Vom Erhabenen in der Seniorenresidenz. Krzysztof Warlikowski inszeniert Iphigénie en Tauride an der Opéra national de Paris

Die Iphigenie hatten wir zuletzt im vergangenen Jahr bei den Salzburger Pfingstfestspielen gesehen. Dort hatte die Regie aus Glucks „Tragédie lyrique“ einen Actionfilm gemacht und die Handlung in eine Kolchose verlegt, wo in schreiende Farben gekleidete Bäuerinnen unter der Leitung einer höchst depressiven Oberbäuerin von einem gewalttätigen Bürokraten dazu gezwungen werden, jeden Fremden, der sich in die Kolchose verirrt hat, abzuschlachten. Wie jeder Mythos lädt auch der Iphigenie Mythos zu aktualisierenden Varianten ein und dass dieser über ein gehöriges Gewaltpotential verfügt, ist offensichtlich. Entscheidend ist nur, ob man das Aktualisieren bis hin zu Banalität und Trash treiben und wie weit man das  Thema der Gewalt herausstellen will.

Vom Hyperrealismus, der nur zu leicht in die unfreiwillige Komödie umkippen kann und  von banaler Aktualisierung  und Trash, wie sie in Salzburg exerziert wurden, hält sich in Paris  die Regie fern. Für Warlikowski sind Iphigenie wie auch schon Orest Traumatisierte, die von ihrer Vergangenheit nicht loskommen und die diese immer wieder neu erleben. Er setzt auf eine vorsichtige und zurückhaltende Aktualisierung, macht aus Iphigenie eine elegante gekleidete alte Dame, die inmitten wohl  gut betuchter  Kriegerwitwen – sie legen zum Finale die Ordensspangen ihrer Männer an – ihre letzten Tage in einer Seniorenresidenz verbringt und die in einem Rückblick noch einmal die schrecklichen Geschehnissen in Tauris und dazu die Katastrophe ihrer Familie vom beinahe vollbrachten rituellen Mord an ihr selber über den Mord an ihrem Vater bis hin zur Ermordung ihrer Mutter durch deren eigenen Sohn erlebt. Dieser Rückblick gerät ihr zur Traumerzählung, in der sich die Katastrophe der Familie hinter einer Spiegelwand und ihre eigene Geschichte auf der Vorderbühne ereignen.

In diesem Doppelspiel, in dem sich die Ereignisse überlagern und die für die Träumende gleichzeitig stattfinden, ist die Rolle der Iphigenie doppelt besetzt.  Die von ihren  Albträumen geschlagene greise Iphigenie ist eine stumme Rolle für eine Schauspielerin. Die Iphigenie, die diese in ihren Träumen sieht, ist eine junge Frau, die Priesterin der Diana, die zur Schlächterin verdammt ist  und die im letzten Augenblick vom Brudermord bewahrt wird, eine Rolle, in der Véronique Gens, wie nicht anders zu erwarten war, brilliert.

Ein lieto fine, wie es Libretto und Musik wollen, kann es in diesem Scenario nicht geben. War die Rettung des Orest – sein Blut besudelter Hals spricht dagegen – vielleicht doch nur eine Wunschvorstellung der Iphigenie? Hat sie ihren Bruder doch abgeschlachtet? War der Tod des Tyrannen vielleicht nur ein Theatercoup? (Pylades sticht ihn in der Theaterloge ab, wo sich Thoas am Schauspiel der angeblich rituellen Ermordung des Orest weiden wollte). Die Regie lässt die Frage offen. Die Albträume der greisen Iphigenie enden erst mit ihrem Tod. Sie stirbt – in einer Nachstellung der Pietà – in den Armen einer Mitbewohnerin(?) des Greisenstifts.

Eine in jeder Weise faszinierende Inszenierung, eine Variante des  Mythos, die im Palais Garnier auch ein überwiegend touristisches Publikum zur Aufmerksamkeit zwingt.  Dass neben der Rolle der Iphigénie auch alle anderen Rollen herausragend besetzt sind, dass die ‚erhabene‘ Musik Glucks angemessen zelebriert wird, versteht sich im Pariser Opernhaus von selber.

Wir sahen am 2. Dezember 2016 die 20. Aufführung der Iphigénie en Tauride in dieser Inszenierung. Die Premiere war in der Spielzeit 2006/2007.

 

Vom Trash und Actionfilm zur Operette ist es nur ein Schritt – daneben. Eine musikalisch brillante – eine szenisch missglückte Iphigénie en Tauride bei den Salzburger Pfingstfestspielen

Keine Frage, beim alljährlichen  Bartoli Festival bürgt die Mitwirkung der Primadonna assoltuta  für Hochkultur. Niemand zweifelt daran, dass die Bartoli eine grandiose Sängerin ist und dass sie je nach Bedarf  auch die grandiose Komödiantin oder Tragödin zu mimen weiß.  Als Primadonna und Tragödin  brillierte sie jetzt in der Rolle der Protagonistin in   Glucks Iphigenie. Ihr zur Seite, ebenbürtig in Gesang und Spiel, Christopher Maltman als von den Erinnyen verfolgter Orest. Im Graben ein berühmtes auf alte Musik spezialisiertes Ensemble: I Barocchisti. Am Pult Diego Fasolis.

So wären denn beinahe alle Voraussetzungen für einen großen Opernabend gegeben, ja wenn das Regieteam mit seiner Degradierung des Mythos zum Trash sich nicht alle Mühe gegeben hätte, ein Kontrastprogramm zur Musik zu liefern, aus einer ‚erhabenen Musik‘ den Soundtrack  für einen Actionfilm zu machen.  Einen Actionfilm unter Kolchose Bäuerinnen, die von einem gewalttätigen Brigadier tyrannisiert werden, einem Bürokraten, der sich in den Kopf gesetzt hat, jeden Fremden, den es in das Lager  verschlägt, von der depressiven Oberbäuerin und ihren Genossinnen abschlachten zu lassen.… → weiterlesen

Iphigenie im Doppelpack und Medea als abgehalfterte Pop-Sängerin. Zwei Wiederaufnahmen in Amsterdam und in Brüssel

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Wann hat man schon Gelegenheit, beide Gluck Iphigenien – Iphigénie en Aulide und Iphigénie en Tauride – hinter einander an einem Nachmittag zu hören und noch dazu dirigiert von Marc Minkowski und gespielt von Les Musiciens du Louvre. Grenoble. Das Musiktheater Amsterdam bot im September 2011 in mehreren Vorstellungen diese Rarität. Keine Frage, dass in Amsterdam brillant und schön gesungen und musiziert wurde… → weiterlesen

Albträume in Aulis und Tauris. Iphigénie en Tauride am Theater an der Wien

Wie schon die Zeitgenossen so feiern in deren Nachfolge auch die heutigen Musikhistoriker Glucks „tragédie opéra“ vom Jahre 1779 als einen der Höhepunkte der Oper im 18. Jahrhundert. Ein hymnisches Urteil, das wohl den Sachverhalt trifft und das die Aufführung im Theater an der Wien nur wieder einmal bestätigen kann. Auf der Bühne ein Ensemble grandioser, faszinierender Sängerschauspieler (allen voran Véronique Gens und Stéphane Dégout als Iphigenie und Orest), aus dem Orchestergraben erklingt ein ‚erhabener’ Gluck. Ob die feierlich getragene Musik, wie sie die Wiener Symphoniker unter der Leitung von Maestro Bicket zelebrieren, mit den Gewaltszenen, die die Regie auf die  Bühne  stellt, in ‚Einklang’ steht? Ich weiß es nicht. Ob die Option für eine moderne Variante des Iphigenie Mythos, bei der auf alle antiken Mytheme verzichtet wird und das Geschehen als Albtraum, als traumatische Verstörung einer jungen Frau begriffen wird, als eine Kette von Gewaltausbrüchen, bei  denen diese vom unschuldigen Opfer zum verzweifelten Täter im Dienste eines Gewaltherrschers wird, ob all dies mit der Musik harmoniert? Ich weiß es nicht. Zur Ouvertüre setzt die Regie die Vorgeschichte als Pantomime in Szene: die Opferung, sprich: die Abschlachtung der Iphigenie in Aulis, die Ermordung des Agamemnon in Mykene, die Rache an Klytämnestra, die das Kind Orest schon in seinen Traumvorstellungen vollzieht. Und in Tauris – so erzählt das Libretto – geht das Morden weiter, für das jetzt die schwarz gekleidete Killertruppe des Gangsterboss Thoas – und Iphigenie zuständig sind. Und Agamemnon und Klytämnestra spielen als blutverschmierte Wiedergänger mit, erscheinen stets von neuem in den Wahnvorstellungen des Orest und in den Traumata der Iphigenie. In dieser Welt der Gewalt und der psychischen Verstörung  ist Heilung nur eine schöne, unglaubwürdige Utopie. Und so ist es nur konsequent, dass die Regie das lieto fine verweigert. Keine Diana erscheint als Deus ex machina. Den Part der Diana übernimmt Iphigenie. Erlösung und Heilung, wenn es sie denn gibt, müssen die Menschen selber bewirken. Auch im Mythos ist Gott tot. Ich weiß nicht, um es noch einmal zu sagen, ob Torsten Fischers Regiekonzept zu Glucks Musik passt: schlüssig und spektakulär ist es alle Male – und wird doch bei der so wirkungsmächtigen Musik letztlich zur quantité negligeable. So sahen und hörten wir im Theater an der Wien wieder einmal Musiktheater auf höchstem Niveau. Wir sahen die Aufführung am 18. März. Es war die die dritte Vorstellung nach der Premiere am 14. März 2010.