Wenn der Postmann zweimal klingelt…

Leipzig, dritte Aufführung von Strawinskys The Rake’s Progress am 24. April 2014. Zerlina ist verhindert und vermacht einem kleinen Mann vom Lande – nennen wir ihn Pécuchet – ihre Opernkarte. Als der silbrig glitzernde Lamettavorhang sich nach einem scheinbar harmlosen Auftakt in Schwiegervaters Garten zum zweiten Mal über dem Biedermann mit dem Allerweltsnamen Tom Rakewell (Norman Reinhardt) hebt, staunt der brave Provinzler Pécuchet nicht schlecht angesichts des Aufgebots an Verführungen, mit dem der Sündenpfuhl London seinem Bruder im Geiste bei dessen Ankunft in der Hauptstadt aufwartet. Bald an der einen, bald an der anderen Stelle, bald alle gleichzeitig aufblinkend, schweben in neonfarbenen lateinischen Lettern die sieben Todsünden wie Leuchtreklamen für einschlägige Etablissements von der Decke – Zerlina, da ist Pécuchet sich sicher, wär’s eine helle Freude gewesen! In einem als Planschpool ausstaffierten Puff zu Füßen der knallbunten Buchstaben üben sich die so spärlich wie schrill kostümierten „kopulierenden Körper“ der Chormitglieder im „Poppen zur poppigen Todsündenbeleuchtung“, schreibt Tobias Prüwer im aktuellen Stadtmagazin Kreuzer, während BILD Leipzig den Premierenabend „trotz Sex“ leider nicht „OPERGEIL“ fand und das bigotte Organ der Sittenwächter mit Damiano Michielettos Deutschlanddebüt eine neue „Schmuddel“-Ära heraufziehen sah: „Seit Konwitschnys Abgang haben wir derlei nicht mehr ertragen müssen. Mit Schirmer war wieder Pracht und Verzauberung ins Haus eingezogen. War’s das jetzt?“

In das ländliche Idyll unseres naiven Helden und seiner Verlobten, die den sprechenden Namen Anne Trulove (Marika Schönberg) trägt, war Nick Shadow (Tuomas Pursio) als der Leibhaftige in Gestalt eines Postboten eingedrungen und hatte Tom den großen Reichtum vorgegaukelt, wollte er nur Anne zu Hause zurücklassen und sich mit ihm auf die Reise begeben. Mit doppelzüngigen mephistophelischen Einflüsterungen begleitet der Schattenmann seinen Schützling nun über zwei Akte auf seinem Parcours durch die Londoner Unterwelt, hat der ihm doch, ohne es zu ahnen, seine Seele verpfändet. Jahr und Tag schickt der Fürst der Finsternis, auf dessen nackter Brust wie eine Reminiszenz an seine Identität als gefallener Engel Luzifer ein überdimensioniertes Kreuz baumelt, Tom durch die Niederungen der einzelnen Kapitel des katholischen Sündenkatalogs: von luxuria (Bordellbesuch) über acedia (das Ausschlafen des Rausches und Erwachen in Ernüchterung), superbia (sich Hinwegsetzen über gesellschaftliche Konventionen und eigene Zweifel), gula (Naschsucht der ‚türkischen‘ Braut Baba mit orientalisch-ausladenden Formen, die Nick ihm zuführt), invidia  (Eifersuchtsszene zwischen Baba und der wieder aufgetauchten Anne, von Tom als das „Milchmädchen“ verleugnet, mit dem er noch eine Rechnung offen gehabt habe) und ira (Ehestreit und Zerwürfnis mit der frisch Angetrauten), bis er schließlich bei der avaritia angekommen ist und nach Fehlinvestitionen im großen Stil pleite geht.    

Die Karriere eines Wüstlings – so lautet der deutsche Untertitel der Oper – endet jäh nach Ablauf der Jahresfrist, als Satan von dem mittlerweile Mittellosen seinen Lohn einfordert. Der ewige Spieler, der sich längst verspekuliert hat, zockt ein letztes Mal; auf dem Spiel steht sein Leben, und zum Ärger seines teuflischen Widersachers gewinnt er es – allerdings um den Preis seiner Verblödung. Man sieht sich immer zweimal, sagt Volkes Mund, und so kann auch Anne, die dem untreuen Tom mit ihrer unerschütterlichen Liebe durch Aufstieg und Fall gefolgt ist, ihn vor dem Fluch letztlich nicht bewahren, sondern nur (noch) Schlimmeres verhindern. War es in der Eingangsszene in Truloves trautem Heim Nick, der im Verborgenen auf eine günstige Gelegenheit lauerte, den von schnellem Geld und Luxus träumenden Spießbürger beim Schopfe zu ergreifen, ist es nun, da mit Beginn des dritten Akts die grellen Verheißungen der Neonschilder erloschen sind und sich als rostige Käfige vom Bühnenhimmel auf den dunklen Grund herabsenken, Anne, die im Hintergrund dieses Friedhofsambientes über Toms Schicksal wacht. Fast ist man ein wenig bestürzt, als der Teufel sein Opfer aus dem Pakt entlässt und abtritt, denn während der vermeintliche ‚Wüstling‘ Rakewell eine insgesamt blasse Figur abgibt, die, ferngesteuert wie ein Statist, mehr oder weniger verloren durch die Szenerie stolpert und in seinen albernen Clownsmaskeraden stets etwas deplatziert wirkt, spielt und singt sein charismatisches Alter Ego ihn mit seiner raumfüllenden Bühnenpräsenz schlichtweg an die Wand. Ein Meister der Metamorphose, beherrscht Tuomas Pursio alias Nick Shadow, dessen optische Aufmachung wohl nicht ganz zufällig an den Namensvetter Nick Cave erinnert, virtuos die gesamte Klaviatur der Verstellung – von der Briefträger-Parodie über den Partydandy und falschen Priester bei der ‚getürkten‘ Hochzeit mit Baba bis hin zum kaltblütigen Seelensammler am Tag der Abrechnung.  

Doch die „Depri-Klamotte“ (O-Ton BILD vom 6.4.14) kippt auch nach seinem Abgang noch weiter, als der geniale Bühnenbau Paolo Fantins sich im dritten und letzten Bild abermals wandelt und sich unter der anfangs so heiteren Oberfläche menschliche Abgründe auftun. Von dem Freiluftbassin, einst Tummelplatz der Londoner Spaßgesellschaft und prall gefüllt mit ihren Spielutensilien, bleiben jetzt nur noch die schmutzigen Kachelwände einer düsteren städtischen Verwahranstalt für Verrückte übrig. Zwei Heterotopien im Foucault’schen Sinne, die beide als Orte der Schaulust und des Theatralen gelten können, bindet dieser Bühnenentwurf zusammen: das Boudoir und das Irrenhaus. Der Opernchor unter Leitung von Alessandro Zuppardo (der derzeit in Mario Schröders Ballettinszenierung des Mozart Requiem auch selbst auf der Bühne steht, indem er dem italienischen Schriftsteller und Regisseur Pier Paolo Pasolini Stimme und Gestalt gibt) bewältigt die eine wie die andere Herausforderung, die Orgien wie die Verkörperung der Schwachsinnigen, mit Bravour. Unter deren entsetzten Blicken verendet der gescheiterte Parvenü Tom Rakewell, der sich, umnachtet wie er ist, für Adonis hält und in seiner geliebten Anne nur mehr Venus zu erkennen vermag, als er sich, in seiner Verzweiflung buchstäblich ‚am Boden‘ angelangt, eine Plastiktüte über den Kopf zieht und elendig erstickt. Die faustische Wanderschaft „vom Himmel durch die Welt zur Hölle“ könnte mit diesem tragischen Tod zu Ende sein, würde jene Tragik durch eine diesseits des Vorhangs vorgetragene ‚Moral von der Geschicht‘ nicht erneut ironisch gebrochen.

The Rake’s Progress, Strawinskys einzige große Oper, datiert aus der neoklassizistischen Phase des russisch-französischen Komponisten Anfang der 1950er Jahre und kombiniert barocke Elemente wie das zu Zeiten Monteverdis und Bachs allgegenwärtige Cembalo (gespielt von Bo Price) mit der klassischen Form der Nummernoper Mozart’scher Prägung – Anthony Bramall, Dirigent und stellvertretender Generalmusikdirektor der Oper Leipzig, spricht in einem Beitrag für das Leipziger Fernsehen von Anklängen an Così fan tutte, während der Stoff für den englischen Text, zu dem sich das Librettistenduo Wystan Hugh Auden und Chester Simon Kallman vom Theaterpotenzial der um 1735 entstandenen gleichnamigen Kupferstichserie William Hogarths anregen ließ, unweigerlich an Don Giovanni denken lässt. Das schon seiner Genese nach hybride intermediale Produkt scheint uns mit der Leipziger Inszenierung, die in Kooperation mit dem Haus der Uraufführung (1951), dem venezianischen Teatro La Fenice, konzipiert und umgesetzt wurde, adäquat auf die Bühne gebracht. Es dominiert die Komponente der visuellen Überwältigung, des Spektakulären und ‚Opernhaften‘ (Immacolata Amodeo), das an diesem Abend – so würde der gute Pécuchet es ausdrücken – einen Hauch von Italien nach Leipzig weht.