Der sich ewig wiederholende erste Mord. Ein Spiel der Kinder? Romeo Castellucci inszeniert Alessandro Scarlatti, Il primo omicidio ovvero Caino im Palais Garnier

Il primo omicidio ist ein Oratorium für sechs Stimmen, das im Jahre 1707 uraufgeführt wurde und das den Kain/Abel Mythos erzählt. Auftretende Personen sind Kain und Abel, Adam und Eva, Gott und Luzifer. Wie lässt sich dieser biblische Mythos aus dem vierten Kapitel der Genesis in Szene setzen?

Theatermacher Castellucci hat, wie nicht anders zu erwarten war, eine ungewöhnliche Lösung   gefunden. Ein erster Teil – Adam und Eva beklagen die Vertreibung aus dem Paradies, Kain und Abel versuchen vergeblich, Gott mit Opfergaben zu versöhnen – ist als rituelles Mysterienspiel angelegt. Das Göttliche manifestiert sich über Lichterscheinungen, die an die Licht- und Farbenspiele, an die „Farbfeldmalerei“ eines Mark  Rotko erinnern.

Ganz anders der zweite Teil, der auf den ersten Blick für ‚Realismus‘ zu optieren scheint, einen Realismus indes, der sich als vordergründige Staffage für ein Spiel im Spiel, für ‚Theater auf dem Theater‘ erweisen wird. Die Szene ist ein mit hohen Gräsern und Sträuchern bewachsenes Feld, in dem sich die Akteure verbergen können, auf das Kain den ahnungslosen Abel lockt und ihn mit einem schweren Stein erschlägt.

Und jetzt wird das Feld zur Bühne, auf dem Kinderdarsteller die Rollen von Adam und Eva, Kain und Abel, Gott und Luzifer übernehmen und die Erzählung aus der Genesis als Pantomime nachspielen oder besser gesagt: weiterspielen als eine sich ewig wiederholende  Episode aus der Geschichte der Menschheit. Eine Episode, in der ganz im Sinne des in der Bibelexegese entwickelten Interpretationsschema von ‚Figur und Erfüllung‘ Abel zum Vorläufer (zur Figur) des leidenden Jesus wird, und Jesus mit seinem Leiden und Tod die ‚Figur‘ Abels „erfüllt“.  Und das gleiche gilt für die Relation von Eva und Maria sowie von Adam und Christus. Ein in Szene gesetztes exegetisches Modell, das wohl nicht jedem Zuschauer vertraut ist. Erkennbar ist jedoch für jeden, dass die großen Themen und Szenen der Menschheitsgeschichte zum Kinderspiel werden können, ein Spiel, das Kinder beginnen, achtlos wieder lassen und sich anderen Spielen zuwenden können. Im Finale verlassen die Kinder die Szene und spielen dabei mit ihren Bällen.

Die Kinder sind wie schon gesagt stumme Akteure auf der Bühne. Die Sänger haben ihnen die Rollen überlassen und singen vom Orchestergraben oder von der Seitenloge aus. So entsteht der Eindruck eines Doppel-Spiels, das alle Illusionen zerbricht. Alles – Sündenfall, Mord und versprochene Erlösung –  ist nur ein Spiel und nicht mehr.  So macht Castellucci aus einem biblischen Mythos ein Spiel, ein Kinderspiel – mag auch Scarlatti in seinem Oratorium etwas anderes gewollt haben.

Wenn René Jacobs am Pult steht, dann versteht es sich von selber, dass alle Rollen exzellent besetzt sind und dass unter der Leitung des Maestro das belgische „B’Rock Orchestra“ einen Scarlatti zelebriert, wie man ihn ausgefeilter wohl kaum hören kann.

Wir besuchten die Aufführung am 31. Januar 2019, die vierte Vorstellung an der Opéra National de Paris. Die Premiere war am 24. Januar 2019.

 

 

Trouble bei den Royals – und Medea zündet die Handgranate. René Jacobs dirigiert Händel, Teseo am Theater an der Wien – und die Regie greift haltlos daneben

Am Ende des Krieges müssen auch die Royals an die Front. Ein Glück für die Hochgeborenen und für Great Britain, dass ihnen in der Not ein schmächtiger junger Mann (bei Händel ein gewisser Teseo, hier in der Person der Mezzosopranistin Lena Belkina) zu Hilfe kommt und ihnen die Kastanien aus dem Feuer holt. So können  sie dann gleich wieder so agieren, wie es die Klatschpresse mag: der in die Jahre gekommene König kriegt Angst vor der femme fatale, die bei ihm am Hofe lebt und der er die Ehe versprochen hat (bei Händel eine gewisse Medea). So möchte er denn lieber die hausmütterliche Prinzessin, die auch bei ihm am Hofe lebt, ehelichen (bei Händel eine gewisse Agilea). Dumm nur, dass diese sich in den Kriegshelden Teseo verknallt hat – und umgekehrt.

… → weiterlesen

Von der Traumwelt zur Gutmenschen-Orgie ist es nur eine Pause. Torsten Fischer inszeniert Die Zauberflöte am Theater an der Wien

Torsten Fischer ist sicher ein großer Theatermann, ein erfahrener Theatermacher, der sein Handwerk versteht, dem wunderschöne Bilder gelingen, ein Meister der Personenführung, ein Magier des Traumtheaters. Wie schade nur, wie seltsam und leider wie abträglich seiner Kunst ist es doch, dass er sein Achtundsechziger-Trauma nicht zu sublimieren vermag und von seinem Brecht-Schaden nicht loskommt.

Wir wissen alle im Publikum, dass Die Zauberflöte recht plakativ die Freimaurer Ideologie feiert. Doch diese Feierstunde ist Regisseur Fischer nicht genug. Er muss unbedingt noch eins draufsetzen. Die Utopie der Toleranz gerät ihm dabei zum szenischen Religionsgemisch, in dem vor einer überdimensionalen Klagemauer Priester aller nur möglichen Religionen, angetan mit ihrer jeweiligen Dienstkleidung, auf Friede, Freude, Eierkuchen machen und der Darsteller des Tamino ihnen  eine Kantate vorsingt, die Liebe und Toleranz und den Schöpfer des Weltalls feiert. Der Text dieser ach so gut gemeinten Kantate, so erfährt man aus dem Programmheft, stamme von dem Hamburger Kaufmann Ziegenhagen, und Mozart habe dazu eine Klavierfassung geliefert. Mit diesem Spektakel beginnt der zweite Akt.

Mit dem ‚Hohen Lied‘ der Toleranz lässt es die Regie nicht bewenden. Zur Utopie der Toleranz kommt noch die Utopie der Emanzipation der Frauen und der Gleichberechtigung der Geschlechter.… → weiterlesen

Florian Leopold Gassmann, L’Opera Seria. Eine Buffa über die opera seria und den Opernzirkus im Settecento

Das berühmte (und betagte) Théâtre Royal de la Monnaie in Brüssel ist eine Baustelle, und  da spielt halt die Brüsseler Operncompagnie im Cirque Royal, in der Manege. Eine Herausforderung, mit der Sänger, Musiker, Regisseure, Techniker und auch das Publikum souverän umzugehen wissen. Spielfläche ist ein auf die Manege gebautes Podest, Hinterbühne ist der Vorraum vor  der großen Tür, aus der die Zirkusartisten aufzutreten pflegen. Vorderbühne und dritte Spielfläche ist der schmale Gang zwischen den Plätzen für das Publikum und der Manege. Das  zweigeteilte Orchester  ist beiderseits der Manege nahe der Hinterbühne platziert.

Oper ohne Guckkastenbühne, ohne Vorhang, ohne Orchestergraben, Theater ohne scharfe Trennung von Akteuren und Zuschauern, eben totales Theater. Mit anderen Worten: eine Bühne, die für eine Oper, in der die Oper und die Opernproduktion selber Gegenstand der Oper sind, eine Fülle von Möglichkeiten bietet. Und die Regie (Patrick Kinmonth) weiß diese zu nutzen.

Gassmanns „Opera Seria“ vom Jahre 1769 ist zwar auch eine Parodie auf die klassische opera seria. Doch zugleich ist sie – und das schon von der Handlung her – eine Parodie auf die Entstehungsbedingungen einer opera seria. … → weiterlesen

Francesco Bartolomeo Conti, Don Chisciotte in Sierra Morena halbszenisch am Theater an der Wien

Contis „tragicommedia“ vom Jahre  1719 auf ein Libretto von Apostolo Zeno und Pietro Pariati hatte ich vor nunmehr zehn Jahren in einer szenischen Aufführung bei den Innsbrucker Festwochen gesehen und gehört, war von Musik, Libretto und Szene begeistert und habe es immer wieder bedauert, dass diese opera buffa avant la lettre so gänzlich von den Bühnen verschwunden ist.

Jetzt in Wien, wo  René Jacobs mit Stars der internationalen Opernszene wie  Stéphan  Degout, Anett Fritsch, Lawrence Zazzo, um nur drei Namen zu nennen, Contis Oper  halbszenisch wieder aufnimmt, ist die Begeisterung nicht minder groß. Und nicht nur bei mir.… → weiterlesen