Der jüngere Zeitgenosse Glucks, der – so liest man es im Programmheft – mit seinen opéras comiques im späten 18. Jahrhundert sehr erfolgreich war und der mit seiner tragédie lyrique Andromaque vom Jahre 1780 gänzlich scheiterte, dieser André-Ernest-Modeste Grétry ist mir unbekannt. Die Musik mit ihren mächtigen Chorpartien, ihrer subtilen Charakterzeichnung der Figuren verweist wohl auf Gluck, vielleicht auf den Orfeo, vielleicht in den Wahnszenen des Oreste auf die entsprechenden Szenen in der Iphigénie en Tauride. Vielleicht. Die Musikhistoriker mögen es wissen. Vielleicht klingt alles auch nur wie ein Gluck-Verschnitt? Ich weiß es nicht. Lohnt sich wirklich die Ausgrabung? Hätte man zu Gluck-Festspielen nicht doch besser eine wenig gespielte Gluckoper herausbringen sollen? Ich weiß es nicht. Immerhin eine Vertonung von Racines Andromaque – und an diese lehnt sich das Libretto recht eng an – die reizt die Dilettantin unter den Opernbesuchern allemal, wenngleich sie schon als Studentin die Racine Stücke mit ihren Liebes- und Hasstiraden und ihrer verbiesterten jansenistischen Prädestinationsideologie langweilig und schwer erträglich fand. Langweilig ist die Geschichte, diese „fatale Konstellation frustrierten Begehrens“, wie sie sie ein renommierter Professor im Programmheft treffend nennt, nicht unbedingt, aber packend und hinreißend ist sie ihrer ahistorischen Abgehobenheit, wie sie uns in Nürnberg präsentiert wird, nun wiederum auch nicht (Pyrrhus liebt Andromaque, Andromaque den toten Hector, Pyrrhus hasst Andromaque und liebt sie dann doch wieder, Hermione liebt Pyrrhus und hasst ihn und liebt ihn wieder (als er tot ist), Oreste liebt Hermione, wird für sie zum Mörder an Pyrrhus, Hermione tötet sich selber, Oreste verfällt dem Wahnsinn). „Und jetzt sind sie alle tot“ – bemerkte eine Dame im Publikum, als der Vorhang fällt. Und da hat sie auch Recht. Nur ist ihr entgangen, dass die Gestalten, die sich so verhalten, so geziemend klassisch auf der Bühne bewegen, schon von Anfang tot waren. Die Regie zitiert offensichtlich ein einstmals berühmtes Sartre Stück: Huis clos, die ausweglose Situation von Menschen, die sich in der Hölle befinden, in der Beziehungshölle, und sich fortwährend gegenseitig mit ihren vergeblichen Wünschen und ihren nicht verwundenen Leiden quälen. Die Bühne ist ganz im Sinne dieser Konzeption ein geschlossener runder Raum mit unendlichen hohen Wänden. Alle Öffnungen führen ins Dunkel, ins Nichts. Einziges Requisit ist ein steinerner Alkoven: für Hermione das ersehnte Brautbett, für Andromaque Grabstätte Hectors, für Pyrrhus der Platz, an dem er seinen Mördern in die Hände fällt, für Oreste der Ort, an dem ihn die Erinnyen in den Wahnsinn treiben. Allgemeine Begeisterung im Publikum. Für die Ausgrabung einer längst vergessenen Musik? Für die in der Tat überdurchschnittlichen Sänger? Für eine achtbare, doch letztlich eher konventionelle Inszenierung? Wir sahen die Aufführung am 20. Juli 2010, eine Übernahme von den Schwetzinger Festspielen dieses Jahres.
Ma in Turchia son già mille tre. Kölns Don Giovanni vergnügt sich in Antalya
Die banalisierenden Degradationen des Don Juan Mythos, wie sie immer mehr in Mode kommen (unrühmliche Beispiele aus letzter Zeit sind der Trash Don Giovanni in der Bayerischen Staatsoper oder auch der Waldschrat Don Giovanni der Salzburger Festspiele), diese Herabziehung des Mythos mag ich eigentlich nicht sonderlich. Aber wenn der Mythos so spritzig (!) und so witzig, so ironisch und so parodistisch neu erzählt und in unsere Gegenwart versetzt wird, wie das in der Kölner Inszenierung geschieht, ja dann verschmerzen wir gern alle metaphysischen Bezugspunkte des Mythos. Regisseur Laufenberg und sein Team nehmen offensichtlich den Untertitel des Libretto „dramma giocoso“ im Wortverstande und setzen den Don Giovanni als heiteres Spiel, konkret: als soap opera in einem Strandhotel in der Türkei in Szene. Der Protagonist, ein blonder Kölner Jungmann aus der Oberschicht, und sein Gefährte, ein heruntergekommener Typ aus der Unterschicht, haben sich eine Suite gemietet und beobachten über eine Videoanlage das Geschehen im Hotel. So ist es ihnen ein Leichtes, die rothaarige, sexuell offenbar ausgehungerte Anna, die mit Papa und Möchtegernliebhaber im selben Hotel wohl Urlaub macht, auszuspähen, ein schnelles Opfer für Don Giovanni, der sich im Saunamantel bei ihr einschleicht – und Leporello beobachtet alles über die Videoanlage. Bei dieser Konzeption, in diesem Milieu überrascht es nicht, dass Annas Papa nicht mit dem Degen, sondern mit dem Golfschläger auf Don Giovanni losgeht, von diesem mit dem Küchenmesser erstochen wird, die Leiche schnell im Bad entsorgt wird, dass Elvira eine schnippische Blonde aus dem Norden ist, die ihrem vermeintlichen Gatten nachgereist ist und gleich von seinem Bett Besitz ergreifen will, dass Leporello zur Registerarie die Bildchen der Geliebten und Verlassenen auf die Videowand projiziert, dass Don Ottavio den Charme eines Gemüsehändlers mit intellektuellen Ambitionen hat, dass Donna Anna zur „Dalla sua pace…“Arie sich mit Don Giovanni verlustiert, (womit die Regie gleichsam so nebenbei das alte Problem : Hat sie was mit ihm oder nicht?) erledigt, dass Masetto ein türkischer Macho aus der Unterschicht ist, dass Zerlina mit türkischem Kopftuch daher kommt und für ihre vermeintliche Untreue erst einmal kräftig Prügel bekommt. So reiht sich denn Klischee an Klischee. Aber ganz anders als in der Kölner Carmen wirkt diese Klischee Montage nie langweilig oder altbacken. Die Gemeinplätze werden nicht nur mit Tempo und Schlag auf Schlag serviert, sie appellieren noch dazu an die alltäglichen Erfahrungen der Fernsehkonsumenten und der Türkeiurlauber: ja, so treiben die’s da droben und die da drunten, und am Strand von Antalya, da waren die Feste immer ganz wild, genau so wie jetzt auf der Bühne, und ohne Video und Handy geht gar nichts. Da singt doch tatsächlich der Don Giovanni sein Ständchen zu Beginn des zweiten Akts ins Handy, und eine Computerstimme antwortet ihm: “kein Anschluss unter dieser Nummer“. Ja, warum soll man Don Giovanni nicht auch mal als Musical oder als Operette oder meinetwegen als Kölner Karneval in einer Klischee Türkei aufziehen. Amüsant ist das alle Male. Ein Vorschlag an die Intendanz: lassen Sie ihren Don Giovanni zum nächsten Karneval doch von der Cäcilia Wolkenburg nachspielen. Dann hätten wir im Publikum noch mehr Spaß, als wir jetzt schon hatten. Doch im Ernst: in Köln ist ein herausragender, brillant besetzter Don Giovanni zu sehen und zu hören. Und das Orchester? Es ist unsichtbar und parodiert damit Bayreuth noch dazu. Bei der Wiederaufnahme in der nächsten Saison gehe ich noch einmal hin. Wir sahen die Aufführung am 8. Juli. Die Premiere war am 27. Juni 2010.
„Opernball im Theater an der Wien“. Die Fledermaus als Theater auf dem Theater
In Wien – so liest man es in Wiener Tageszeitungen – sind Experimente mit der Fledermaus verpönt und wohl erst recht dann, wenn das experimentierende Produktionsteam nicht aus dem Land der Habsburger stammt. Ja, da erkühnen sich doch tatsächlich der Dirigent Cornelius Meister und der Regisseur Philipp Himmelmann am ‚geweihten Ort’, am Ort der Uraufführung der Fledermaus, im Theater an der Wien, diese gänzlich zu entstauben, die üblichen albernen Einlagen zu streichen, die Rolle des versoffenen Gefängniswärters Frosch ganz wegfallen zu lassen (die wenigen dramaturgisch relevanten Sätze des Frosch übernimmt der Dr. Falke gleich mit) und statt der Polka und des Walzers, auf die die konventionellen Inszenierungen nicht verzichten wollen, das Froschkönigballett, das Strauß für den zweiten Akt vorgesehen hatte, spielen und tanzen zu lassen. All diese Änderungen vermag der verknöcherte Fledermausanhänger gerade noch hinzunehmen. Ja, das dann aber auch noch die ehrwürdige Institution des Wiener Opernballs herabgezogen, zum Spielort für die Fledermausintrige gemacht wird und das noch dazu die zum Operball Eingeladenen ‚die Rache der Fledermaus’ spielen und zur Ouvertüre die Vorgeschichte der Fledermaus als Pantomime in Form eines Pfänderspiels in Szene setzten und der arme Dr. Falke sich unter dem Gelächter der ganzen Gesellschaft am Ende der Ouvertüre als Transvestit outen muss, ja eine solche Konzeption muss den Gralshütern der Straußoperette geradezu als Blasphemie vorkommen. Sei’s drum. Wir im Publikum haben uns trefflich amüsiert. Wir? Nein, nicht alle. Wer den im Grunde doch so einfachen Inszenierungstrick, die stringent durchgezogene Konzeption vom Theater auf dem Theater („Und wir alle spielten mit“) nicht mitbekommen hat, der Arme war gar übel dran – wie die ewig dazwischen schwatzende alte Dame neben mir, die ihre Fledermaus nicht mehr wieder erkannte oder wie das Liebespaar vor mir, das die Operette wohl als ein zu lang geratenes ‚Vorspiel’ verstand und seine Lust kaum ‚verdrängen’ konnte. Und dabei konnte man doch (ohne jeglichen Freudkomplex) so viel Spaß an dieser Inszenierung haben. Da wurde flott, ohne alles Scheppern, musiziert, da sang und agierte mit aller Spielfreude und noch dazu mit Selbstironie ein Ensemble der Spitzenklasse: da ist der gelangweilte Prinz Orlofsky die Karikatur seiner selbst (und den Countertenor karikiert er gleich noch dazu), da ist die Rosalinde eine selbstbewusste junge Frau, die ihren Mini-Don Giovanni das Fürchten lehrt. Adele ist kein Kammerkätzchen, sondern eine der Mitarbeiterinnen des Opernballs, die mal schnell in eine neue Rolle springt, der Gefängnisdirektor ist kein seniler Säufer, sondern ein dynamischer junger Mann, den sich der Spielleiter Falke für die entsprechende Rolle ausgesucht hat, der Sänger Alfred ist kein abgetakelter Knödeltenor, sondern ein Starsänger, der von der (fiktiven) Opernloge herab seine Rosalinde ansingt und anhimmelt und ihr, als er für den Ehemann die Arreststrafe antreten soll, vor Schreck und vor Lust auch schon mal unter den Rock kriecht, das berühmte ‚Ührchenduett’ wird mal nicht vor dem Vorhang gesungen, sondern als große Szene gestaltet, in der die ganze Operngesellschaft nach dem ‚Ührchen’ lechzt (die Symbolik ist mehr als eindeutig). Das Gefängnis gibt erst gar nicht. Nur ‚Winterstürme’, die Schnee in die Festgesellschaft hineinwirbeln, Schnee, in dem der Dr. Falke versinkt und zum Schrecken der Ballgesellschaft als eine Art Schneemonster wieder auftaucht. Doch der Schrecken ist nur von kurzer Dauer. Falke klopft sich den Schnee vom Smoking, und als Spieleiter bringt er die Intrige vom Möchtegern-Don Giovanni, der sich ‚in eigner Fessel fing’ auf dem Opernball zu Ende. Eine brillante Inszenierung. Mit anderen Worten: im Theater an der Wien ist zurzeit (bis zum 8. August) eine Fledermaus der absoluten Spitzenklasse zu sehen und zu hören. Wir sahen die Vorstellung am 17. Juli. Die Premiere war am 15. Juli 2010.
Carmencita und Joselito. Zur Wiederaufnahme der Carmen in der Kölner Oper
Carmencita und Joselito. Zur Wiederaufnahme der Carmen in der Kölner Oper
Wo ist denn eigentlich die Erotik, wo findet sich denn eigentlich die Passion in der Carmen? In der Habañera? In der Blumenarie? Im Schlussgejammer des armen José? Im Toreromarsch? Oder vielleicht im Hüftschwung der Sängerin? Vielleicht auch in den langen Beinen der Sängerin? Das ist doch alles nur Kleinbürger- und Spießererotik, was sich da auf der Bühne tut und was da aus dem Orchestergraben schallt. Ja, ich weiß, der alte Nietzsche, dieser hinterhältige Ironiker, stellt in seiner Abrechnung mit Wagner Bizet weit über Wagner. Bizets Musik „scheint mir vollkommen. Sie kommt leicht, biegsam, mit Höflichkeit daher“. Mit Verlaub: ich halte es da allemal lieber mit dem Wagnerschen Orchesterklang. Mag der Philosoph diesen auch einen „Schirokko“ nennen, der ihn zum Schwitzen bringt. Wo ist die Erotik in der Carmen? Bei der Kölner Carmen Aufführung fand sich die Erotik im Zuschauerraum. Das Haus war voller Schulklassen. Lolitas im Massenaufgebot, denen wohlmeinende Musiklehrerinnen wohl eingeredet hatten, Carmen sei Amore pur. „Und wie fandst Du das?“ – „Langweilig, langweilig“ – so die Vierzehnjährige neben mir. Und Lolita hat Recht. Die Inszenierung, eine Wiederaufnahme einer Produktion eines berühmten Theatermachers, die vor mehr als zehn Jahren Premiere hatte, war Langeweile pur. Hundert Klischees – hier aus dem Spanien Tourismusbuch der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts – werden durch ihre bloße Aneinanderreihung noch nicht zum Ereignis, auch wenn uns dies ein gewisser Professor und Literat aus Bologna weismachen will. Hundert Klischees produzieren nichts anderes als Langeweile. Ja, natürlich ist der Traumdiskurs nach der Pause ein hübscher Einfall, ist die Militarysatire im ersten Akt unterhaltsam, macht das geschlitzte rote Kleid, das die Carmencita bei ihrem ersten Auftritt trägt, etwas her. Aber wenn dann die Chorsängerinnen, die durchweg dem Teenyalter entwachsen sind, im kurzen schwarzen Unterkleidchen auf verrucht machen, ja dann kommt einem nur noch das Gähnen. In Ihrer Kölner Carmen Inszenierung, sehr geehrter Herr Loy, da haben Sie zweifellos das Altenheim begeistert („Auf Ibiza da war der Kellner auch immer eifersüchtig auf die Carmen von der Rezeption. Aber mit dem Messer ist der nicht auf die losgegangen? Oder?“) – ein junges Publikum haben Sie an diesem Abend nicht für die Oper gewonnen. Wie schade. Sie können es doch so viel besser. In Frankfurt, in Ihrer Così fan tutte, da hat sich niemand gelangweilt. Da sind die Lolitas ‚betroffen’ nach Hause gegangen – und so soll es auch sein. Wo ist die Erotik in der Carmen? Fehlanzeige. Erotik? Schlag nach bei Mozart und bei Wagner. Wir sahen die Aufführung am 9. Juli 2010, die laut Besetzungszettel „43. Vorstellung (Premiere am 25. Februar 2000)“.
Salome und die Meistersinger als Kontrastprogramm zum „Zuri-Fäscht 2010″
Salome und die Meistersinger als Kontrastprogramm zum „Zuri-Fäscht 2010“
Man stelle sich einmal einen Augenblick vor, das Münchner Nationaltheater, die Bayerische Staatsoper, stünde mitten auf der Theresienwiese, mitten drin im Oktoberfest. Während man im Hause hinter schalldichten Mauern und Türen Wagner und Strauss zelebriere, brande draußen vor der Tür der Trubel des bayerischen Bierfestes. Eine etwas skurrile Vorstellung, die vielleicht manchen Anhänger der ‚hohen Kunst’ erschaudern lässt. In Zürich kennt man keine Berührungsängste zwischen Hohem und Niedrigem, zwischen Groteskem und Sublimem. Da steht der Musentempel mitten drin im „Zuri-Fäscht“.… → weiterlesen
Das Trauma vom Frühlingserwachen oder ein Fest für eine Sopranistin. Daphne an der Oper Frankfurt
Das Trauma vom Frühlingserwachen oder ein Fest für eine Sopranistin. Daphne an der Oper Frankfurt
Der späte Strauss, so liest man mancherorts, sei nur noch der Schatten des einstigen Genies gewesen und als er dann nach dem Tode Hofmannsthals und der Emigration Stefan Zweigs bei der Daphne an einen Wiener Kleinliteraten als Librettistin geraten sei, da sei es eigentlich aus mit ihm gewesen. Lassen wir es einmal dahingestellt sein, ob das Konglomerat aus Mythemen des Apollo/Daphne- und des Dionysosmythos, aus Dreiecksgeschichte und Freudscher Triebverdrängung, das Joseph Gregor für Strauss fabriziert hat, wirklich so einfältig ist, wie mancherorts behauptet wird. Immerhin hat es Strauss dazu inspiriert, seine glitzernde Welt der Klänge und der Koloraturen noch einmal aufzubereiten und wenn dann wie jetzt in Frankfurt so herausragende Strauss Sänger wie Juanita Lascaro als Daphne und Lance Ryan als Apollo auf der Bühne stehen, dann verzaubert auch noch die Musik des späten Strauss. Natürlich ist die Daphne keine Salome und keine Zerbinetta. Doch Möglichkeiten, mit ihrer Kunst zu brillieren, bietet auch die Rolle der Daphne einer Sopranistin in Fülle – und in Frankfurt weiß die Protagonistin diese zur Begeisterung des Publikums zu nutzen. Zur Faszination des Abends trägt auch die durchdachte und zugleich spektakuläre Inszenierung bei. Regisseur Claus Guth hält sich mit der Verwandlungsszene und den mythischen Materialien, wie man sie bei Ovid findet, gar nicht weiter auf: die Nymphe Daphne – so heißt es bei Ovid – kann sich der Nachstellungen Apolls kaum noch erwehren, und erschöpft von der Flucht vor dem verliebten Gott bittet sie um Hilfe. Diese wird ihr in der Weise zuteil, dass sie vor den Augen Apolls in einem Lorbeerbaum verwandelt wird. Guth erzählt die Geschichte im Rückblick, aus der Perspektive einer zur alten Frau gewordenen Daphne, die noch einmal an den jetzt verfallenen Ort des Geschehnes zurückkehrt, ihre Geschichte noch einmal erlebt, ihr Trauma noch einmal erfährt: ihren vergeblichen Versuch, sich vor den Menschen in die Natur, zu den Pflanzen und Bäumen zu flüchten, die Leidenschaft, mit der sie ihr Freund aus Kindertragen bedrängt, das Dionysosfest, auf dem die maskierten Anhänger des Gottes sie zu vergewaltigen suchen, die anhaltenden Nachstellung des verliebten Fremden (eine Rolle, die der Gott Apoll angenommen hat), die gewalttätige Eifersucht des Fremden, der den Jugendfreund tötet, das Entsetzen über die Tat, die Flucht … Es sind gleichsam Filmsequenzen, in denen sich die Greisin Daphne als junges Mädchen wieder erkennt, eine Frau, die all ihre Geschlechtlichkeit zu verdrängen suchte und gerade deswegen zum Objekt der Begierde wurde. Anders als in vielen seiner sonstigen Arbeiten will Guth bei seiner Frankfurter Daphne den Mythos nicht aktualisieren oder neu verorten. Die Erzählung bleibt im zeitlich und örtlich Unbestimmten, wird zum Albtraum einer Verstörten. Ein großer Opernabend in Frankfurt. Wir sahen die Aufführung am 26. Juni 2010, die neunte Vorstellung. Die Premiere war am 28. März 2010
Nachtrag vom 10. Februar 2019
Bald neun Jahre ist es her, dass wir die Claus Guth Inszenierung der Daphne in Frankfurt sahen, eine Inszenierung, die nicht im Geringsten abgespielt ist. Ganz im Gegenteil. Beim Wiedersehen wird man auf Deutungen aufmerksam, die einem damals entgangen sind. Nur ein Beispiel: die „bukolische Tragödie“, wie sie Guth versteht, ist auch ein Kinderschänderstück. Daphne ist eben nicht nur das Opfer Apolls, wie es die gängige Variante des Mythos will. Ihre Traumata, ihre sexuelle Gestörtheit, ihre Flucht in das Vegetative, gehen auf ihre Kindheit zurück. Sie ist das Opfer eines Inzest, Opfer ihres Vaters (in der gängigen Variante der Flussgott Peneios). Diese zunächst befremdende Deutung fügt sich ein in das Spiel mit den Mythen. Daphne, die Schutz in der Natur sucht und zum Lorbeerbaum wird ist zugleich Myrrha, das Opfer des Inzests, das in einen Myrrhe-Baum verwandelt wird.
Natürlich braucht man das Spiel mit den Mythen und die impliziten Verweise auf Freud gar nicht zu verfolgen. Es genügt, sich an den ‚glitzerten Klangteppich‘ der Strauss-Musik und an die so exzellenten Stimmen zu halten. Und man erlebt einen Strauss Abend der Extraklasse – mit Jane Archibald in der Titelrolle und Andreas Schager als Apollo.