Machtspiele mit List und Gewalt. Händel zu Besuch bei Mussolini und seiner Clique. Agrippina am Theater an der Wien

Händel und Grimani und Carsen, der Musiker, der Librettist, der Theatermacher, sie alle kennen ihren Machiavelli und wissen von ihm, dass Macht sich nur mit List und Gewalt erobern und bewahren lässt. Doch anders als der kühle Florentiner begnügen sie sich nicht mit der Beschreibung und Analyse politischer Machtstrukturen. Sie ziehen den Machtwahn ins Lächerliche, vernichten die  Figuren in der Satire. Regisseur Robert Carsen geht noch einen Schritt weiter: nicht nur dass er die Satire aktualisiert, er ändert das Finale und kehrt zu Machiavelli zurück. Es gibt bei ihm keinen Komödienschluss, geschweige denn ein lieto fine. Der neue Machthaber greift zur Sicherung seiner Herrschaft als erstes zur Gewalt, lässt den möglichen Rivalen, die Geliebte, die ihn verschmäht und die Person, die ihn mit ihren Intrigen die Macht verschafft hat, umbringen.

Die machiavellistischen Gewalt- und Ränkespiele, die das Libretto in eine ferne Vergangenheit, in das Rom des Kaisers Claudius, verlegt hatte, transferiert die Regie in das faschistische Rom der Dreißigerjahre, macht aus dem Kaiser Claudius den Duce Mussolini , einen leicht vertrottelten älteren Herrn, den statt der Machtspiele nur die Sexspiele mit seinen Girls und die theatralische Selbstinszenierung für die Kameras interessieren. Ein Duce, der die Machtspiele seiner Gattin Agrippina, der die Ränke, Intrigen und Komplotte, mit denen diese ihren Sohn Nerone als Nachfolger des Duce aufbauen will, nicht im Geringsten durchschaut bzw. der diese gar nicht durchschauen will. Ihn interessieren nur seine Gespielinnen. Und die Folgen sind fatal.… → weiterlesen

Orlando für müde Opernbesucher. Das Theater Freiburg kürzt Händels Orlando auf zwei Stunden und begeistert sein Publikum

Ein glühend heißer Tag in Freiburg. Im Opernhaus auch am Abend noch Saunatemperaturen. All dies stört Akteure und Musiker  anscheinend nicht im Geringsten. Das Philharmonische Orchester Freiburg spielt unter der Leitung von Julia Jones einen Händel der Extraklasse -melancholisch und temperamentvoll, ganz wie es die jeweilige dramatische Situation gebietet. Die Streicher – so erfährt man im Programmheft – musizieren mit „Barockbögen“. Ein Grund – vielleicht – für den so ungewöhnlichen ‚Schönklang‘. Oder wie will man diesen Klang  nennen? Die Musikfeuilletonisten werden es wissen – vielleicht. Doch ergehen wir uns nicht in Feuilletonlyrik. Sagen wir einfach:  es hat mir gefallen, es hat mich beeindruckt, wie in Freiburg Händel zelebriert wird.

Und das gleiche gilt für die Akteure auf der Bühne. Wie Xavier Sabata den Orlando sang und gestaltete, wie sein so wunderschöner, so klarer Countertenor so leicht und so scheinbar  mühelos den Raum füllte, wie seine Stimme die ganze Skala der Affekte durchzuspielen, Liebe, Schmerz, Raserei zu gestalten wusste, das ist einfach grandios. Ich hatte Xavier Sabata schon in kleineren Rollen gehört – zuletzt in Bad Lauchstädt im Rahmen der diesjährigen Händelfestspiele – und seine Kunst bewundert. Doch an diesem Abend in Freiburg als Orlando da hat er als Sänger und Schauspieler sich geradezu selbst übertroffen. Da war er faszinierend und wurde zu Recht von einem Publikum, das alle Müdigkeit vergessen hatte, begeistert gefeiert. Das soll nicht heißen, dass alle anderen Rollen nicht angemessen besetzt waren. Doch an diesem Abend überragte sie Orlando alle.

Und die Inszenierung? Ich muss gestehen, ich habe die Konzeption, wenn es denn eine gab, nicht verstanden: ein Einheitsbühnenbild, auf der Drehbühne ein birnenförmiges stählernes Gerüst, das zu Turnübungen einlädt. Ein Cembalo, vor dem gelegentlich ein Musiker im Barockkostüm sitzt. Nach der Pause fungiert das Cembalo als Blumenkasten. Statisten, offensichtlich mit Balletterfahrung, die mal Unterweltgeister, mal sanfte exotische Zootiere mimen. Der Magier, eine Mischung aus protestantischem Pastor und fernöstlichem Guru. Sind der Magier, das Stahlgerüst, die Tiere, vielleicht auch Angelica und Medoro, nur Phantasie- und Wahngebilde eines Orlando furioso? Ist dieser Orlando, wie er da barfuß im weißen Sommeranzug auf der Bühne herumirrt, vielleicht Patient in einem Sanatorium? Tritt deswegen Dorinda als Krankenschwester auf? Sind Angelica, die mit halber Gesichtsmaske auftritt und  der knabenhafte Medoro vielleicht Figuren aus der commedia dell’arte, eben Wiedergänger der Verliebten, der Innamorati? Ist dieser so verliebte Medoro vielleicht androgyn? Oder ist das Liebespaar vielleicht  lesbisch? Fragen, auf die Theatermacher Joachim Schlömer, von dem wir vor Jahren einmal eine brillante Inszenierung von Les Troyens in Stuttgart gesehen haben, keine Antwort geben will.

Doch warum wollen wir unbedingt nach einer anspruchsvollen Grundkonzeption suchen. Sagen wir einfach: wir sahen ein Märchenspiel, hörten und sahen brillante Sängerschauspieler, hörten virtuos gespielte Musik  und erlebten in einem mittelgroßen Haus einen schönen – leider zu stark gekürzten Händelabend.

Wir besuchten die Aufführung am 19. Juli 2015. Die Premiere war am 12. Juli 2015.

 

 

Frankensteins nymphomanische Töchter. Katie Mitchell inszeniert Alcina beim Festival d’Aix-en-Provence

Circe/Alcina ist eine Künstlerin der Verwandlungen. In Aix greift die Regie eine weitere Variante des Mythos auf. Alcina verwandelt nicht nur Menschen in Tiere und Pflanzen. Sie weiß – und über diese Gabe verfügt auch ihre Schwester Morgana – auch sich selbst zu verwandeln. Alcina und Morgana sind keine Märchenfiguren aus ferner, unbestimmter Vergangenheit. Sie sind – so aktualisiert die Regie den Mythos – alte Frauen, die, gehen sie durch eine Zwischentür aus ihrem Kabinett in den Salon, sich in attraktive junge Frauen verwandeln. Oder sind sie vielleicht junge Frauen, die sich in alte Frauen verwandeln können? Die beiden Damen  sind nicht nur Verwandlungskünstlerinnen, sie sind zugleich Nymphomaninnen, die ihre Opfer verführen, fesseln, betäuben, sie im Labor durch eine Röhre schieben  und sie als Tiere oder Pflanzen wieder herauskommen lassen.  Drastische Szenen, die  bei all ihrem ‚Realismus‘ nicht der Komik entbehren. Zu ihrer scheinbar so spontanen Liebeserklärung an Bradamante lässt sich Morgana ans Bett fesseln, und der arme Ruggiero, den die Helferinnen der Alcina in Schach halten, sieht mit offenem Mund zu, wie seine Bradamante für die Operation aufs Bett geschnallt wird. Der Verwandlungstortur entgehen beide nur dank der Intervention des draufgängerischen Militärs Melisso, der die Maschine noch gerade abstellen und Ruggiero von den Fesseln befreien kann.

Doch die Regie, wenngleich sie diese Szenen und ebenso die, in denen Ruggiero mit tatkräftiger Hilfe der amazonenhaften Bradamante die Macht der beiden Hexen bricht, breit und realistisch ausspielen lässt, will nicht primär eine Krimistory um zwei mörderische, nymphomanische alte Hexen erzählen. Zwar will sie  auf ein paar James Bond Einlagen oder besser gesagt: auf Parodien von James Bond Einlagen nicht verzichten. Doch ihr geht es um etwas ganz anderes, wenn man so will, um  etwas Ernsthafteres. Sie will mit der Figur der Alcina eine Variante von der ‚Liebe als Passion‘, von der selbstzerstörerischen Passion, erzählen. Und damit macht sie – ganz wie es dem Libretto und der Musik entspricht – aus Alcina eine Variante von Tassos Armida in den Kostümen von heute. Armida/Alcina, die verzweifelte Liebende, die zwischen Leidenschaft und Rachsucht hin und her Gerissene, die mit der Flucht des Ruggiero ihre Liebe und zugleich ihre Macht verliert.

Eine Akzentsetzung, die Armida/Alcina in der Person der grandiosen Sängerin und Schauspielerin  Patricia Petibon allen Raum zur Entfaltung gibt. Wie diese die großen Arien, die die ganze Skala der Affekte umfassen, singt und gestaltet, mit welcher Innigkeit sie die Melancholie Arie „Sì, son quella! Non più bella […]“ singt  oder wie sie am Ende mit „Mi restano le lagrime“ geradezu zusammenbricht, das ist schon beeindruckend und bewundernswert. Mögen, um nur noch zwei berühmte Namen zu nennen, mit Philippe Jaroussky als Ruggiero und Anna Prohaska als Morgana auch die Rollen des Primo Uomo und der Seconda Donna exzellent besetzt sein, in dieser Aufführung ist Patricia Petibon als Primadonna der große und zu Recht gefeierte Star.

Nur eines habe ich an diesem in Musik und Szene so großen Händel-Abend bedauert: dass die Aufführung im modernen Saal des Grand Théâtre de Provence und nicht im Innenhof des ehemaligen bischöflichen Palais stattfand. Die spätabendlichen Aufführungen unter südlichem Himmel machen doch gerade den besonderen Reiz des Festival d’Aix-en-Provence aus.

Wir sahen die Vorstellung am 10. Juli, die dritte Aufführung in dieser Inszenierung.

 

 

 

Ihre Durchlaucht der Kleiderständer. Händel, Almira. Ein Flop in Innsbruck. „Farinelli und seine Rivalen“. Ein Highlight in Innsbruck

Mit alter Musik kann man schon mal verdammt alt aussehen – eine Sichtweise, die uns die diesjährige Opernpremiere der „Innsbrucker Festwochen der Alten Musik“ wohl vermitteln wollte.

Kann Händels Musik wirklich so langweilig und schwunglos sein, so eintönig und öd klingen, so lustlos und verschlafen dargeboten werden wie jetzt in Innsbruck? In Innsbruck gelingt dieses Vorhaben. Dort haben uns ein berühmter Dirigent, ein sehr bekanntes Orchester und ein mittelmäßiges Ensemble Händel so verleidet, dass wir nach der Pause die Flucht ergriffen haben. Diese so dürftige Aufführung ist besonders ärgerlich, weil es in Innsbruck ja nicht an Kompetenz, Begeisterungsfähigkeit und Phantasie mangelt. Wir haben in den letzten Jahren bei den Festwochen höchst gelungene Aufführungen gesehen: La Clemenza di Tito, Acis and Galatea, Don Chiscotte in Sierra Morena, um nur ein paar beliebige Beispiele zu nennen. Doch in diesem Jahr, um es ganz simpel zu sagen, ist wohl die Luft raus. Da will man sich wohl auf den alten Lorbeeren ausruhen.

Und die Regie, statt gegenzusteuern, hat zu diesem Eindruck der Öde und Lustlosigkeit das Ihrige noch dazu getan. Die Innsbrucker Theatermacher leiden am Leid der Prinzessinnen – und Prinzessin  Almira steht da stellvertretend für all die Prinzessinnen und Königinnen, die, kaum hat man ihnen die Staatsrobe übergestülpt, zu Kleiderständern werden und all ihre so schönen Passionen unterdrücken müssen. So ergeht es der Rokoko Prinzessin (laut Programmheft Marie Antoinette) in der ersten Szene und der Renaissance Königin Elisabeth in der Schlussszene des ersten Akts. Und selbstverständlich darf in diesem Reigen der Unglücklichen nicht die arme Diana fehlen. Sie agiert in den  mittleren Szenen. Unsere Prinzessin  Almira von Kastilien  hat es immerhin besser als ihre Standesgenossinnen. Sie kriegt nicht den Kopf abgeschlagen, sie schlägt ihn auch nicht einer Rivalin ab. Sie kommt auch nicht frühzeitig zu Tode. Sie kriegt wohl (falls die Regie dem Libretto folgt)  ihren Sekretär Fernando, einen ungelenken bärbeißigen Bariton mit dem Charme eines …, (nun wir wollen keiner Berufsgruppe zu nahe treten) zum Gemahl – und da kann sie einem wiederum nur leidtun.

Wie schade, dass die Regie bei ihrem Mit-Leiden mit den armen Prinzessinnen so ganz verdrängt hat, dass Händels erste Oper keine opera  seria , sondern  eine Operette avant la lettre  ist und dass man sie diesem Genre entsprechend inszenieren müsste. Immerhin müssen unsere Innsbrucker Theatermacher etwas von diesem Operetten-Subtext geahnt haben, wenn sie ein als Amor verkleidetes hübsches Mädchen nebst zwei Amoretten wie Kobolde neckisch durch die Szene geistern lassen. Ja, wir erinnern uns: „Amor vincit omnia[…]“ – zumindest in der Operette.

Wir haben vor zwei Monaten bei den Händel Festspielen in Halle Almira gesehen – in einer Inszenierung, die ich als nicht gelungen abgetan habe. Heute muss ich dem Hallenser Produktionsteam Abbitte tun. Im Vergleich zu dem, was jetzt in Innsbruck geboten wurde, waren in Halle Regiekonzeption, Szene und Musik geradezu grandios. In Halle wusste man immerhin, wie eine Operette funktioniert und  hat das Publikum entsprechend unterhalten. In Innsbruck hat man Händel szenisch und musikalisch zum Schlafmittel gemacht.

Aber vielleicht war nach der Pause alles anders? Dann hätte ich voreilig vielleicht das Beste versäumt? Vielleicht? Hoffen wir das Beste für das Innsbrucker Festival. Es kann nur besser werden. Schlechter wohl kaum.

Wir sahen die Premiere am 12. August 2013.

Die „Innsbrucker Festwochen der Alten Musik“ sind dieses Jahr wohl als Festival der scharfen Kontraste angelegt. Auf einen Flop folgt gleich ein Highlight. Es ist eigentlich kaum vorstellbar, dass ein Ensemble der alten Musik, das wenige Tage zuvor sich in edler Langeweile übte, jetzt beim Solistenkonzert wie ausgewechselt auftritt, mit grandiosen Solisten brilliert, temperamentvoll und voller Schwung und ansteckender Begeisterung sein Publikum im Spanischen Saal des Schloss Ambras mit Händel, Vivaldi und Leonardo Vinci geradezu verzaubert.

Keine Frage, dass der Countertenor David Hansen, der nicht nur Händel Ohrwürmer wie die Arie des Giulio Cesare „Sei in fiorito“ und die des Ariodante aus dem letzten Akt „Doppo notte“ vortrug, sondern auch (zumindest mir) unbekannte Arien  von Leonardo Vinci gestaltete, erheblichen Anteil an dem so gelungenen Kontrastprogramm hatte. David Hansen, den wir zum ersten Mal live erlebten: eine wunderschöne Stimme, die mühelos durch die Register und Koloraturen eilt und im Piano  so sanft und einfühlsam klingt. Doch lassen wir die Feuilleton Lyrik. Sagen wir einfach: es war ein großer Abend. Ein Fest der Musik des Settecento.

Wir besuchten das Konzert am 19. 8. 2014.

Familiensaga und die Mär vom Selbstmord des Spekulanten oder vielleicht doch eine Variante der Christusmythe? Messiah am Theater an der Wien

Dass Händels Oratorien eine Affinität zur Oper besitzen und sich dem entsprechend als Musiktheater inszenieren lassen, ist dem Opernbesucher nicht neu. Hat er doch in den letzten Jahren vom Trionfo del Tempo e del Disinganno über den Saul bis hin zur Semele so manches Opernoratorium gesehen und gehört und dabei Versionen von Bieito, Carsen, Flimm, Loy  und so manch anderem Theatermacher erlebt.

Doch Händels Messias, dessen Libretto vor allem auf Zitaten aus dem Alten Testament und der Apokalypse beruht, als Musiktheater zu inszenieren, geht das überhaupt? Ja, das geht, so zeigt und beweist es uns Claus Guth in seiner szenischen Fassung, die jetzt in der Osterzeit am Theater an der Wien wieder aufgenommen wurde. Es geht, wenn man – dies ist der erste Eindruck, der sich aufdrängt –  es geht, wenn man das Oratorium radikal säkularisiert und es gegen die Musik und gegen das Libretto dreht. Es geht, wenn man nicht die Christusmythe nacherzählt, sondern in einer Art Bilderbogen, zu dem die Drehbühne ausgiebig genutzt wird, vom Leiden und Sterben eines unglücklichen Außenseiters und von der Reaktion seiner Familie auf dessen Tod erzählt. Eine Grundkonzeption, die vom Anfang bis zum Ende konsequent durchgezogen wird und die auch den zunächst skeptischen oder gar befremdeten Zuschauer überzeugt und fasziniert. Und dies nicht nur, weil diese Messiah – Version höchst brillant inszeniert wird, weil dort nicht minder brillant musiziert und gesungen wird, sondern auch weil die Christusmythe oder die Christustragödie in ihrer konsequenten Säkularisierung ihre uns vielleicht fern stehende heilsgeschichtliche Aura verliert und zur Tragödie eines gescheiterten und verzweifelten Menschen von heute wird.

Damit beim Publikum auch nicht der geringste Zweifel an der Säkularisierungstendenz aufkommen kann, zeigt die Inszenierung gleich zu Beginn den Vertreter der Orthodoxie, den Priester, der die Trauergemeinde trösten soll, als Alkoholiker, der an seiner Aufgabe und seinem Amt zweifelt. Nicht genug damit. Im Finale wird der Priester zum berühmten Duett „Tod, wo ist dein Stachel“ vollständig betrunken sein und mit dem ebenfalls betrunkenen Bruder des Verstorbenen einen grotesken Tanz aufführen. Säkularisiert die Regie den Messiah nicht nur? Parodiert sie ihn noch dazu? Die Priesterszenen sind nicht die einzigen, die parodistische Züge tragen. Zur Arie „Ich weiß, dass mein Erlöser lebet“ und zum Accompagnato „Siehe, ich sage euch ein Geheimnis“ stellt die Regie die Abendmahlszene nach, eine Szene, in der der Geist des Toten erscheint, der ältere Bruder dem jüngeren bedeutet, dass er um dessen Beziehung zur Frau des Verstorbenen weiß, eine Szene,in der der ältere Bruder den Priester gewaltsam zum Gebet zwingt und in der das groteske Trinkgelage beginnt. Die Abendmahlszene als Leichenschmaus und Familienabrechnung.

Doch neben diesen, sagen wir es vorsichtig, ambivalenten Szenen, stehen Szenen von unbedingter oder auch erschütternder Ernsthaftigkeit wie die Auftritte des verzweifelten Außenseiters (eine pantomimische Rolle, die von einem Tänzer gespielt wird) oder die der gehörlosen Gebärdendarstellerin, die nichts versteht und  die intuitiv doch alles versteht. Von geradezu dramatischer Wucht – szenisch und musikalisch – sind die Chorszenen, die auf die Auftritte des Chores in einer griechischen Tragödie verweisen und die, so schön und ergreifend manche solistischen Gesangspartien auch sind, die Aufführung geradezu dominieren.

Händels Messias glaubt man schon so viele Male im Laufe der Jahre gehört zu haben.  Doch so eindrucksvoll  und zugleich so zurückhaltend  wie  Christophe Rousset, Claus Guth und ein hochkarätiges Ensemble  ihn  jetzt in Wien zelebrieren, habe ich den Messias wohl bisher noch nicht erlebt.

Wir sahen die Aufführung am Abend des Gründonnerstags, am 17. April. Es war die zweite Vorstellung nach der Premiere am 14. April 2014.

 

 

 

 

 

 

 

 

Und sie fängt ihn nicht wieder ein. Kein lieto fine für Ruggiero und Bradamante. Alcina an der Opéra National de Paris

Armida, Circe und Calypso haben es besser. Ihnen bleiben zumindest die Tränen („Mi  restano le lagrime“) – und das Leben. Alcina bleibt nichts. Sie muss Geliebten und Leben lassen. Ihr Held  verlässt sie nicht nur. Er meuchelt sie noch dazu und weiß den Mord  so aussehen zu lassen, als habe sie sich selber erdolcht. Die wieder aufgetauchte mütterliche Ehefrau Bradamante und  ihr Psychiater scheinen zu triumphieren. Ein kurzfristiger Triumph. Noch über ihren Tod hinaus dominiert die sanfte Alcina den schwächlichen Ruggiero. Nicht zur Mutter kehrt er zurück. Er entschwindet ins Dunkel, in „das dunkle Reich des Todes“? Ein stupendes Finale mit impliziten Verweisen auf Freud und Wagner.

Und das war auch schon der einsame Höhepunkt einer Inszenierung, die ansonsten so dahin plätschert.… → weiterlesen