Vergeblich malt (inszeniert) der Künstler im Atelier die Utopie von der schönen heilen Welt. Die Hugenotten am Staatstheater Nürnberg

Höchst selten hat man Gelegenheit, Meyerbeers Grand Opéra vom Jahre 1836 in unseren Musiktheatern zu sehen und zu hören. Die Hugenotten hatten wir zum ersten Mal vor drei Jahren im Théâtre de la Monnaie gesehen, wo Marc Minkowski und  Olivier Py  ein grandioses Spektakel in Musik und Szene präsentiert hatten, eine Grand Opéra, bei der Melomanen wie Voyeurs auf ihre Kosten kamen.

Jetzt in Nürnberg geht man (ich spreche von der Szene, nicht von der Musik) anders als in Brüssel die Sache weit subtiler an. Zwar konnten auch in Nürnberg die Melomanen recht zuftrieden sei, wenn man auch dort nicht Stars der internationalen Opernszene wie Marlies Petersen und Julia Lezhneva aufbieten konnte. Hier richtete sich das Interesse – genauer: mein Interesse – primär auf das Regiekonzept. Wie in Leipzig bei seinem Admeto, wie kürzlich in Karlsruhe bei seinen Meistersingern verblüfft auch hier Tobias Kratzer sein Publikum mit einer originellen Inszenierungskonzeption. Ausgehend von der Grundidee, dass die Grand Opéra  in Szene und Ausstattung  ein ‚Showstück‘ ist, dass sie auf die großen Tableaux aus ist, lässt die Regie Tableaux als Theater auf dem Theater nachstellen und macht dabei die Figur des Grafen von Nevers, der im Libretto die feindlichen Lager, die Hugenotten und die Katholiken, miteinander versöhnen will, zu einem Historienmaler des 19. Jahrhunderts, der die Utopien der Versöhnung auf seiner Leinwand darstellen und als Tableaux vivants  nachstellen will.  Ganz wie es das Libretto will, scheitern der Maler und sein alter Ego, der Graf  von Nevers, kläglich. In romantischer Manier treten die Figuren aus den Bildern heraus, beginnen ihr eigenes Leben, wollen ihren Fanatismus ausleben, enden unwiederbringlich in der Katastrophe – zum Entsetzen des Malers, der mit ansehen muss, wie ihm die Produkte seiner Imagination entgleiten, wie keine Utopie von Frieden und Versöhnung das Gemetzel aufhalten kann.

Eine Metatheater Konzeption und zugleich eine romantische Konzeption – eben mit dem Motiv der desaströsen Verlebendigung von Kunstfiguren. Die Literaten kennen dieses Motiv von Victor Hugo oder von Eichendorff oder vielleicht auch von Bécquer her, und die Liebhaber der Malerei werden nicht minder ihre Wiedererkennungsfreude genossen haben. Im ersten Akt Tafelszenen nach Rembrandt und Frans Hals und noch dazu ein bisschen Delacroix, im zweiten Akt die Fêtes Galantes der Rokokozeit, im dritten Akt mit dem Einbruch der „Gargouilles“ und den Kampfszenen, da sind wir wohl wieder bei einem Delacroix Pastiche, und im Schlussakt, wenn ein Trupp von Katholiken die Anführer der Hugenotten erschießt, bietet sich die Referenz auf Goyas Dos de Mayo gleichsam von selber an. Wohl noch viele andere Highlights aus der Kunstgeschichte wird die Regie  fragmentarisch zitiert haben, um im Finale, wenn der Maler eine blutbefleckte Leinwand hochhalten wird, bei den leuchtend roten Farbsegmenten eines Miró angelangt zu sein.

Die kunsthistorische Perspektive – und das ist das Besondere an Kratzers Regiekonzeption – lenkt zu keinem Zeitpunkt von Musik und Libretto ab. Im Gegenteil. Die pessimistische, um nicht zu sagen, nihilistische Weltsicht, wie sie Meyerbeer und Eugène Scribe in den Hugenotten vertreten, wird mit den Referenzen auf die Kunstgeschichte nur noch verstärkt. Musik und Text und Bilder, sie alle erzählen von der Vergeblichkeit, vom Fanatismus, vom Fundamentalismus, die sich verselbständigen und keinen Platz für Utopien lassen.

Ein großer Opernabend, der mit seiner Grundidee, seiner Message, seinen Referenzen, mit seinen durchweg unbekannten Klängen Teile des Publikums wohl etwas überfordert hast. Schon nach der ersten Pause blieben nicht wenige Plätze leer. Und dabei müsste sich doch schon seit langem herumgesprochen haben, dass unsere Hausgötter Verdi und Wagner  so manches Meyerbeer zu verdanken haben: die großen Chöre mit ihren Massenauftritten, die eingängigen lyrischen Szenen, die großen Auftrittsarien, mit einem Wort: eine Musik, die auf Effekte hin angelegt ist. „Allein, was tut’s“. Mir und noch vielen anderen, die bis zum Schluss dabei waren, hat es gefallen. Am Nürnberger Opernhaus ist eine Rarität zu hören und zu sehen, die der Opernfan nicht versäumen sollte.

Wir sahen die Aufführung am 22. Juni 2014. Die Premiere war am 15. Juni 2014.

 

 

Die Venus Eva von Nürnberg nebst „Albtraum der Rezeptionsgeschichte“ und ihrer Komik. Tobias Kratzer inszeniert Die Meistersinger von Nürnberg am Badischen Staatstheater Karlsruhe

Ist es ein Sakrileg, wenn ich gleich sage, dass ich nicht wegen der Musik, sondern wegen der Inszenierung nach Karlsruhe gefahren bin? Nicht wegen Richard Wagner, sondern wegen Tobias Kratzer. Vor ein paar Jahren hatte uns in Leipzig sein so ganz ungewöhnlicher Admeto begeistert. Und jetzt waren wir neugierig, wie dieser „Opernregisseur des Jahres“ wohl Wagners ‚Komödie für Musik‘ in Szene setzen würde. Wir wurden nicht enttäuscht. Ganz im Gegenteil. Sieht man einmal von Stefan Herheims Traumerzählung ab – in diesem Sinne verstand dieser im vorigen Jahr in Salzburg die Meistersinger, dann ist Kratzers Inszenierung eine der brillantesten, die wir in den letzten Jahren gesehen haben.

Aus ihrer Konzeption macht die Regie von Anfang an kein Geheimnis: der eiserne Vorhang ist zugeklebt mit Aufführungsplakaten der Meistersinger aus den unterschiedlichsten Jahren und an den unterschiedlichsten Häusern. Das Signal an die Zuschauer ist eindeutig: Wir kennen die Tradition, wir zitieren sie, wir ‚schaffen Neues‘. Und so schaffen wir gleich im ersten Akt die Kirche ab und begnügen uns mit dem Übungsraum einer Musikhochschule. Im zweiten Akt da zitieren wir auf der Drehbühne gleich drei Formen der Rezeption: das biedermeierliche Butzenscheibenambiente zu Beginn, zur Fliederszene die Wieland Wagner Scheibe in dessen Inszenierung vom Jahre 1956, und bei der Beckmesser-Szene  und zum Finale  da sind wir dann bei der Trash Manie von heute angelangt. Im dritten Akt verzichten wir ganz auf den Plunder beim Aufzug der Stände auf der Festwiese. Die Festwiese ersetzt die Regie durch ein Fernsehstudio, in dem Beckmesser und Stolzing um den großen Preis singen, ein Wettstreit, den ein festlich gekleidetes Publikum auf den  Seitenbühnen über Großbildschirme verfolgt und kommentiert.  Hans Sachs darf seine nostalgische Rede auf die deutsche Kunst vor dem eisernen Vorhang halten, das Karlsruher Aufführungsplakat mit seinem Porträt aufkleben und sich mit den Resten der deutschen Kunst davon machen: mit ein paar Notenbüchern und einer Zierpflanze, die  allesamt in einem Pappkarton Platz finden.  Und Stolzing und Eva? Stolzing hat es zum Chorleiter an der Musikhochschule gebracht und während er den Choral einstudiert, da hat Eva sich schon den nächsten Liebhaber in den Vorraum bestellt. Ein zirkulärer Schluss oder Die Meistersinger von Nürnberg in der Endlosschleife.

All dies setzt die Regie mit ‚Witz‘ und Brillanz, souverän und gekonnt in Szene. Sie weiß um die Tragik und implizite Komik der Hans Sachs Figur und um die bei aller Aufgeschlossenheit für ‚Neues‘ simple Oberflächlichkeit des Stolzing, kennt das Sirenenhafte der Eva, die kleinbürgerliche Spießigkeit der kleinen Meister. Doch all dies lässt sie eher in der Schwebe, denunziert zu keinem Zeitpunkt die Figuren. Im Gegenteil. Sie aktualisiert sie und deckt dabei ‚Neues‘ an ihnen auf.

Kratzer erzählt die bekannte Geschichte neu oder setzt zumindest die Akzente anders und rückt dabei die Figur der Eva stärker ins Zentrum des Interesses. Das scheinbar so brave und wohl behütete Töchterchen eines Professors an der Musikhochschule – die Meistersinger sind wohl allesamt, ob jung oder alt,  kauzige Hochschullehrer, wie man sie zuhauf an  den Universitäten des Landes findet –  die scheinbar so brave Eva, mag sie auch so artig Choral singen, ist eine Venus aus der Kleinstadt. Zur Ouvertüre turtelt sie mit Professor Sachs an der Kaffeebar, beim Choralsingen flirtet mit einem Jungmann im proletarischen Outfit (bei Wagner ein gewisser Ritter Stolzing), in der Johannisnacht vergnügt sie sich mit ihrem proletarischen Liebhaber in und hinter Müllsäcken und schickt ihn anschließend los, Döner zu holen, zum Abschied von Sachs zieht sie diesen noch einmal schnell auf den Teppich, beim Preissingen kriecht sie durchs Studie und irritiert gezielt den armen Beckmesser, und im Finale da ist Ritter Stolzing wohl schon ein gehörnter Ehemann.  Der nächste proletarische Jungmann wartet schon im Vorzimmer.

„Wahn, Wahn! Überall Wahn“. Nicht ganz so, Professor Hans Sachs. Wahn vermischt mit Komik – so signalisiert es die Regie. Und damit trifft sie wohl den Sachverhalt. Die Meistersinger eine „Komödie für Musik“, bei der Altes und Neues durcheinander gewirbelt werden, Traditionen einfach nur Spielmaterial sind, Ingredienzen der Komödie mit ein paar Prisen Tragik gemischt werden und das alles ohne ideologischen Fingerzeig. Eine außergewöhnlich gelungene Inszenierung.

Und die Musik? Keine Frage, dass in Karlsruhe auf hohem Niveau musiziert und gesungen wird und dass, um nur ein Beispiel zu nennen, Renatus Meszar in der Rolle des Hans Sachs als Sänger und Schauspieler überragend ist. Bei den Karlsruher Meistersingern dominiert indes die Szene  und fesselt die Aufmerksamkeit des Publikums. Und so nimmt man – so erging es zumindest mir – Wagner letztlich nur noch als Soundtrack wahr. Präsent ist er indes immer: als Gipskopf auf der Bühne.

Wir sahen die Aufführung am 19. Juni 2014. Die Premiere war am 27. April 2014.

 

Spiel mir die Oper vom Tod. Don Giovanni als barockes Vanitas-Theater an der Oper Frankfurt

Wenn Christof Loy inszeniert und ein so berühmter Liedersänger wie Christian Gerhaher sein Debut als Don Giovanni gibt, dann sind die Erwartungen hoch, und, sagen wir es gleich, sie werden nicht enttäuscht. Loy hat einen ungewöhnlichen, einen Don Giovanni gegen den Strich in Szene gesetzt. Dieser Don Giovanni liebt nicht die Frauen, diesen Giovanni lieben nicht die Frauen, dieser Don Giovanni liebt einzig den Tod und sich selber und das Theater, in dem er das alte Stück vom Burlador de Sevilla noch einmal, ein letztes Mal spielt und spielen lässt. Die Bühne ein ausgeräumter Theatersaal in einem verfallenen Palast, vielleicht im Palast des Komturs, vielleicht im Palast des Burlador. Zu Beginn, zur Ouvertüre öffnet sich nicht der Vorhang, nein er fällt einfach herab, wird zur Kulisse, in dem die Toten vergraben werden und hinter und in dem sich die Lebenden verstecken können.  Ein ältlicher, müder Don Giovanni ist schon auf der Szene, ersticht den herbei eilenden Komtur, schaut dem Sterbenden in die Augen, zu lange in die Augen, und ist von nun an dem Tode verfallen, verfallen wie ein Liebender seinem Objekt der Begierde.

Was im Folgenden geschieht, sind Fetzen der Erinnerung, die bekannten Episoden, in denen Don Giovanni, ganz wie es das Libretto will, agiert und doch, ganz wie es die Regie will,  seltsam unbeteiligt ist. Die einzige Szene, in der  der aristokratische Verführungsdiskurs ihm scheinbar noch einmal gelingen wird, endet für ihn im Desaster. Nicht, oder nicht primär, weil Elvira interveniert, sondern weil ihn einzig der Diskurs, das Gerede von der Liebe interessiert, die Aktion ist nur eine ferne Erinnerung. Während Zerlina erwartungsvoll davon eilt, bleibt Don Giovanni einfach stehen: uninteressiert, in Gedanken verloren, müde und matt. Und das gleiche gilt für sein Verhältnis zu Elvira. Hier interessiert ihn noch nicht einmal mehr die Erinnerung an den Verführungsdiskurs, wie ihn die Dame aus Burgos vorträgt und ihm nachträgt. Elvira, die  –  ganz wie es  den Klischees eines spanischen Barockstücks entspricht – sich als junger Mann verkleidet hat, um in diesem Kostüm den entsprungenen Liebhaber wieder einzufangen, hat von der Todesverfallenheit  ihres scheinbaren Liebhabers nichts begriffen. Einzig Donna Anna kommt Don Giovanni in der Empathie zum Tode nahe. Nicht weil er ihre sexuellen Sehnsüchte erweckt hat – diese gängigen Deutungen interessieren die Regie nicht –, sondern weil er sie mit dem Tode konfrontiert hat, sie gleichsam mit dem Todesgedanken infiziert hat. Von dieser ‚Krankheit zum Tode‘ wird sie kein Ottavio befreien. Dieser Tod ist kein romantischer Tod und auch keine dekadente  Todessehnsucht. Dieser Tod ist ein barocker Tod, das Bewusstsein von der Vanitas, von der Vergänglichkeit und Nichtigkeit aller Pracht. Und in diesem Kontext ist es nur folgerichtig, dass Ort des Geschehens ein maroder, verfallener Palast ist, dass Don Giovanni kein Liebhaber und kein Empörer gegen eine wie auch immer geartete Ordnung ist, sondern ein müder  älterer Mann, der zum Fest im Palazzo und zur Bravourarie „Fin ch’han dal vino calda la testa“ von Leporello auf jugendlich geschminkt werden muss. Alles ist – ganz im barocken Sinne – nur Trug und Schein. So ist es wiederum nur konsequent, dass das Fest im Finale des ersten Akts kein ausgelassenes Fest oder gar eine Orgie ist, sondern ein Totentanz. Die Musiker, die zum Tanz aufspielen, tragen Totenmasken. Der Tod lässt aufspielen.

Das Todesthema, wie sehr es auch die Regiekonzeption bestimmt, ist nicht der einzige Träger, der einzige ‚générateur‘ der Inszenierung. Hinzu kommt als Komplementärthema der Narzissmus des Protagonisten. Nicht nur, dass er alle Akteure auf sich ausgerichtet sieht. Auch der Tod in der Person des Komturs ist nur sein Spiegelbild, und die höllischen Geister, die im Finale erscheinen, sind allesamt nichts anderes als geklonte Don Giovanni.

Don Giovanni als todessüchtiger Narziss in einem barocken Ambiente, der noch seinen eigenen Tod als Selbstinszenierung gestaltet. Dies mag wohl die Variante, die schlüssige und überzeugende Variante des Don Giovanni-Mythos sein, die Christof Loy in Frankfurt vorschlägt.

Keine Frage, dass eine solch subtile und anspruchsvolle Inszenierung nur gelingen kann, wenn der Regie wie hier in Frankfurt ein hochkarätiges, spielfreudiges Ensemble zur Verfügung steht. Ob der berühmte Mahler-Sänger der ideale Don Giovanni ist, darüber mag man vielleicht geteilter Meinung sein. Hier in der Christof Loy Inszenierung ist er von Stimme, Spiel, Kostüm und Maske der ideale Don Giovanni. Dass auch alle anderen Rollen höchst brillant besetzt sind, dass musiziert wird, wie es dem hohen Niveau des Hauses entspricht, all das versteht sich an der Frankfurter Oper gleichsam von selber. Ein großer Opernabend, der in Musik und Szene fasziniert.

Wir sahen die Aufführung am 25. Mai, die fünfte Vorstellung in dieser Inszenierung. Die Premiere war am 11. Mai 2014.

Alles ist doch nur Theater – wunderschönes Theater. Beim Genfer Ring zeigt das Münchner Theatermacher Duo noch einmal seine Künste. Und ein höchst brillantes Ensemble singt und agiert.

So viele Jahre, nein so viele Jahrzehnte, dominierten sie die Szene –  in den Kammerspielen und im  Residenztheater und nicht zuletzt auch in der Staatsoper. Und noch immer, wenngleich inzwischen abgedankte Herrscher wie Wotan und Alberich, verfügen sie über die Macht der Bilder, greifen mit leichter Hand  in ihre Theaterkisten, schaffen eine Welt der Illusionen und der Desillusionen, beherrschen noch immer souverän ihr Handwerk.

So zaubert das Duo Dieter Dorn und  Jürgen  Rose, ohne gleich neue Deutungen anbieten zu wollen, ohne ideologische Ansprüche, ohne  dem Zuschauer Welterklärungsmodelle  aufzudrängen, ein schön anzusehendes Spektakel auf die Bühne des Genfer Grand Théâtre, lässt einfach Theater spielen und steigert dieses Theater zum Theater auf dem Theater. Ein, wenn man so will, Metatheater, in dem ein scheinbar souveräner Gott Wotan und schließlich in der Götterdämmerung ein finsterer Hagen die Regisseure sind, Theatermacher und Hauptdarsteller zugleich. Diese Grundkonzeption wird von Anfang an  signalisiert und dem Zuschauer immer wieder neu vermittelt. Im Rheingold treten die Götter aus einer Art Zelt, besser: aus einem Marionettentheater heraus und tragen bei ihrem ersten Auftritt noch dazu Masken. Ein doppeltes Signal, wie es überdeutlicher nicht sein kann. Die Götter sind Theaterfiguren. Marionetten und Schauspieler. Jeder Verweis auf eine wie auch immer geartete ‚Wirklichkeit‘ ist abwegig. Wir spielen Theater und nichts anderes. Zu Beginn der Walküre und des Siegfried mimt Wotan den Theatermacher, der die Kulissen arrangiert, und zum Beginn des Gibichungen  Akts sitzen Gutrune und Gunther auf einer leeren Bühne auf der Bühne. Spielmacher  hockt  Hagen am Rande, begutachtet und organisiert das Geschehen. Auf dieser Bühne wird Brünnhilde ihren großen Wut- und Racheausbruch ‚spielen‘, und ein am Boden zerstörter Gunther wird dort einen Ohnmachtsanfall ‚mimen‘.  Alles ist doch nur Theater. Der Ring des Nibelungen ‚un gran teatro del mundo‘. … → weiterlesen

Wenn der Postmann zweimal klingelt…

Leipzig, dritte Aufführung von Strawinskys The Rake’s Progress am 24. April 2014. Zerlina ist verhindert und vermacht einem kleinen Mann vom Lande – nennen wir ihn Pécuchet – ihre Opernkarte. Als der silbrig glitzernde Lamettavorhang sich nach einem scheinbar harmlosen Auftakt in Schwiegervaters Garten zum zweiten Mal über dem Biedermann mit dem Allerweltsnamen Tom Rakewell (Norman Reinhardt) hebt, staunt der brave Provinzler Pécuchet nicht schlecht angesichts des Aufgebots an Verführungen, mit dem der Sündenpfuhl London seinem Bruder im Geiste bei dessen Ankunft in der Hauptstadt aufwartet. Bald an der einen, bald an der anderen Stelle, bald alle gleichzeitig aufblinkend, schweben in neonfarbenen lateinischen Lettern die sieben Todsünden wie Leuchtreklamen für einschlägige Etablissements von der Decke – Zerlina, da ist Pécuchet sich sicher, wär’s eine helle Freude gewesen! In einem als Planschpool ausstaffierten Puff zu Füßen der knallbunten Buchstaben üben sich die so spärlich wie schrill kostümierten „kopulierenden Körper“ der Chormitglieder im „Poppen zur poppigen Todsündenbeleuchtung“, schreibt Tobias Prüwer im aktuellen Stadtmagazin Kreuzer, während BILD Leipzig den Premierenabend „trotz Sex“ leider nicht „OPERGEIL“ fand und das bigotte Organ der Sittenwächter mit Damiano Michielettos Deutschlanddebüt eine neue „Schmuddel“-Ära heraufziehen sah: „Seit Konwitschnys Abgang haben wir derlei nicht mehr ertragen müssen. Mit Schirmer war wieder Pracht und Verzauberung ins Haus eingezogen. War’s das jetzt?“… → weiterlesen

Im Hospiz zu Charenton. Eine Wiederaufnahme von Barrie Koskys Fliegendem Holländer am Aalto-Musiktheater in Essen

Wagner in der Kapelle nebst Kanzel und Beichtstuhl, Wagner als Wirtschaftskrimi und jetzt Wagner unter Irren in  De Sades Hospiz zu Charenton. Wagners Opern halten so ziemlich alles aus, sind – vornehm gesagt – ‚offene Kunstwerke‘, sind auf Polyvalenz angelegt. Weniger vornehm gesagt: Wagners Opern sind eine Spielwiese für unsere Theatermacher, auf der sie ihre ‚Kunstfertigkeiten produzieren‘ können.

Wir haben zufällig binnen einer Woche drei ambitiöse Wagner-Inszenierungen gesehen: einen Tannhäuser in Freiburg, bei dem die Regie plakativ die Überlagerung von Christlichem und Paganem herausstellte und dabei dem Libretto noch relativ nahe blieb, einen Lohengrin in Düsseldorf als Wirtschaftskrimi in der Hochfinanz, bei dem vom traditionellen Lohengrin nichts mehr übrig blieb. Und jetzt in Essen einen Fliegenden Holländer, bei der Sentas Wahnvorstellungen radikal ernst genommen werden und wo diese konsequenterweise in einer psychiatrischen Klinik lebt, vulgo: im Irrenhaus. Zusammen mit den anderen Irren  spielt sie noch einmal ihre Geschichte, ein Stück, das zwei Herren, die aus Logen zusehen, wohl inszeniert haben.… → weiterlesen