Wer zu Herheim geht, der weiß von vornherein, dass ihn ein großes Spektakel erwartet, dass Komponist und Librettist nur noch die Stichwortgeber sind für die alles überbordende Phantasie eines hoch begabten Theatermachers, mit der er auch die bekanntesten Stücke des Repertoires zum Gaudi oder auch zum Entsetzen des Publikums neu erzählt. Die Kehrseite der Medaille ist, dass in Herheims Operninszenierungen Musik und Gesang Gefahr laufen, zur quantité negligeable zu werden, zum Soundtrack zu verkommen drohen. So geschah es vor ein paar Jahren in Salzburg der Entführung aus dem Serail und im vergangenen Jahr dem Lohengrin in der Staatsoper unter den Linden. Und so geschah es jetzt dem Rosenkavalier in Stuttgart. Ohne Zweifel wurde durchweg auf hohem Niveau gesungen und musiziert. Doch angesichts des großen Spektakels, das sich da auf der Bühne ereignete, fiel der musikalische Part nicht weiter auf. So fragte sich denn am Ende eines höchst unterhaltsamen Theaterabends die Opernbesucherin, die sich ganz in die Rolle des Voyeurs gedrängt sah, ob da nun eine „Komödie für Musik“ geboten wurde oder ob das Ganze „halt eine Farce [war] und weiter nichts“. Ich glaube, es war weder das eine noch das andere. Was wir in Stuttgart erlebten, das war – wie zu erwarten – ein großer Stefan Herheim Abend – und weiter nichts, ein Fest des Theaters, in dem sich barocker und akademischer Malerei des 19. Jahrhunderts entsprungene Silen und Satyrn, Rokokoporzellanfiguren, Strauss Karikaturen, Personen aus der Commedia dell’arte, Karnevalstypen aus Venedig, ein leibhaftiger Lohengrin, Kindersoldaten aus der K. und K. Monarchie, eine Madonna im Strahlenkranz und wer weiß was noch für Personal tummelten. Wie unser Theatermacher in Berlin dem Lohengrin alles Romantische ausgetrieben hatte, so nimmt er jetzt in Stuttgart dem Rosenkavalier alles Sentimentale und alle Süßlichkeit und setzt auch hier wie schon in Berlin auf die Karnevalisierung des Geschehens: auf Komik, Groteske und Gelächter und hin und wieder, wenn ihn die Lust am Karneval verlässt, auch auf Nachdenklichkeit und vielleicht auch auf einen Gran Betroffenheit. So wird aus der Mär von der ach so entsagungsvollen, ach so großherzigen Dame von Welt, die in konventionellen Inszenierungen die sentimentalen Kühe im Publikum schon im Finale des ersten Akts zu Tränen rührt, ein Satyrspiel um die verdrängten sexuellen Gelüste und Sehnsüchte einer etwas überreifen Dame. Und dies auch im ganz konkreten Sinne. Noch vor der Ouvertüre sieht der Zuschauer eine Marschallin, die den Spiegel zerschlägt und in einem ganz konkreten Wolkenkuckucksheim bei dichtem Theaternebel von leibhaftigen Satyrn bedrängt wird und die ein höchst androgyner, schmächtiger Oktavian, der wie ein zu klein geratener Sankt Michael oder wie ein zu groß geratener Eros Knabe aus der Höhe herabfährt, nur mühsam vertreiben kann. Und wenn dann schließlich Marschallin und Oktavian ihr Liebespiel beginnen, dann schaut ein Satyr von einem Prospekt, eine Art Collage aus Nymphen und Faun (so genau kann man das nicht erkennen), breit grinsend herab: und alle (Woll)lust will Ewigkeit, und das Satyrspiel geht weiter. Mit einer ganzen Horde von Satyrn schneit der Baron Ochs auf Lerchenau herein und wenn er dann im zweiten Akt zum Liebesspiel mit der Duenna die Perücke abnimmt, dann trägt auch er die Hörner des Satyrs. Dass der Ochs zum Satyr wird, das ist nicht unbedingt originell – das Liebestolle oder meinetwegen das Geile ist ja in der Rolle schon angelegt. Originell ist indes, wie diese Anlage in aller Deutlichkeit in Szene gesetzt wird. Wenn der Ochs von seinen Eroberungen unter den Landmädchen erzählt, („Wollt ich könnt sein wie Jupiter selig / in tausend Gestalten, /wär Verwendung für jede“) dann springt er auf das Bett der Marschallin und sucht diese und ihre angebliche Kammerzofe gleichzeitig handgreiflich zu ‚erobern’. Mögen die Lerchenauer und ihr Anführer in ihrer Rolle als Satyrn dem Fundus der Museen entsprungen sein, so reiht sich der Graf Octavian in seiner Schmächtigkeit und in seinem Rokokokostüm in die Welt der Porzellanfiguren ein, wie sie in so mach einem Schlösschen aus galanter Zeit zu bewundern sind. Mag sein, dass er ähnlich wie die Satyrn nur in den erotischen und wollüstigen Träumereien der Marschallin existiert. Und Sophie? In ihrem ganzen Outfit ist sie als die Jungmädchenausgabe der Marschallin angelegt. Und jetzt könnten, wenn sie denn wollten, die alten Damen und die müden Greise im Publikum mit einem Male verstehen, was Oktavian in der Begegnung mit Sophie geschieht: er ist nicht untreu oder gar flatterhaft. Er ist verliebt in das Idealbild seiner Marschallin und glaubt es in der jungen Sophie gefunden zu haben. Ereignet sich die Begegnung des neuen Paars in einem geradezu kammerspielartigen Ambiente, geraten die Szenen mit Ochs und seiner Entourage zum großen Karnevalsfest – vor einer nur eben angedeuteten venezianischen Kulisse. Da erscheinen die Masken, die Harlekine, der Vogel Strauss(!), und selbst die Marschallin mischt sich unter die Ausgelassenen, ja und die sonst so keusche Duenna, die „Jungfer Marianne“, mutiert zur kleinen Femme fatale, die sich an den Ochs heranmacht. Und jetzt verstehen wir im Publikum auch, dass ein von all diesem lustvollen Treiben erschöpfter Ochs, ein trunkener Silen, dem Wein und Weib zu Kopf gestiegen sind, auf dem großen Himmelbett einschläft und zum Rendez-vous mit Mariandel/Oktavian aus Schlaf und Bett gezogen werden muss und schlaftrunken, wie er ist, gar nicht mitkriegt, was ihm angetan wird. Auch im dritten Akt, der in den konventionellen Inszenierungen sich in albernen Gags und Sentimentalitäten erschöpft, weiß Herheim sein Publikum noch zu verblüffen. Da fährt die edle Marschallin als Karikatur der Jungfrau Maria im Strahlenkranz vom Bühnenhimmel herab, da versinkt das neue Traumpaar – getrennt voneinander – im Nebel in der Unterbühne, da darf der dickleibige Faninal sein abschließendes Sprüchlein – „Sein schon aso, die jungen Leut!“ – aus einer Loge im ersten Rang aufsagen, und die Marschallin antwortet ihm von der gegenüber liegenden. Ein hübscher Metatheatergag: die scheinbar so hoch gesinnten Theaterfiguren – jetzt in Alltagskleidung – denken und schwatzen genau so banal wie das durchschnittliche Publikum. Die Antwort gibt in einer Pantomime der Satyr: er zerbeißt und verschluckt die silberne Rose, die doch nur ein billiges Glasprodukt, Glitzerzeug, war und verendet zum Ende des Spektakels. „Alle Lust will Ewigkeit“? Nein, alle Lust ist zu Ende. In Stuttgart – um es noch einmal zu sagen – ist ein grandioser Rosenkavalier zu sehen, ein Rosenkavalier indes, bei dem der musikalische Part ganz im Schatten der Inszenierung steht, ein Rosenkavalier, bei dem Richard Strauss letztlich zur Unperson, zur Karikatur wird. Nicht von ungefähr schlägt in einer Schlüsselszene im dritten Akt ein genervter Ochs so lange auf den Vogel Strauss ein, der da hilflos auf der Bühne herumsteht, bis dieser zusammensinkt. In Berlin hatte Theatermacher Herheim mit seinem Lohengrin den kleinen Sachsen erledigt. In Stuttgart war der kleine Bayer an der Reihe. Prima la messa in scena, e poi…? Wir sahen die Aufführung vom 10. Januar 2010, die 9. Vorstellung nach der Premiere am 1. November 2009.