Wie schon die Zeitgenossen so feiern in deren Nachfolge auch die heutigen Musikhistoriker Glucks „tragédie opéra“ vom Jahre 1779 als einen der Höhepunkte der Oper im 18. Jahrhundert. Ein hymnisches Urteil, das wohl den Sachverhalt trifft und das die Aufführung im Theater an der Wien nur wieder einmal bestätigen kann. Auf der Bühne ein Ensemble grandioser, faszinierender Sängerschauspieler (allen voran Véronique Gens und Stéphane Dégout als Iphigenie und Orest), aus dem Orchestergraben erklingt ein ‚erhabener’ Gluck. Ob die feierlich getragene Musik, wie sie die Wiener Symphoniker unter der Leitung von Maestro Bicket zelebrieren, mit den Gewaltszenen, die die Regie auf die Bühne stellt, in ‚Einklang’ steht? Ich weiß es nicht. Ob die Option für eine moderne Variante des Iphigenie Mythos, bei der auf alle antiken Mytheme verzichtet wird und das Geschehen als Albtraum, als traumatische Verstörung einer jungen Frau begriffen wird, als eine Kette von Gewaltausbrüchen, bei denen diese vom unschuldigen Opfer zum verzweifelten Täter im Dienste eines Gewaltherrschers wird, ob all dies mit der Musik harmoniert? Ich weiß es nicht. Zur Ouvertüre setzt die Regie die Vorgeschichte als Pantomime in Szene: die Opferung, sprich: die Abschlachtung der Iphigenie in Aulis, die Ermordung des Agamemnon in Mykene, die Rache an Klytämnestra, die das Kind Orest schon in seinen Traumvorstellungen vollzieht. Und in Tauris – so erzählt das Libretto – geht das Morden weiter, für das jetzt die schwarz gekleidete Killertruppe des Gangsterboss Thoas – und Iphigenie zuständig sind. Und Agamemnon und Klytämnestra spielen als blutverschmierte Wiedergänger mit, erscheinen stets von neuem in den Wahnvorstellungen des Orest und in den Traumata der Iphigenie. In dieser Welt der Gewalt und der psychischen Verstörung ist Heilung nur eine schöne, unglaubwürdige Utopie. Und so ist es nur konsequent, dass die Regie das lieto fine verweigert. Keine Diana erscheint als Deus ex machina. Den Part der Diana übernimmt Iphigenie. Erlösung und Heilung, wenn es sie denn gibt, müssen die Menschen selber bewirken. Auch im Mythos ist Gott tot. Ich weiß nicht, um es noch einmal zu sagen, ob Torsten Fischers Regiekonzept zu Glucks Musik passt: schlüssig und spektakulär ist es alle Male – und wird doch bei der so wirkungsmächtigen Musik letztlich zur quantité negligeable. So sahen und hörten wir im Theater an der Wien wieder einmal Musiktheater auf höchstem Niveau. Wir sahen die Aufführung am 18. März. Es war die die dritte Vorstellung nach der Premiere am 14. März 2010.