnaie, zurückkehren wird? Wer mag das wissen.

Kann man dort draußen, um es vorsichtig zu sagen, unter nicht gerade idealen Bedingungen überhaupt Musiktheater machen? Man kann es und sogar auf beträchtlich hohem Niveau. Denn dieses Mal präsentiert man anders als im vorigen Sommer, als mit Mitridate ein ärgerlicher Flopp produziert wurde,  mit Capriccio brillantes Musiktheater, das in Szene und Musik begeistert. Hier singen und spielen exzellente Sänger – an der Spitze  Sally Matthews in der Rolle der Gräfin Madeleine. Hier zelebriert unter der Leitung von Lothar Koenigs  das Orchestre symphonique de la Monnaie einen glitzernden Strauss. Hier präsentiert David Marton eine Inszenierung, der zweifellos das Attribut ‚sofisticated“ zukommt.

In welcher Zeit und an welchem Ort spielt Capriccio? Nicht im späten Ancien Régime, wie es das Libretto will, nicht in der Zeit als Glucks ‚Reformopern‘ sich gegen die italienische opera seria wandten, nicht in einem Schloss in der Nähe von Paris. Erzählte Zeit ist die Zeit der Uraufführung, die Zeit des zweiten Weltkriegs. Ort des Geschehens sind die Behelfsbühne, die Logen und der Zuschauerraum eines kleinen, heruntergekommenen Theaters irgendwo im „Reich“. Gleich fünf sich überlagernde Erzählungen kontaminiert die Regie: zwei, die sich aus der vordergründigen Handlung ergeben, eine hintergründige, die sich aus der Personenkonstellation ergeben könnte und zwei, die die erzählte Zeit nahe legen könnte. Und alle bleiben sie in der Schwebe, bieten keine Entscheidung, lassen den Schluss offen.

Die erzählte Zeit drängt sich nicht  mit aller Macht in den Vordergrund. Es dröhnen keine Bombenflugzeuge, und es fällt auch kein Staub von der Decke. Die Flugzeuge, die man hin und wieder hört, sind im Anflug auf den Brüsseler Flughafen. Oder sind die Flugzeuggeräusche doch Teil der Inszenierung? Wo ist die Fiktion? Wo ist die Wirklichkeit? Ist Monsieur Taube, der Souffleur, der im Finale einen kurzen Auftritt hat und der doch ständig präsent ist, mal im Zuschauerraum, mal auf der Bühne, mal unter der Bühne, der sich ständig Notizen macht, ist dieser Monsieur Taube vielleicht ein Beamter der Gestapo? Stehen das Theater und seine Mitwirkenden unter Verdacht? Sind die junge Tänzerin und das italienische Sängerpaar Juden, die der Gestapomann beobachtet und die er auf den Sammelplatz für die Deportation schickt? Zwei Erzählungen, die die Regie andeutet, in der Schwebe lässt  und die der Zuschauer ergänzen mag.

Offen bleibt – ganz wie es das Libretto will –  die Entscheidung über den Vorrang von Text oder Musik. Offen bleibt, auch hier ganz konventionell im Sinne des Librettos, die Entscheidung der Gräfin für den einen oder den anderen ihrer möglichen Liebhaber, für den Literaten oder den Komponisten. Offen bleibt auch die Entscheidung für den dritten der möglichen Liebhaber. Hält sich Frau Gräfin – diese Erzählung insinuiert die Regie – vielleicht einen ‚nicht standesgemäßen‘ Liebhaber, den Haushofmeister? Eine triviale Zugabe, eine Zugabe, die der italienischen Novellentradition entnommen sein könnte, eine Pointe, mit der die Regie die Konversation über die Funktion des Theaters und über den Vorrang unter den Künsten aufmischen will? Vielleicht. Ein Schluss, „der nicht trivial ist?“

Die Regie bietet noch einen anderen Schluss an: einen barocken Vanitas Schluss. Entgegen dem Libretto und wohl auch entgegen der Musik geht die Gräfin nicht „in heiterster Laune […] langsam ab“. Ganz im Gegenteil. Die Regie macht sie zur Melancholikerin. In ihrer Vorstellung sieht sich die Gräfin noch einmal als Kind, sieht sich als vom Haushofmeister hoffierte junge Frau und erahnt sich zugleich als einsame alte Frau – ohne Liebe, ohne Musik, ohne Literatur, ohne Theater? Ein Schluss, „der nicht trivial ist?“ Vielleicht.

Mit Capriccio unter der musikalischen Leitung von Maestro Koenigs und inszeniert von David Marton hat die Brüsseler Oper ein Highlight im Programm. Hoffen wir, dass weitere folgen. Wir sahen die Aufführung am 10. November 2016. Die Premiere war am 3. November 2016. Die Produktion ist eine Übernahme von der Opéra National de Lyon.

Im Ästhetizismus schwelgen oder Apoll als SS-Offizier? Capriccio und Daphne an der Semperoper Dresden

Im Rahmen der „Richard-Strauss-Tage“ bot die Semperoper ein Kontrastprogramm, wie es schärfer wohl nicht sein kann. Daphne, eine „bukolische Tragödie“ – so der Untertitel – und Capriccio, „ein Konversationsstück für Musik“ sind bekanntlich in der Nazi-Zeit entstanden und uraufgeführt worden. Bedeutet dies, dass, wenn man diese beiden Stücke in Szene setzt, ein Zeitbezug unbedingt hergestellt werden muss? Soll man die Daphne Tragödie, wie es die Intention des Komponisten und seines Librettisten will, sich in ferner unbestimmter mythischer Zeit ereignen lassen oder soll man sie aktualisieren? Soll man Capriccio, wie es seine Schöpfer intendierten, in der Rokoko-Zeit spielen lassen, in Rokoko-Kostümen Künstler und Adlige Salongespräche über die Hierarchie der Künste, über die gegenseitige Abhängigkeit von Wort und Musik und Szene führen lassen, alle Diskussionen in der Schwebe lassen und all dies mit einer galanten Liebesgeschichte verbinden und auch diese in der Schwebe lassen? Mit anderen Worten: soll man einfach Theater spielen, eine Oper, die von der Entstehung einer Oper erzählt, eine Metaoper, in Szene setzen?

In Dresden hat man sich für beide Möglichkeiten entschieden. Im Capriccio schwelgen Szene und  Orchester und Gesang in Schönheit und Glanz, lässt im Finale die berühmte amerikanische Sopranistin noch einmal geradezu wehmütig all die Virtuosität erklingen, die Strauss den Frauenstimmen in seinen Opern und Liedern zugedacht hat. Im Capriccio gibt  es keinerlei Zeitbezug. Es sei denn, man versteht dieses bedingungslose Ästhetisieren als Opposition und Protest gegen die Barbarei jener Zeit. Strauss hätten die so ganz seinen Wünschen entsprechende sanfte Interpretation seiner Musik und auch die Szene wohl gefallen. Eine vor mehr als zwanzig Jahren entstandene Marelli Inszenierung in der Tradition Ponnelles.

Ein Strauss Abend, wie man ihn in dieser Perfektion, in dieser perfekten Konventionalität, selten sieht und hört.

Am Abend zuvor Daphne: eine plakative Transponierung des Geschehens in die Zeit des SS-Staats.  Eine recht eigenwillige und ziemlich waghalsige Variante des Daphne-Apollo Mythos schlägt Torsten Fischer vor.  Daphne, die sich den Zwängen der rauschhaften Feste und dem Druck des Volkes und ihrer Eltern entzieht, ist Sophie Scholl.  Apollo wird zum über Leben und Tod befindenden hohen SS Offizier, der mit seinen gewaltbereiten Männern in das Fest einbricht und sich einer verschüchterten Daphne/Sophie nähert. In diesem Ambiente ist es nur folgerichtig, dass der verschmähte Liebhaber  Leukippos von Kostüm und Maske her ein Hitlerjunge ist und dass der SS Offizier seinen Rivalen von seiner Garde liquidieren lässt. Nicht genug damit. Aus der scheuen Liebesgeschichte zwischen Apollo und Daphne, wie sie das Libretto andeutet, wird eine amouröse Beziehung zwischen Sophie und dem stattlichen blonden Offizier. Selbstverständlich fehlen weder die jubelnden Massen, in die Sophie alias Daphne Flugblätter wirft noch die schwarz gekleideten Juden, die von den SS Männern zu einer Grube hin abgeführt werden. Im Tode gruppieren sich die Abgeführten zu einer Verästelung, zu einem nur eben angedeuteten  Gezweig.  Daphne wird im Finale zu den Toten hinunter steigen. Die Verwandlung in einen immer grünenden Lorbeerbaum, das heißt in ein Eins-Werden mit der Natur, wie sie die klassische Variante des Daphne- Mythos will, findet nicht. Verwandlung heißt für Daphne/Sophie Eins-Werden mit dem Tod.

Aus der „bukolischen Tragödie“, die Strauss und sein so gern geschmähter Librettist Joseph Gregor im Jahre 1938 für Dresden kreierten, hat die Regie ein makabres, wohl gezielt provozierendes  Horrorstück aus der Nazizeit gemacht. Ein Horrorstück, das Orchesterklang und Gesang, waren beide auch noch so brillant, geradezu erschlägt. Prima la messa in scena e poi la musica. Man mag die Variante des Mythos, die Torsten Fischer in Szene setzt, für abwegig halten. Doch immerhin wird der ‚Kern‘ des Mythos: die übermächtige vernichtende Gewalt und die Verwandlung bewahrt. Und  konsequent und stringent und noch dazu spannend erzählt ist die Inszenierung alle Male.

Wir sahen Daphne am 15. November 2014 (die Premiere war am 2. Oktober 2010). Capriccio am 16. November 2014 – die „46. Vorstellung seit der Premiere am 28. November 1993“.

 

Geschichten vom Herrn Mandryka. Arabella an der Semperoper

Eine recht seltsame Veranstaltung war da am Montagabend im Rahmen der Dresdner „Richard-Strauss-Tage“ 2014 zu erleben. Ein ausverkauftes Haus, die Kohorten der internationalen Luxus-Rentner im Parkett und im Rang, ein (wie nicht anders zu erwarten) begeistertes Publikum, das kritiklos alle Mitwirkenden feiert, der  bekannte Dresdner Stardirigent am Pult, eine Regie, die den Zuschauer nicht im geringsten fordert, zwei ‚Weltstars‘ der Opernszene als Protagonisten. Und – man mag es kaum glauben –in den ersten beiden Aufzügen pure Langeweile. Die Musik plätschert halt so dahin – uninspiriert und desinteressiert. Wollte uns der berühmte Maestro hören lassen, dass der späte Strauss in der Arabella wohl doch nur der Epigone seiner selbst sei? Erst im dritten Aufzug da dreht die Musik auf. Da erklingt endlich die glitzernde oder, wenn man so will, die kitschige Strauss-Musik, die so fasziniert und einlullt. Da wird dann endlich „lyrische Komödie“ gesungen und gespielt.

Pure Langeweile in den ersten beiden Akten  – mit Ausnahme der Szenen, in denen Mandryka (in der Person des Thomas Hampson ) auftritt. Ein Sänger und Darsteller, der mit seiner Bühnenpräsens und seiner machtvollen Stimme alle anderen Mitwirkenden geradezu an die Wand singt und spielt und dabei auch die so berühmte Sopranistin recht blass aussehen lässt. Natürlich bezaubert Anja Harteros noch immer mit ihrer so wunderschönen Stimme, ist  sie noch immer eine Strauss-Sängerin par excellence. Doch wenn das Regieteam  sie zur sentimentalen Zicke macht, die von Kindheit an auf den bärenstarken Mann, auf den „Richtigen“ wartet, sie  noch dazu in eine so ärmlich wie uncharmant  wirkende hellblaue Abendrobe steckt, dann hat sie es gegen einen so übermächtig wirkenden Hampson zusätzlich schwer. Von der Regie darf sie keine Hilfe erhoffen. Die lässt der Einfachheit halber meist von der Rampe singen  und begnügt sich mit Mätzchen. Nur zwei  Beispiele: damit wir auch alle im Publikum mitkriegen, wie Arabellas Traummann beschaffen ist, dürfen wir einen Blick ins Kinderzimmer werfen: dort spielt Arabella als Kind nicht etwa mit einem Teddybär, sondern hockt vor einem riesigen  Bären. Nicht genug damit. Damit  auch die gänzlich Unbedarften im Publikum merken, dass Mandryka  der Arabella den Himmel auf Erden bereiten will, tritt zur ersten Begegnung des Paares ein Double auf, fährt mit dem Fahrstuhl auf halbe Höhe, mimt dort ein Liebespaar oder, wenn man so will, ein heiliges Paar in himmlischen Höhen. Ja, wir wissen noch aus den Wiener Operetten: die Liebe ist eine Himmelsmacht.  War das nun Ironie oder Parodie? Ich fürchte, es war ernst gemeint.

Was soll man da noch mehr sagen? Dass die als Jüngling verkleidete Zdenka so hübsch androgyn ist und auch noch brillant zu singen weiß, dass das Leutnant Matteo auch nach der kurzen Liebesnacht mit der Zdenka nicht weiß, ob er hetero oder vielleicht doch schwul ist und deswegen schmollend in der Ecke stehen muss, dass der spielsüchtige Papa  nebst Gräfin und Kartenaufschlägerin für diesen Abend freien Ausgang aus dem Sängeraltenheim bekommen haben, dass der Besetzungszettel den Librettisten Hofmannsthal unterschlägt, dass es Programme schon eine halbe Stunde vor Vorstellungsbeginn nicht mehr gib? Oder soll man noch hinzufügen, dass zwei Weltstars zwar einen lukullischen Abend bereiten können. Aber Musiktheater ist das nicht. „Allein was tut’s“.  Ich hab‘ Euch singen gehört. Und es war grandios. Vergessen wir den Rest.

Wir sahen die Vorstellung am 10. November, die zweite Aufführung seit der Premiere am 7. November 2014.