Im Hospiz zu Charenton. Eine Wiederaufnahme von Barrie Koskys Fliegendem Holländer am Aalto-Musiktheater in Essen

Wagner in der Kapelle nebst Kanzel und Beichtstuhl, Wagner als Wirtschaftskrimi und jetzt Wagner unter Irren in  De Sades Hospiz zu Charenton. Wagners Opern halten so ziemlich alles aus, sind – vornehm gesagt – ‚offene Kunstwerke‘, sind auf Polyvalenz angelegt. Weniger vornehm gesagt: Wagners Opern sind eine Spielwiese für unsere Theatermacher, auf der sie ihre ‚Kunstfertigkeiten produzieren‘ können.

Wir haben zufällig binnen einer Woche drei ambitiöse Wagner-Inszenierungen gesehen: einen Tannhäuser in Freiburg, bei dem die Regie plakativ die Überlagerung von Christlichem und Paganem herausstellte und dabei dem Libretto noch relativ nahe blieb, einen Lohengrin in Düsseldorf als Wirtschaftskrimi in der Hochfinanz, bei dem vom traditionellen Lohengrin nichts mehr übrig blieb. Und jetzt in Essen einen Fliegenden Holländer, bei der Sentas Wahnvorstellungen radikal ernst genommen werden und wo diese konsequenterweise in einer psychiatrischen Klinik lebt, vulgo: im Irrenhaus. Zusammen mit den anderen Irren  spielt sie noch einmal ihre Geschichte, ein Stück, das zwei Herren, die aus Logen zusehen, wohl inszeniert haben.

Die Referenz auf das berühmte Stück von Peter Weiss – „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade“  – liegt auf der Hand. Hat man als Zuschauer diesen Verweis einmal begriffen, dann hat man keine Schwierigkeit, dem zunächst so befremdlichen Geschehen zu folgen. Dann ist es nur konsequent, dass Mary die energische Oberschwester im Hospiz ist, dass Erik zum sichtlich gestörten Assistenzarzt mutiert, der der Patientin Senta den Hof macht, dass Daland und sein Steuermann Geschäftsführer des Hauses sind, dass der Holländer ein Irrer ist, der wohl aus einer benachbarten Klinik entflohen ist und jetzt durch ein Mauerloch ins Hospiz eindringt.

Bei einer solchen Konzeption braucht man weder Schiffe noch Matrosen, noch Geistererscheinungen. Den Horror besorgen die Irren selber, wenn sie im dritten Akt die vollständig Debilen aus der geschlossenen Abteilung holen, diese auf Rollstühlen hereinschieben und mit diesen Rocky Horror Picture Show spielen. Und im Finale? Da stürzt sich Senta nicht vom Felsen, obwohl als ironische Referenz an Norwegens Küste jeweils ein riesiger Felsbrocken die Seitenbühne begrenzt und ein Senta Double schon mal vom Felsen lugt. Da läuft Senta auch nicht dem Holländer hinterher, da schneidet sie dem armen Irren einfach die Kehle durch, und schwupp ist er mausetot und erlöst. Eine sehr radikale Form der Erlösung.  Und Senta starrt nur vor sich – eingefangen in ihren Wahn und wartet wohl auf ihr nächstes Erlösungsopfer.

Ein irres Spektakel – frei nach der Szenenanweisung von Peter Weiss in seinem Marat –  ist da in Essen zu sehen. Konsequentes Theater auf dem Theater, nein, besser: irres Theater auf irrem Theater. Ein Irrsinn, der das Publikum begeistert und dem es zu Recht applaudiert. Star des Abends ist die Senta in der Person der Astrid Weber. Einfach irr, wie sie diese irre Rolle singt und spielt.

Und die drei Wagner-Inszenierungen im Vergleich? Theatermacher Barrie Kosky gebührt zweifellos der Lorbeer. Wir sahen die Aufführung am 21. Februar 2014, eine Wiederaufnahme der Inszenierung, die am 9. April 2006 Premiere hatte.