Vom Trash und Actionfilm zur Operette ist es nur ein Schritt – daneben. Eine musikalisch brillante – eine szenisch missglückte Iphigénie en Tauride bei den Salzburger Pfingstfestspielen

Keine Frage, beim alljährlichen  Bartoli Festival bürgt die Mitwirkung der Primadonna assoltuta  für Hochkultur. Niemand zweifelt daran, dass die Bartoli eine grandiose Sängerin ist und dass sie je nach Bedarf  auch die grandiose Komödiantin oder Tragödin zu mimen weiß.  Als Primadonna und Tragödin  brillierte sie jetzt in der Rolle der Protagonistin in   Glucks Iphigenie. Ihr zur Seite, ebenbürtig in Gesang und Spiel, Christopher Maltman als von den Erinnyen verfolgter Orest. Im Graben ein berühmtes auf alte Musik spezialisiertes Ensemble: I Barocchisti. Am Pult Diego Fasolis.

So wären denn beinahe alle Voraussetzungen für einen großen Opernabend gegeben, ja wenn das Regieteam mit seiner Degradierung des Mythos zum Trash sich nicht alle Mühe gegeben hätte, ein Kontrastprogramm zur Musik zu liefern, aus einer ‚erhabenen Musik‘ den Soundtrack  für einen Actionfilm zu machen.  Einen Actionfilm unter Kolchose Bäuerinnen, die von einem gewalttätigen Brigadier tyrannisiert werden, einem Bürokraten, der sich in den Kopf gesetzt hat, jeden Fremden, den es in das Lager  verschlägt, von der depressiven Oberbäuerin und ihren Genossinnen abschlachten zu lassen.

Keine Frage, dass auch der Iphigenie Mythos zur Aktualisierung einlädt, dass er über ein großes Gewaltpotential verfügt, das sich leicht visualisieren lässt, dass die Figuren der Iphigenie und des Orest Traumatisierte sind, die von ihrer Vergangenheit nicht los kommen. Defekte und Neurosen, die das Regieteam ‚lustvoll‘ in Szene zu setzen weiß. Gleich in den ersten Szenen will sich die Oberbäuerin (in der Person der Cecelia Bartoli) mit ihrem Schal an einem Feldbett erdrosseln. Und der stets am Rande des Wahnsinns  laborierende Orest (in der Person des Christopher Maltman) ist geradezu todessüchtig. Dass in diesem Ambiente der Brigadier mit der Pistole herumfuchtelt und seine Kapos ihren Sadismus an den Gefangenen austoben, das war zu erwarten.

Der krude Realismus oder, wenn man so will, dieser Hyperrealismus, für den das Regieteam optiert, hat indes latent komische Züge, eine Besonderheit, die die Regie im Laufe des Geschehens immer stärker herausstellt. Da gerät die Wahnsinnsszene des Orest zu einem Ausflug auf die Geisterbahn.  Da wetzen die Kolchose Bäuerinnen an ihren bunten Röcken nacheinander das Schlachtmesser für den armen Orest, der derweil als Nackedei auf einer Plastikbahn hockt und sich verlegen das Gemächte mit den Händen bedeckt. Ein Glück für unsere beschämten Damen im Publikum, dass sich eine Genossin im Finale des Armen erbarmt und ihm  zwecks Bedeckung der Blöße ihren Regenmantel leiht.

Ja, im Finale, da sind wir dann endgültig in der Komödie oder, wenn man so will, in der Parodie eines James Bond Films gelandet. Göttin Diana erscheint als Goldfinger Girl, als „Mädchen aus purem Gold“ und verkündet lieto fine für alle. Von der Tragödie zur Komödie, so wussten es schon die Romantiker, ist es halt nur ein Schritt. In Salzburg ging der Schritt wohl daneben.

Aber vielleicht ist das alles ganz anders gemeint: ich glaubte bisher, der Iphigenie Mythos erzähle in seinem Kern vom Sieg der Zivilisation über die Barbarei. In Salzburg sieht man das anders. Eine Überwindung der Barbarei gibt es nur in der Komödie. War dies vielleicht die ‚message‘?

Der „Aktualisierungsfetisch“ – so Sven – Eric Bechtolf – hat „auch immer eine gewisse Scheinheiligkeit. Die Kunst gibt sogar gelegentlich Antworten. Aber sie gibt sie nicht so platt, nicht so naheliegend, nicht so schnell, wie es sich die trendigen Positivisten wünschen“. Dem ist nichts hinzu zu fügen. (zitiert nach Kulturmagazin. Die Presse. 23. 5. 15, S. 7.).

„Allein was tut’s“. Allgemeine Begeisterung bei Mitwirkenden und im Publikum. Ein schwaches Buh für die Regie wird gleich niedergebrüllt.  „Welch ein Adonis ist doch diese Orest“ – „Ein Adonis mit Feigenblatt, der wohl  im Fitness Studio übernachtet.“ Wiener Schmäh an der Garderobe aufgeschnappt. Salzburg, wie es euch gefällt.  Hochkultur  (teilweise), ein elegantes Publikum (teilweise), das sich selbst genügt, exorbitante Kartenpreise und draußen vor der Tür, gleich am Eingang, die Bettler aus den einstigen balkanischen Habsburgerländern, die mit aggressiver Demutsgeste ihren Obolus fordern.

Wir sahen die Premiere am 22. Mai 2015.

Am nächsten Abend  Händels Semele konzertant. Und wieder die Primadonna in der Hauptrolle, und wieder steht ihr ein exzellentes Ensemble zur Seite (größtenteils das Ensemble, das vor bald zehn Jahren in der Robert Carsen Inszenierung  der Semele in Zürich brillierte).  Wie sie da singen und dazu mit wenigen Gesten zugleich spielen, da entsteht Musiktheater in der Imagination des Publikums, und man ertappt sich bei dem Gedanken, dass  konzertant gesungene Opern, die die Szene nur andeuten, vielleicht die eigentlichen Musiktheaterfeste sein könnten.