Absurdes Theater, Western, Schwarze Romantik nebst Science Fiktion – Geschichten aus der neuen Opernwelt, erlebt in Amsterdam und Brüssel

Alljährlich im Frühjahr veranstaltet De Nationale Opera in Amsterdam ein Festival des neues Musiktheaters –  „Opera Forward Festival“, und das Théâtre de la Monnaie, die Brüsseler Oper, will da nicht nachstehen. So besuchten wir in Brüssel eine „Welturaufführung“: Frankenstein mit der Musik von Mark Grey, in Amsterdam die Erstaufführung einer Übernahme aus  Milano: Fin de Partie mit der Musik von György Kurtág, die im vergangenen Jahr an der Scala uraufgeführt wurde. Und dann sahen wir noch ein John Adams /Peter Sellars Opus: Girls oft he Golden West.

Sagen wir es gleich, ohne Umschweife. Modern, geschweige denn avantgardistisch war keine dieser Aufführungen. Anspruchsvoll in der Musik, ohne indes die Zuhörer zu überfordern, war allenfalls Kurtágs Oper. Ein allerdings auf die Dauer – man spielte ohne Pause mehr als zwei Stunden –  ermüdender Klangteppich. Vielleicht waren es auch nur locker aneinander gereihte Fetzen von Musik unterschiedlicher Art. Vielleicht waren es auch vielfach variierte Zitate. Hinzu kommt, dass sich das „absurde Theater“ – der Komponist vertonte das bekannte Stück von Samuel Beckett – vor allem durch eines auszeichnet: durch gezielte Langweile. Durch gezielte Langweile bis zum Überdruss soll der Zuschauer provoziert werden. Überdruss soll er erleiden angesichts nichtiger Figuren und deren banalem Geschwätz. Wagners Wotan hätte diese Ergüsse auf einen Satz gebracht: „Nur eines will ich noch: das Ende“.… → weiterlesen

Im Rokoko Ästhetizismus erstarrt und anschließend im Hyperrealismus erledigt. Romeo Castellucci versucht sich in Brüssel an der Zauberflöte

Theatermacher und Performer Castellucci, zurzeit das Hätschelkind oder das Enfant terrible der Feuilletonisten, ist immer für eine Überraschung gut. Verärgerte und provozierte er vor ein paar Jahren in Wien und Brüssel mit Glucks Orfeo, begeisterte er im letzten Sommer mit seiner Salome in Salzburg, so produziert er jetzt in Brüssel mit der Zauberflöte nur Langeweile und Überdruss. Nicht genug damit. Er reduziert noch dazu Mozart  zum billigen Soundtrack Lieferanten, der mit seiner Musik die Ambitionen der Regie eigentlich nur stört.

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Nazikeule gegen Wagnerrausch. Olivier Py sucht den Lohengrin zu erschlagen und scheitert an sich selbst – berauscht von dunkler deutscher Geschichte und schwerem Wagner-Trunk. Lohengrin am Théâtre de la Monnaie in Brüssel

In Brüssel ist eine seltsame Wagner-Aufführung zu erleben. Da schwelgt das Orchester unter der Leitung von Alain Altinoglu in romantisch gefühlvollen Klängen und breitet den berüchtigten ‚Klangteppich‘ aus, da wirkt die Musik so narkotisierend, dass einem gleich wieder Nitzsche einfallen muss: das Lohengrin-Vorspiel, das „nur zu verfängliche, nur zu gut geratene Beispiel dafür, wie man auch mit Musik hypnotisiert.“ Auf der Bühne ein durchweg erstklassiges Ensemble. Zwar kein überirdisch singender, sondern ein mehr baritonaler Lohengrin (Eric Cutler), keine traumverlorene, sondern eher eine energische Elsa (Ingela Brimberg), keine hexenhafte, sondern eine mit Stimme und Bühnenerscheinung die Szene beherrschende Ortrud (Elena Pankratova).

Von der Musik her waren alle Voraussetzungen für einen großen Wagner-Abend gegeben, ja wenn nicht die Inszenierung so sehr dagegen gesteuert hätte, wenn Theatermacher Py sich nicht vorgenommen hätte, Wagner mit der Antisemitismus-Keule (vulgo Nazikeule) zu erschlagen und dabei von der Wagner-Droge berauscht worden wäre. Eine Droge, die ihn nur noch stammeln ließ: „Et la musique? Ah, la musique!“ und von „der Nacht des Leidens“ und „der Erfüllung des Menschseins“, die angeblich Wagners Musik bewirke, schwadronieren ließ – im Programmheft wohlgemerkt.

Monsieur Py, der in Paris wie in Avignon hoch geschätzte Prinzipal, der von den Fans der Grand-Opéra Spektakel verehrte Regisseur, trägt schwer an der Last  dunkler deutscher Geschichte. Wagners antisemitische Schriften und die Handbuchweisheiten, die eine geheime unterirdische Verbindung zwischen deutscher Romantik und Nazi-Ideologie propagieren und Wagner mitten drin sehen, müssen bei ihm geradezu einen Lektüreschaden, wenn nicht gar ein Trauma bewirkt habe… → weiterlesen

„…den Schluss für ihre Oper? Gibt es einen, der nicht trivial ist?“ Richard Strauss, Capriccio am Théâtre de la Monnaie

Die Brüsseler Oper spielt noch immer in ihrem Ausweichquartier: ‚unweit‘ von La Gare du Nord, ‚unweit‘ von dem berüchtigten Problemviertel Molenbeek. Sie spielt in einem großen Zelt, das man auf einer Brache ein paar hundert Meter hinter dem Palais de la Monnaie Tour et Taxis errichtet hat. Wann sie wieder in die Innenstadt, in das Théâtre de la Monnaie, zurückkehren wird? Wer mag das wissen.

Kann man dort draußen, um es vorsichtig zu sagen, unter nicht gerade idealen Bedingungen überhaupt Musiktheater machen? Man kann es und sogar auf beträchtlich hohem Niveau. Denn dieses Mal präsentiert man anders als im vorigen Sommer, als mit Mitridate ein ärgerlicher Flopp produziert wurde,  mit Capriccio brillantes Musiktheater, das in Szene und Musik begeistert. Hier singen und spielen exzellente Sänger – an der Spitze  Sally Matthews in der Rolle der Gräfin Madeleine. Hier zelebriert unter der Leitung von Lothar Koenigs  das Orchestre symphonique de la Monnaie einen glitzernden Strauss. Hier präsentiert David Marton eine Inszenierung, der zweifellos das Attribut ‚sofisticated“ zukommt.

In welcher Zeit und an welchem Ort spielt Capriccio? Nicht im späten Ancien Régime, wie es das Libretto will, nicht in der Zeit als Glucks ‚Reformopern‘ sich gegen die italienische opera seria wandten, nicht in einem Schloss in der Nähe von Paris. Erzählte Zeit ist die Zeit der Uraufführung, die Zeit des zweiten Weltkriegs. Ort des Geschehens sind die Behelfsbühne, die Logen und der Zuschauerraum eines kleinen, heruntergekommenen Theaters irgendwo im „Reich“. Gleich fünf sich überlagernde Erzählungen kontaminiert die Regie: zwei, die sich aus der vordergründigen Handlung ergeben, eine hintergründige, die sich aus der Personenkonstellation ergeben könnte und zwei, die die erzählte Zeit nahe legen könnte. Und alle bleiben sie in der Schwebe, bieten keine Entscheidung, lassen den Schluss offen.

Die erzählte Zeit drängt sich nicht  mit aller Macht in den Vordergrund. Es dröhnen keine Bombenflugzeuge, und es fällt auch kein Staub von der Decke. Die Flugzeuge, die man hin und wieder hört, sind im Anflug auf den Brüsseler Flughafen. Oder sind die Flugzeuggeräusche doch Teil der Inszenierung? Wo ist die Fiktion? Wo ist die Wirklichkeit? Ist Monsieur Taube, der Souffleur, der im Finale einen kurzen Auftritt hat und der doch ständig präsent ist, mal im Zuschauerraum, mal auf der Bühne, mal unter der Bühne, der sich ständig Notizen macht, ist dieser Monsieur Taube vielleicht ein Beamter der Gestapo? Stehen das Theater und seine Mitwirkenden unter Verdacht? Sind die junge Tänzerin und das italienische Sängerpaar Juden, die der Gestapomann beobachtet und die er auf den Sammelplatz für die Deportation schickt? Zwei Erzählungen, die die Regie andeutet, in der Schwebe lässt  und die der Zuschauer ergänzen mag.

Offen bleibt – ganz wie es das Libretto will –  die Entscheidung über den Vorrang von Text oder Musik. Offen bleibt, auch hier ganz konventionell im Sinne des Librettos, die Entscheidung der Gräfin für den einen oder den anderen ihrer möglichen Liebhaber, für den Literaten oder den Komponisten. Offen bleibt auch die Entscheidung für den dritten der möglichen Liebhaber. Hält sich Frau Gräfin – diese Erzählung insinuiert die Regie – vielleicht einen ‚nicht standesgemäßen‘ Liebhaber, den Haushofmeister? Eine triviale Zugabe, eine Zugabe, die der italienischen Novellentradition entnommen sein könnte, eine Pointe, mit der die Regie die Konversation über die Funktion des Theaters und über den Vorrang unter den Künsten aufmischen will? Vielleicht. Ein Schluss, „der nicht trivial ist?“

Die Regie bietet noch einen anderen Schluss an: einen barocken Vanitas Schluss. Entgegen dem Libretto und wohl auch entgegen der Musik geht die Gräfin nicht „in heiterster Laune […] langsam ab“. Ganz im Gegenteil. Die Regie macht sie zur Melancholikerin. In ihrer Vorstellung sieht sich die Gräfin noch einmal als Kind, sieht sich als vom Haushofmeister hoffierte junge Frau und erahnt sich zugleich als einsame alte Frau – ohne Liebe, ohne Musik, ohne Literatur, ohne Theater? Ein Schluss, „der nicht trivial ist?“ Vielleicht.

Mit Capriccio unter der musikalischen Leitung von Maestro Koenigs und inszeniert von David Marton hat die Brüsseler Oper ein Highlight im Programm. Hoffen wir, dass weitere folgen. Wir sahen die Aufführung am 10. November 2016. Die Premiere war am 3. November 2016. Die Produktion ist eine Übernahme von der Opéra National de Lyon.

Florian Leopold Gassmann, L’Opera Seria. Eine Buffa über die opera seria und den Opernzirkus im Settecento

Das berühmte (und betagte) Théâtre Royal de la Monnaie in Brüssel ist eine Baustelle, und  da spielt halt die Brüsseler Operncompagnie im Cirque Royal, in der Manege. Eine Herausforderung, mit der Sänger, Musiker, Regisseure, Techniker und auch das Publikum souverän umzugehen wissen. Spielfläche ist ein auf die Manege gebautes Podest, Hinterbühne ist der Vorraum vor  der großen Tür, aus der die Zirkusartisten aufzutreten pflegen. Vorderbühne und dritte Spielfläche ist der schmale Gang zwischen den Plätzen für das Publikum und der Manege. Das  zweigeteilte Orchester  ist beiderseits der Manege nahe der Hinterbühne platziert.

Oper ohne Guckkastenbühne, ohne Vorhang, ohne Orchestergraben, Theater ohne scharfe Trennung von Akteuren und Zuschauern, eben totales Theater. Mit anderen Worten: eine Bühne, die für eine Oper, in der die Oper und die Opernproduktion selber Gegenstand der Oper sind, eine Fülle von Möglichkeiten bietet. Und die Regie (Patrick Kinmonth) weiß diese zu nutzen.

Gassmanns „Opera Seria“ vom Jahre 1769 ist zwar auch eine Parodie auf die klassische opera seria. Doch zugleich ist sie – und das schon von der Handlung her – eine Parodie auf die Entstehungsbedingungen einer opera seria. … → weiterlesen

Ein Totentanz im ersten Weltkrieg: Nicholas Lens, Shell Shock. A Requiem of War am Théâtre de la Monnaie

Der ‚Tonsetzer‘ Lens war mir bisher unbekannt. Zumindest habe ich bewusst noch nie seine Musik gehört. So kann und mag ich auch dazu nichts sagen. Vielleicht nur, dass die Shell Shock Musik trotz der Gewaltthematik nie laut und schreiend tönt oder gar mit spektakulären Dissonanzen aufwartet, dass sie den Hörer nicht befremden, sondern eher sanft zu sich herüber ziehen will. Ob Lens Britten (der Titel des Stücks lässt es vermuten) zitiert oder variierend zitiert, das kann ich nicht beurteilen. In Brüssel hat Lens  bei ausverkauftem Haus sein Publikum fasziniert und begeistert – mit einem fast zweistündigen und pausenlos durchgespielten Einakter.

Der Untertitel des Stücks ist in gleich in mehrfacher Hinsicht irreführend. Statt einer christlichen Totenmesse wird ein Antirequiem, das in der Verfluchung Gottes gipfelt, geboten. Die zwölf Szenen des Stücks haben darüber hinaus nichts mit einem liturgischen Akt gemein. Sie ähneln eher einem Männerballett, einer Tanzcollage, einem Totentanz mit Gesangseinlagen, die allesamt an Lamentationen, an Klagelieder  erinnern und die in der Finalszene, dem Gesang des Waisenkindes, das sich verzweifelt nach seinen Eltern sehnt, recht gefährlich dem Kitsch, einem süßlichen Kitsch, nahe kommen.

Aber vielleicht ist dies alles gar nicht so wichtig. Vielleicht haben weder die Gewaltthematik noch die Musik primär den Erfolg, den großen Erfolg, den das Stück in Brüssel hatte, bewirkt. Vielleicht war es vor allem die spektakuläre Tanzcollage, der der Erfolg zu verdanken ist. Ich gestehe gern, dass ’Ausdruckstanz‘, dieser Körperkult, dem sich junge Männer so gern hingeben, mich noch nie sonderlich interessiert hat. Doch wie der Choreograph  und Regisseur  Sidi Larbi Cherkaoui mit seiner Tanzcompagnie den Albtraum eines Kolonialsoldaten, die Exzesse, die Sehnsüchte, das Leiden und das Sterben der Militärs in Szene setzt, das ist schon höchst brillant gemacht.

Wir sahen am 2. November La Dernière. Die Premiere war am 24. Oktober 2014.