Frankensteins nymphomanische Töchter. Katie Mitchell inszeniert Alcina beim Festival d’Aix-en-Provence

Circe/Alcina ist eine Künstlerin der Verwandlungen. In Aix greift die Regie eine weitere Variante des Mythos auf. Alcina verwandelt nicht nur Menschen in Tiere und Pflanzen. Sie weiß – und über diese Gabe verfügt auch ihre Schwester Morgana – auch sich selbst zu verwandeln. Alcina und Morgana sind keine Märchenfiguren aus ferner, unbestimmter Vergangenheit. Sie sind – so aktualisiert die Regie den Mythos – alte Frauen, die, gehen sie durch eine Zwischentür aus ihrem Kabinett in den Salon, sich in attraktive junge Frauen verwandeln. Oder sind sie vielleicht junge Frauen, die sich in alte Frauen verwandeln können? Die beiden Damen  sind nicht nur Verwandlungskünstlerinnen, sie sind zugleich Nymphomaninnen, die ihre Opfer verführen, fesseln, betäuben, sie im Labor durch eine Röhre schieben  und sie als Tiere oder Pflanzen wieder herauskommen lassen.  Drastische Szenen, die  bei all ihrem ‚Realismus‘ nicht der Komik entbehren. Zu ihrer scheinbar so spontanen Liebeserklärung an Bradamante lässt sich Morgana ans Bett fesseln, und der arme Ruggiero, den die Helferinnen der Alcina in Schach halten, sieht mit offenem Mund zu, wie seine Bradamante für die Operation aufs Bett geschnallt wird. Der Verwandlungstortur entgehen beide nur dank der Intervention des draufgängerischen Militärs Melisso, der die Maschine noch gerade abstellen und Ruggiero von den Fesseln befreien kann.

Doch die Regie, wenngleich sie diese Szenen und ebenso die, in denen Ruggiero mit tatkräftiger Hilfe der amazonenhaften Bradamante die Macht der beiden Hexen bricht, breit und realistisch ausspielen lässt, will nicht primär eine Krimistory um zwei mörderische, nymphomanische alte Hexen erzählen. Zwar will sie  auf ein paar James Bond Einlagen oder besser gesagt: auf Parodien von James Bond Einlagen nicht verzichten. Doch ihr geht es um etwas ganz anderes, wenn man so will, um  etwas Ernsthafteres. Sie will mit der Figur der Alcina eine Variante von der ‚Liebe als Passion‘, von der selbstzerstörerischen Passion, erzählen. Und damit macht sie – ganz wie es dem Libretto und der Musik entspricht – aus Alcina eine Variante von Tassos Armida in den Kostümen von heute. Armida/Alcina, die verzweifelte Liebende, die zwischen Leidenschaft und Rachsucht hin und her Gerissene, die mit der Flucht des Ruggiero ihre Liebe und zugleich ihre Macht verliert.

Eine Akzentsetzung, die Armida/Alcina in der Person der grandiosen Sängerin und Schauspielerin  Patricia Petibon allen Raum zur Entfaltung gibt. Wie diese die großen Arien, die die ganze Skala der Affekte umfassen, singt und gestaltet, mit welcher Innigkeit sie die Melancholie Arie „Sì, son quella! Non più bella […]“ singt  oder wie sie am Ende mit „Mi restano le lagrime“ geradezu zusammenbricht, das ist schon beeindruckend und bewundernswert. Mögen, um nur noch zwei berühmte Namen zu nennen, mit Philippe Jaroussky als Ruggiero und Anna Prohaska als Morgana auch die Rollen des Primo Uomo und der Seconda Donna exzellent besetzt sein, in dieser Aufführung ist Patricia Petibon als Primadonna der große und zu Recht gefeierte Star.

Nur eines habe ich an diesem in Musik und Szene so großen Händel-Abend bedauert: dass die Aufführung im modernen Saal des Grand Théâtre de Provence und nicht im Innenhof des ehemaligen bischöflichen Palais stattfand. Die spätabendlichen Aufführungen unter südlichem Himmel machen doch gerade den besonderen Reiz des Festival d’Aix-en-Provence aus.

Wir sahen die Vorstellung am 10. Juli, die dritte Aufführung in dieser Inszenierung.