Die Zürcher Oper wartet bei ihrem neuen Lohengrin mit einer Starbesetzung auf: Klaus Florian Vogt in der Titelrolle, Petra Lang als Ortrud, Elza van den Heever als Elsa und Simone Young am Pult. Da kann nichts schief gehen. Und es geht auch nichts schief. Da wird musiziert und gesungen, wie man es sich besser, schöner, beeindruckender nicht mehr vorstellen, nicht mehr wünschen kann. Wagner ein Fest der Stimmen und des Orchesterklangs. Da wirft Wagner – frei nach Nietzsche – nicht die stärksten Stiere um. Da verzaubert er sein Publikum oder zumindest den größten Teil. Nach der zweiten Pause blieben seltsamer Weise so manche Plätze leer. Müdigkeit, Desinteresse, Unbehagen und Enttäuschung angesichts einer gewöhnungsbedürftigen Inszenierung?
Andreas Homoki hat seinen Wiener Lohengrin auf die um vieles kleinere Bühne in Zürich transferiert und die Spielfläche noch dazu zu einem Holzkasten verkleinert, zu einer bayerischen Wirtshausschenke als Einheitsbühne. In der Schenke jubeln die in Wams und Lederhose gekleideten Mannsbilder und im feschen Dirndl die Weiber ihrem Landrat zu (bei Wagner einem gewissen König Heinrich), machen eine der Dorfschönheiten fertig (bei Wagner eine gewisse Elsa von Brabant), intonieren als dörflicher Gesangverein Chorgesänge, feiern Hochzeit, lassen die Maßkrüge scheppern und – so hinterwäldlerisch ist man noch in Dörfern – glauben an den Gral, den Schwanenritter, an den lieben Gott, der, wenn der Landrat es nicht richten will, schon alles richten wird. Und nicht zuletzt – zumindest tut dies Elsa – glauben sie an die Liebe und das Glück. In der Schenke hängt ein Bild aus dem Poesiealbum: zwei rote Herzen, die sich auf grünem Grund zueinander neigen. In Großformat erscheint das Bild auch auf dem Vorhang – mit dem fragmentarischen Zitat „Es gibt ein Glück“. Lohengrin ein Märchen für Kinder im bayerischen Wirtshaus?
Der Lohengrin Mythos, so weiß der kundige Opernbesucher, bietet zahllose Varianten an, lädt zur Aktualisierung und zur Degradierung ein, verführt manchen unserer Theatermacher dazu, ihn endgültig erledigen zu wollen. Er kann wie in der Bayerischen Staatsoper im schwäbischen Häuslebauer Milieu spielen, in dem Elsa von einem Baulöwen schikaniert wird und ihr vom Zimmermann Lohengrin das Häusle gebaut und im Finale angezündet wird. Er kann wie in Düsseldorf unter Spekulanten und Bankern spielen. Er kann wie in der Deutschen Oper in Berlin im Totenreich spielen, in dem der vermeintliche Friedhofsengel Lohengrin sich als gerissener Politiker erweist. Unser Held kann wie in Frankfurt ein halbdebiler Tollpatsch sein, der den Kinohelden mimt und Elsa für eine Vorstellung ins Reich des Kinos entführt. Er kann wie in der Scala ein Schwächling und Märchenerzähler auf dem preußischen Kasernenhof sein, den die Soldaten im Finale tot schlagen. Lohengrin und mit ihm Wagner halten, wenn nicht gleich alles, so doch vieles aus. Vornehm gesagt: der Mythos ist polyvalent, lädt zu den unterschiedlichsten Deutungen ein und kann sich immer wieder neu ereignen – je nach Intention und Horizont, je nach Formation und Deformation des Theatermachers – zur Freude, zum Ärger, zum Entsetzen des Publikums. Ja, warum soll er sich nicht wie jetzt in Zürich auch einmal unter trinkfesten, Gott und dem Landrat verbundenen bayerischen Bauern ereignen: in der Schenke, im Volkstheater Stil.
Dieser Volkstheater Stil oder wenn man so will: dieses leicht angedeutete Oktoberfest Ambiente irritiert zunächst. Doch im fortschreitenden Gang der Handlung wird dieses Ambiente, wenngleich die Grundkonzeption der bayerischen Schenke als Ort des Geschehens stringent durchgezogen wird, zur quantité négligeable. Und das gleiche gilt für alles Religiöse und Sakrale und ebenso für alles Politische und Militärische. Die Regie schiebt all diese Elemente, die doch konventionelle Teilsegmente des Lohengrin Mythos sind, so weit wie nur eben möglich beiseite und stellt das Thema der Liebe ins Zentrum des Geschehens, setzt eine Liebesgeschichte in Szene: die übel ausgehende traurige Liebesgeschichte eines Paares, das nicht zusammen finden kann, weil die jeweiligen Traumvorstellungen, die jeder von beiden in den anderen hineinprojiziert, einander ausschließen. „Hoch über alles Zweifels Macht …soll meine Liebe steh’n!“. Ein pathetischer Wunsch der Elsa, ein Versprechen, das die Sprache des Körpers legitimieren soll: „Sie sinkt an seine Brust“. Wie die Geschichte ausgeht, das wissen wir kundigen Opernbesucher schon seit langem.
Und Lohengrin? Er träumt – so will es die Regie wissen. Erst als Elsa ihn, der im Traum, im Schlafe, nur mit einem Nachthemd bekleidet, sich plötzlich unter den Bauern und ihren Weibern wieder findet, erst als Elsa ihn wach küsst, da wird er zum Manne. Mit anderen Worten: Elsa schafft sich, besser: erschafft sich ihren Traummann – und erledigt ihn wieder. Als sie des „Zweifels Macht“ über die Liebe stellt, da sinkt der Traummann, der doch über die Macht der Liebe zum realen Mann werden wollte, ermattet in sich zusammen. Da singt er die Gralserzählung nicht konventionell als überirdischer Ritter, sondern als gebrochener Mann, der sich kaum noch erheben kann. Eine paradigmatische Szene – so signalisiert es die Regie – für das Scheitern aller Träume, für die allgemeine Hoffnungslosigkeit.
Man kann eine solch letztlich nihilistische Regiekonzeption ablehnen. Man kann sich über die Pantomime zu Beginn fürwahr ärgern, eine Pantomime, die die Vorgeschichte erzählt und die damit offensichtlich gezielt von der Gralsmusik der Ouvertüre ablenken und mit voller Absicht jeglichen Anflug des Überirdischen, des Heiligen verbannen will. Man kann die Transponierung des Geschehens in ein bayerisches Dorf und in ein Oktoberfest Ambiente für abwegig halten. Doch die Konsequenz und Stringenz, mit der die Grundkonzeption durchgezogen wird, verdient alle Male Anerkennung. Ja, und wem das alles gegen den Strich geht, dem bleibt immer noch der so grandios zubereitete Wagner Soundtrack.
Ein großer Opernabend in Zürich.
Wir sahen am 30. September 2014 die dritte Aufführung in dieser Inszenierung. Die Premiere war am 21. September 2014.