Heterogene Phantasien. David Marton inszeniert La Damnation de Faust am Landestheater Linz

Wenn man in den letzten beiden Jahren zwei absolute Spitzenaufführungen der Damnation gesehen hat, dann sollte man nicht unbedingt zur nächsten Aufführung in die österreichische Provinz fahren, auch wenn ein so begabter Theatermacher wie David Marton inszeniert. Das kann nur mit einer Enttäuschung enden. Und so war es auch.

In Paris hatte Alvis Hermanis vor zwei Jahren eine aktualisierende Variante des Faust Mythos in Szene gesetzt, als er Stephen Hawking zum Doktor Faust des 21. Jahrhunderts machte, dessen Vorstellung von der Besiedlung fremder Planeten als Herausforderung des 21. Jahrhunderts aufgriff und mit Verweisen auf Bill Viola und Stanley Kubrik illustrierte. In Berlin, an der Staatsoper im Schiller Theater, hatte in der vergangenen Spielzeit Terry Gilliam die deutsche Kultfigur des Doktor Faust zu einer grotesken Comicfigur verdreht  und diese im Sumpf der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts waten lassen. Zwei Inszenierungen, die für die Berlioz-Rezeption zweifellos Maßstäbe gesetzt haben.

Jetzt in Linz hat David Marton, der uns in Brüssel mit einer vielschichtigen Capriccio Inszenierung begeistert hatte, eine wenig überzeugende Damnation de Faust vorgestellt.… → weiterlesen

„…den Schluss für ihre Oper? Gibt es einen, der nicht trivial ist?“ Richard Strauss, Capriccio am Théâtre de la Monnaie

Die Brüsseler Oper spielt noch immer in ihrem Ausweichquartier: ‚unweit‘ von La Gare du Nord, ‚unweit‘ von dem berüchtigten Problemviertel Molenbeek. Sie spielt in einem großen Zelt, das man auf einer Brache ein paar hundert Meter hinter dem Palais de la Monnaie Tour et Taxis errichtet hat. Wann sie wieder in die Innenstadt, in das Théâtre de la Monnaie, zurückkehren wird? Wer mag das wissen.

Kann man dort draußen, um es vorsichtig zu sagen, unter nicht gerade idealen Bedingungen überhaupt Musiktheater machen? Man kann es und sogar auf beträchtlich hohem Niveau. Denn dieses Mal präsentiert man anders als im vorigen Sommer, als mit Mitridate ein ärgerlicher Flopp produziert wurde,  mit Capriccio brillantes Musiktheater, das in Szene und Musik begeistert. Hier singen und spielen exzellente Sänger – an der Spitze  Sally Matthews in der Rolle der Gräfin Madeleine. Hier zelebriert unter der Leitung von Lothar Koenigs  das Orchestre symphonique de la Monnaie einen glitzernden Strauss. Hier präsentiert David Marton eine Inszenierung, der zweifellos das Attribut ‚sofisticated“ zukommt.

In welcher Zeit und an welchem Ort spielt Capriccio? Nicht im späten Ancien Régime, wie es das Libretto will, nicht in der Zeit als Glucks ‚Reformopern‘ sich gegen die italienische opera seria wandten, nicht in einem Schloss in der Nähe von Paris. Erzählte Zeit ist die Zeit der Uraufführung, die Zeit des zweiten Weltkriegs. Ort des Geschehens sind die Behelfsbühne, die Logen und der Zuschauerraum eines kleinen, heruntergekommenen Theaters irgendwo im „Reich“. Gleich fünf sich überlagernde Erzählungen kontaminiert die Regie: zwei, die sich aus der vordergründigen Handlung ergeben, eine hintergründige, die sich aus der Personenkonstellation ergeben könnte und zwei, die die erzählte Zeit nahe legen könnte. Und alle bleiben sie in der Schwebe, bieten keine Entscheidung, lassen den Schluss offen.

Die erzählte Zeit drängt sich nicht  mit aller Macht in den Vordergrund. Es dröhnen keine Bombenflugzeuge, und es fällt auch kein Staub von der Decke. Die Flugzeuge, die man hin und wieder hört, sind im Anflug auf den Brüsseler Flughafen. Oder sind die Flugzeuggeräusche doch Teil der Inszenierung? Wo ist die Fiktion? Wo ist die Wirklichkeit? Ist Monsieur Taube, der Souffleur, der im Finale einen kurzen Auftritt hat und der doch ständig präsent ist, mal im Zuschauerraum, mal auf der Bühne, mal unter der Bühne, der sich ständig Notizen macht, ist dieser Monsieur Taube vielleicht ein Beamter der Gestapo? Stehen das Theater und seine Mitwirkenden unter Verdacht? Sind die junge Tänzerin und das italienische Sängerpaar Juden, die der Gestapomann beobachtet und die er auf den Sammelplatz für die Deportation schickt? Zwei Erzählungen, die die Regie andeutet, in der Schwebe lässt  und die der Zuschauer ergänzen mag.

Offen bleibt – ganz wie es das Libretto will –  die Entscheidung über den Vorrang von Text oder Musik. Offen bleibt, auch hier ganz konventionell im Sinne des Librettos, die Entscheidung der Gräfin für den einen oder den anderen ihrer möglichen Liebhaber, für den Literaten oder den Komponisten. Offen bleibt auch die Entscheidung für den dritten der möglichen Liebhaber. Hält sich Frau Gräfin – diese Erzählung insinuiert die Regie – vielleicht einen ‚nicht standesgemäßen‘ Liebhaber, den Haushofmeister? Eine triviale Zugabe, eine Zugabe, die der italienischen Novellentradition entnommen sein könnte, eine Pointe, mit der die Regie die Konversation über die Funktion des Theaters und über den Vorrang unter den Künsten aufmischen will? Vielleicht. Ein Schluss, „der nicht trivial ist?“

Die Regie bietet noch einen anderen Schluss an: einen barocken Vanitas Schluss. Entgegen dem Libretto und wohl auch entgegen der Musik geht die Gräfin nicht „in heiterster Laune […] langsam ab“. Ganz im Gegenteil. Die Regie macht sie zur Melancholikerin. In ihrer Vorstellung sieht sich die Gräfin noch einmal als Kind, sieht sich als vom Haushofmeister hoffierte junge Frau und erahnt sich zugleich als einsame alte Frau – ohne Liebe, ohne Musik, ohne Literatur, ohne Theater? Ein Schluss, „der nicht trivial ist?“ Vielleicht.

Mit Capriccio unter der musikalischen Leitung von Maestro Koenigs und inszeniert von David Marton hat die Brüsseler Oper ein Highlight im Programm. Hoffen wir, dass weitere folgen. Wir sahen die Aufführung am 10. November 2016. Die Premiere war am 3. November 2016. Die Produktion ist eine Übernahme von der Opéra National de Lyon.