Vom ‚Endsieg’ der Taliban und vom ‚Untergang des Abendlands’: Mosé in Egitto als Belcanto Hollywood Schinken am Opernhaus Zürich

In Salzburg hatten wir in diesem Sommer Rossinis „azione tragico-sacra“ in ihrer französischen Fassung als Bibelstunde für Konfirmanden (angerichtet von einem gewissen Pastor Flimm) gesehen und uns ob so viel Unvermögen geärgert und gelangweilt. In Zürich, wo das Regieteam Patrice Caurier du Moshe Leiser die frühe italienische Fassung in Szene setzt, da wirft man die Bibel (sprich: das Buch Exodus)  gleich auf den Müll der Geschichte und unterhält das Publikum mit  einer Mixtur von Sequenzen aus Actionfilmen, Gesellschaftskomödien, Liebesdramen, Börsenkrach und Fundamentalismusschocker – und hat damit zu Recht großen Erfolg. Moses und Aron sind bärtige Fundamentalisten, die mit ihren biologischen Wunderwaffen Schrecken verbreiten, die Hebräer sind jüdische Flüchtlinge, die  mit dem Flugzeug der Tyrannei entkommen wollen  und die von schwarz gekleideten prügelnden Polizistin drangsaliert werden. Die  Ägypter des Libretto sind  samt Pharao und dessen verliebtem Söhnchen vom Börsensturz gebeutelte Banker von heute oder auch mal eine lustige dekadente Partygesellschaft. Der Boss der Banker trifft sich in Gangstermanier mit dem Boss der Talibane in der Tiefgarage, der Filius entführt die geliebte Hebräerin in ein Motel und ist ganz verzweifelt, als seine Mama und der Talibanunterführer das Stundenhotel von ihrer schnellen Eingreiftruppe stürmen lassen, Mama Faraone  jammert in der Wohnküche der alten Liebe nach, und Papa Faraone liest seinem verliebten Söhnchen beim Braten von Spiegeleiern die Leviten. Ja, und im Schlussbild, da sind wir dann ganz aktuell:  Talibanführer Moses droht dem  zu Tode erschrockenem Boss der dekadenten Partygesellschafft, die gerade abgesoffen ist, vom anderen Ufer. All dies ist witzig, unterhaltsam und so ganz ohne alle pastoralen Fingerzeige gemacht. Ja, und gesungen wird von einem hoch motivierten Ensemble in bester Belcanto Manier, ganz wie man es in Zürich erwartet. Ein großer Rossini Abend. Wir sahen die Premiere B am 23. September 2009. Die Premiere war am 19. September.

Ein halbseidenes dröges Kammerspiel. Christof Loy inszeniert Arabella an der Frankfurter Oper

Bei Helmut Krausser in einem seiner Tagebücher heißt es einmal, der späte Strauss der Arabella sei nur noch ein Schatten, ein Abklatsch seiner selbst, habe kaum noch etwas von der Genialität, die den Strauss der Elektra, des Rosenkavaliers, der Ariadne auszeichne. Und wenn man Gelegenheit hat, nach der Frankfurter Arabella am nächsten Abend die Münchner Ariadne zu erleben, dann erscheinen einem die Bemerkungen Kraussers gar nicht so abwegig – und doch zugleich ungerecht. Die Ariadne mit ihrer Überlagerung von Opera Buffa, Metatheater und altehrwürdiger Opera Seria hat mit der kitschigen Operettenseligkeit der Arabella so gar nichts gemein. Nicht von ungefähr spricht Strauss in einem Brief an Stefan Zweig von „Kitsch“ im Zusammenhang mit der Arabella. Wie dem auch sei. Die „lyrische Komödie“ (warum sagen wir nicht einfach die Wiener Operette) um die verarmte Schöne aus der Wiener Stadt und den reichen ungehobelten Prinzen aus den slawonischen Wäldern, um das androgyne Mädchen und den verzweifelten Liebhaber und um den spielsüchtigen heruntergekommenen Papa, die sieht und hört man immer gern, zumal wenn wie in Frankfurt eine so überragende Sängerschauspielerin wie die Nylund als Arabella auf der Bühne steht. Die Inszenierung hingegen, von der man sich so viel erhofft hatte, enttäuscht – zumindest in den ersten beiden Akten. Zäh und dröge und konzeptionslos – es sei denn man sieht Trostlosigkeit und Hoffnungslosigkeit und das Warten auf den Märchenprinzen als eine Konzeption an – zieht sie sich dahin, und man ertappt sich bei dem Gedanken, ob man doch nicht lieber zur Internationalen Automobilausstellung hätte gehen sollen, wenn man schon Messepreise im Hotel zahlt. Aber die Frankfurter Arabella – welch eine elegant-schöne Bühnenerscheinung – singt halt so hinreißend. Da können die Automänner von der IAA mit ihren noch so schicken Spielzeugen einfach nicht mithalten. Nach der zweiten Pause da ist plötzlich alles anders. Da entschädigt eine brillante Personenregie, die keine Requisiten und kein Bühnenbild mehr braucht – man agiert einfach vor einer hellen weißen Wand – für all die Dürftigkeit und Einfallslosigkeit, die die ersten beiden Akte bestimmten: die scheinbare Verabredung zu einer wilden Nacht mit der spröden Arabella beobachtet der eifersüchtige Mandryka  vor der Toilettentür. Zum berühmten Duett lehnen sich die beiden Schwestern an die Heizung in ihrem Absteigehotel (wir sind halt so arm und frieren tun wir auch, und von der Rampe singen wir doch sonst so gern). Vielleicht ist die Inszenierung  auch als Gegenstück zur Musik gedacht. So wenig wie einem sonst so genialischen Komponisten wie Strauss ständig Neues einfallen kann, so wenig kann auch ein Regiestar immer und ewig brillant sein. Aber wie die Musik der Arabella so hat auch ihre Frankfurter Inszenierung – manchmal –  große Szenen. Und am Ende war ich doch froh, dass ich nicht zur IAA gegangen bin und bei Strauss und Loy geblieben bin. Wir sahen  am 18. September die 10. Vorstellung der Produktion. Die Premiere  – eine Übernahme aus Göteborg – war am  25. Januar 2009.Vielleicht noch ein Hinweis: wer einen großen Straussabend erleben möchte, der sollte die Münchner Ariadne sehen und hören. Eine Inszenierung von Robert Carsen, die vor einem Jahr bei den Münchner Opernfestspielen im Prinzregententheater Premiere hatte, zwischenzeitlich von der Deutschen Oper in Berlin übernommen wurde und jetzt im Nationaltheater in München wieder gezeigt wird. In meinem Operntagebuch finden sich ein paar Bemerkungen zu dieser Inszenierung

Mehr als ein Beschäftigungsprogramm für das Stuttgarter Ballett? Orphée et Euridice in der Staatsoper Stuttgart

„Wir spielen das Werk in seiner französischen Fassung mit wesentlich erweiterten choreographischen Anteilen. Sie wird in einer erstmaligen großen Koproduktion des Stuttgarter Balletts und der Staatsoper Stuttgart von Christian Spuck [für Unwissende: das ist der „Hauschoreograph“] inszeniert und choreographiert“. So heißt es vollmundig im hauseigenen Theater Journal –  und die Erwartungen sind entsprechend hoch. In Stuttgart spielt man Glucks Orpheus  nicht in der Berlioz Bearbeitung, also nicht mit einem Mezzosopran in der Titelrolle, sondern in der Pariser Fassung von 1774 mit einem Tenor als Protagonisten – und eben als Opéra Ballet. Und dabei begnügt man sich nicht damit, die von Gluck schon vorgesehenen Ballettmusiken in Szene zu setzen. Man illustriert, nein besser: man verdoppelt das Geschehen im Medium des Tanzes. Gleich vier Solistenpaare und natürlich der Corps de Ballet werden aufgeboten, um die Leiden des jungen Orpheus und den  Schaden, den seine  Eurydike im Elysium der seligen Geister erlitten hat, in die Sprache der rituellen Bewegung zu transferieren. Wer Ballett mag, der kommt an diesem Abend sicherlich auf seine Kosten, denn das Stuttgarter Ballett hat wohl zu Recht noch immer einen guten Ruf. Wer Gesang und Orchesterklang vorzieht, auch der hat keinen Grund zur Klage. Das Staatsorchester spielt einen getragen feierlichen Gluck. In der Titelrolle brilliert ein junger Sängerschauspieler (Luciano Borlho). Und auch die Regie spart nicht an Gags. Dass sie das zwanghafte lieto fine, wie es das Libretto fordert, nicht nachvollziehen kann, das können auch wir Zuschauer nachvollziehen. So hat sich denn die Regie für ein triste fine entschieden. Die arme Eurydike trifft nach dem großen Ballettfinale der Schlag. Und das ganze Stück – so suggeriert es die Regie dem verblüfften Zuschauer – war wohl so eine Art Karnevalsspektakel (zum Finale setzen sich die Choristen Karnevalshütchen auf), das die Tanztruppe in ihrem Ballettsaal aufführt. Dass eine Sängerin, die man für die kleine Rolle der Euridice zum Mitmachen überredet hatte, so einfach schlapp macht, das war nicht vorgesehen. Aber es passt gut in unser Konzept. So sind wir denn anders als es der Ritter Gluck geplant hatte, wieder bei der tragischen Variante des Mythos, die uns sowieso mehr zusagt, gelandet. Und das alte Spiel um Liebe und Tod und die Vergeblichkeit aller Kunst, die keine Rettung bietet, kann von neuem beginnen. Ein zirkulärer Schluss, der nicht so ganz neu ist, der immerhin das Publikum ein bisschen rührt. Und die Musik ist halt so schön.  Der Stuttgarter Orphée  ist in seiner durchweg geglückten Verbindung von Tanz und Gesang und Orchesterklang eine Rarität, die man nicht versäumen sollte. Wir sahen die vierte Aufführung am 17. Juli 2009. Die Premiere war am 27. Juni. In der nächsten Spielzeit steht Orpheus und Eurydike wieder auf dem Programm. Vielleicht gehe ich noch einmal hin.

Häuslebauer Elsa vergrault den Zimmermann. Lohengrin (oder was davon übrig blieb) in der Bayerischen Staatsoper

Gestern Abend haben wir im Nationaltheater anlässlich der diesjährigen Münchner Opernfestspiele die zweite Vorstellung des mit so viel Vorschusslorbeeren  bedachten neuen Münchner Lohengrin gesehen, gehört (und erlitten). „Ein ärgerlich misslungener Lohengrin […]Was für eine Besetzung! Was für eine konzeptgläubig vertane Chance“, so resümiert Joachim Kaiser in der Süddeutschen Zeitung (7.7., Nr. 153, S.11) – und da  hat er wohl Recht. Mit Anja Harteros und Jonas Kaufmann stehen als Protagonisten zwei Superstars auf der Bühne, die zurzeit wohl kaum zu übertreffen sein dürften. Das Orchester spielt (meist) hinreißend schön. Ärgerlich war nur, dass an diesem Abend  in die ersten Takte des so leise und überirdisch anhebenden Vorspiels ein offensichtlich mangelhaft justiertes Mikrofon hineinquietschte. Das kann schon mal passieren, wenn die Aufführung aufgezeichnet wird. Doch letztlich war dieser Missklang geradezu ein unbeabsichtigtes Symbol des Münchner Lohengrin. In was für ein erbärmliches banales Ambiente stellt man doch  in München grandiose Sängerschauspieler. Wie leichtfertig reduziert man Wagners Musik  immer wieder zum Soundtrack  für pseudonaturalistisches Bauerntheater. Von „Schwachsinn“, von Auftritten, die „an vergangene DDR-Massenszenen“ erinnern, spricht Joachim Kaiser, von einer Inszenierung, die „die Leistungen der Sänger beklemmend minderte“. Ganz so schlimm war es vielleicht nicht.  Immerhin verfügt die Regie über ein  in sich stringentes Konzept – ein abwegiges. Man kann den Lohengrin Mythos halt auf verschiedene Art und Weise erzählen. Viele Male haben wir schon gelesen und gehört, dass der Mythos eben nur in seinen Varianten lebe und stets, je nach hermeneutischer Situation des jeweiligen Interpreten, neue Varianten produziere. Warum soll man den Lohengrin Mythos  nicht auch einmal als die Geschichte vom wandernden Zimmermann erzählen, der einer kleinen Häuslebauerin zu Hilfe eilt, die von einem mächtigen Bauunternehmer und dessen krimineller Gattin mit üblen Machenschaften darin gehindert wird, ihr schönes bayerisches Eigenheim zu bauen. Der Zimmermann wirft die beiden Bösewichter von der Baustelle – zur Freude der Maurer und Tischler, die jetzt erst richtig zulangen, und am Ende des zweiten Akts, wenn sich Zimmermann und Mägdelein vor dem Landrat (bei Wagner: ein gewisser König Heinrich) das Jawort geben, da ist, o Wunder, das Haus fertig (dank unserer tüchtigen Bühnentechnik, die im Finale noch schnell das Fertighausdach  mit einem Kran heranschwenkt). Ja, beim Münchner Lohengrin da gewinnt man so richtig  Einblick in die Tätigkeit und in die Intrigen des mittelständischen Gewerbes. Wie da unsere Elsa – in ihrer Latzhose  und den schwarzen Zöpfen  sieht sie wirklich allerliebst aus –  Steine schleppt und mauert, wie da unser Zimmermann hobelt und glättet, wie der böse Bauunternehmer, der sich nicht so einfach vom Markt verdrängen lassen will, intrigiert, das ist schon recht interessant anzusehen. Dass ihr Tun wenig oder gar nichts mit dem zu tun hat, was sie da singen, das darf einen nicht weiter stören. Im dritten Akt haben dann auch die Innenausstatter zu Ende gewerkelt. Wie die Geschichte ausgeht, das wissen wir noch von anderen Aufführungen. In München gibt es noch die Varianten, dass ein tieftrauriger, frustrierter Zimmermann Ehebett und Wiege und auch das Häusle anzündet und dass alle Handwerker im Finale  zu Sektenmitgliedern mutieren und nach dem Abgang des Zimmermanns, den sie wohl für den erwarteten neuen Guru gehalten haben, sich zum kollektiven Selbstmord entschließen, während Elsa und ihr Brüderchen diesem Treiben konsterniert zuschauen. So sieht die ‚Arbeit am Mythos’ in München aus. Ein Lohengrin, dem die Regie alle Verzauberung, alles Märchenhafte, alles Träumerische, alles Geheimnisvolle, mit einem Wort: alles Romantische gewaltsam ausgetrieben hat und die  zur Entschädigung noch nicht einmal Komik und Unterhaltung bietet, wie das Stefan Herheim bei seinem Berliner Lohengrin vermag, sondern nur Banalitäten produziert. Oder ist die Regie vielleicht so spitzfindig, dass sie mit dem Symbol des Hauses spielt, das Haus, in dem Symbolforscher ein Bild des Universums oder auch des „être intérier“ oder auch  das der Weiblichkeit allgemein sehen. Wollte uns die Regie unter banaler Verkleidung vielleicht sogar eine tiefenpsychologische Deutung suggerieren? Sollte unser süßes Latzhosen Girl vielleicht sogar das Symbol des ‚ Ewigweiblichen’ sein, das den stets ‚Unbehausten’ zu sich und in sich ziehen will? War das vielleicht die Grundidee Ihrer Inszenierung Mr. Jones? Ein bisschen sehr banal. War es das? Allein, was tut’s. Ein Teil des Publikums hat ein bisschen gebuht. Aber das braucht Sie nicht zu interessieren. Sie sind längst zu neuen Regietaten aufgebrochen und überlassen es dem Dirigenten Ihr Opus mehrmals zu sehen. Manchmal wünscht man sich, dass unsere Herren Generalmusikdirektoren ein bisschen mehr Mut vor Fürstenthronen zeigten und sich nicht so einfach zu Soundtracklieferanten reduzieren ließen. In Stuttgart, so munkelt man, habe der oberste Musiker beim Lohengrin auf dem Grundsatz bestanden: „Prima la musica, poi la messa in scena“. Wie wäre es Herr Generalmusikdirektor Nagano, wenn Sie uns Gelegenheit einmal einen konzertanten Lohengrin zelebrieren würden? So manche Wagnerianer – und  nicht nur die  verknöcherten – wären Ihnenwohl dankbar.

Wir sahen die Vorstellung  am 8. Juli. Die Premiere war am 5. Juli 2009.

Eine Familientragödie? Und weiter nichts? Die Walküre im Aalto-Musiktheater Essen

Der Essener Ring, der mit einer spektakulären Wagner-Revue, bei der die Rheingold Musik zum Soundtrack für eine Sex and Crime Show heruntergekommen war,  begonnen hatte, ist mit der Walküre im besten Sinne des Wortes wieder seriös geworden. Ort der Handlung ist ein großzügig bemessener palastähnlicher Saal, der allerdings schon erste Zeichen des Verfalls aufweist und in dem eine Familie preußischer Militäraristokraten oder vielleicht auch die modern-militärisch gekleideten Atriden oder vielleicht auch die Krupps von der Villa Hügel oder vielleicht auch der Wagner Clan residiert: Deutungsmöglichkeiten, die die Regie (Dietrich Hilsdorf) suggeriert. Unter dem Kommando eines Generals Wotan wohnen sie alle in diesem Palast: die Matrone Fricka, die letztlich das Kommando führt, die ganze Schar der unehelichen Kinder (junge Damen in großer Abendrobe), auch die Zwillinge Siegmund und Sieglinde und konsequenterweise auch der wohl nicht ganz standesgemäße Schwiegersohn und Schwager Hunding. Eine solche Konzentration der Szene und des Personals bietet neue dramatische Möglichkeiten:  es erleichtert Siegmund ungemein dem Schwager die Frau zu entführen, und das von Mutti Fricka erwirkte Todesurteil gegen ihren ungeliebten Stiefsohn lässt sich als eine Art Feme Familiengericht zelebrieren, bei der alle Beteiligten präsent sind. Wie es nun einmal bei einem Familientreffen üblich ist, trinkt man sich zunächst einmal zu. Eine schöne Gelegenheit für die Regie, einen weiß gedeckten Esstisch nebst Weingläsern und Rotweinflaschen mitten auf die Szene zu stellen. Im Finale des zweiten Akts, da schießt Hunding den armen Siegmund, der mit seinem mannshohen Schwert in der Hand  wohl noch auf ein richtiges Duell gehofft hatte, mit seinem Karabiner einfach nieder. Und die Leiche liegt am Esstisch, und Hundig trifft beim Anblick des zornigen Familienoberhaupts Wotan der Schlag. Doch vorher krabbelt er noch schnell auf eine Sitzbank und darf dann den ganzen dritten Akt über –  als Untoter drapiert –  dort hocken bleiben. Im dritten Akt ist es nur konsequent, wenn wir uns schon in einem zumindest halbmilitärischen Ambiente des 19. Jahrhunderts befinden, dass die Heldensöhne, die sich die jungen Damen (vulgo: die Walküren) zum Leichenfest ausgesucht haben, als schwule preußische Kadetten auftreten und mit den Wunschmaiden wenig anzufangen wissen. Und Wunschmaid Brünnhilde wird der Einfachheit halber im hohen Saale zum Tiefschlaf eingeschlossen. Eine in sich stimmige Konzeption, die auf das Grundthema ‚Verfall einer Familie’ (ein bekanntlich typisches Thema des späten 19. Jahrhunderts) den Hauptakzent setzt. Eine Inszenierung, die ohne all Gags und Mätzchen aus kommt, den Sängern allen Raum zur Entfaltung lässt und die nie von der Musik ablenkt. Und musiziert wurde  unter der Leitung von Stefan Soltesz dieses Mal – ganz anders als beim Rheingold –  berückend schön, ohne alles Brimborium, einfach nur schön.

Die Premiere war am 24. Mai 2009. Wir sahen die Vorstellung am  4. Juli.

Das Spiel um die unerreichbare Märchenfigur Konstanze. Die Entführung aus dem Serail bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen

Die Entführung zu inszenieren, das muss wohl eine rechte Crux für unsere Theatermacher sein. Als Orientsatire, das geht nicht, dann gibt es Ärger mit den türkischen Vereinen. Als orientalisches Paradies, in dem der edle Moslem den arroganten Christen zeigt, was die Tugend des Verzeihens ist, das ist zu obsolet. Als Aufklärungsmärchen vom edlen Wilden, das ist erst recht Schnee vom vergangenen Jahr. Als Tragödie der schönen Frau, die sich zwischen orientalischem und spanischem Macho nicht zu entscheiden mag und die letztlich dem falschen Mann zufällt, das geht auch nicht. Da protestieren unsere emanzipierten Damen, (wenn es sie denn gibt). Als Schmuddelkomödie im Hartz IV Milieu, das geht auch nicht mehr. Das hat man schon in Basel gemacht. Vielleicht als Selbstfindungssatire und Freudparodie? Das geht auch nicht. Das hat Stefan Herheim schon vor ein paar Jahren mit großem Erfolg in Salzburg gemacht. In Ludwigsburg hat Regisseur und Ausstatter Peer Boysen sich von all dem nicht beirren lassen, konsequent die Möglichkeiten des kleinen Schlosstheaters genutzt und sich für eine Metatheaterkonzeption entschieden, für ein Spiel, in dem von Anfang an dem Zuschauer suggeriert wird: wir spielen Theater, ein Theater, das ein Mitspieler, der Bassa Selim, der in nahezu allen Szenen präsent ist, für sich und die anderen Mitspieler inszeniert, ein Spiel, in  dem die Figur der Konstanze, die als einzige im Kostüm des 18. Jahrhunderts auftritt, eine Theaterfigur aus einer vergangenen Zeit ist, vielleicht eine Traumfigur, die nur in der Phantasie ihrer beiden Liebhaber existiert und die im Finale einfach in den Kulissen entschwindet, auf dass das Spiel im zirkulären Schluss vielleicht wieder von vorn beginne. Eine Konzeption, die wohl die Mehrheit der Zuschauer überfordert, die das konventionelle happy end erwarteten und gar nicht bemerkt hatten, dass Konstanze für den trivialen Belmonte (er tritt im ostfriesischen Seemannkostüm auf) im Finale keinen Blick hatte.

In Ludwigsburg ist alles klein, aber vom Feinsten. Man spielt unter der Leitung von Michael Hofstetter auf „Originalklanginstrumenten“. Das Schlosstheater ist sicherlich der adäquate Rahmen für ein Singspiel aus dem 18. Jahrhundert. Ich mag das Museale nicht. Wir sahen die Aufführung am 30. Juni 2009.