„Die Zeit, die ist ein sonderbares Ding.“ Ein Rosenkavalier der Vergänglichkeit in Karlsruhe
Nach dem szenisch und wohl auch musikalisch reichlich misslungenen Samson präsentiert das Badische Staatstheater am Abend darauf den Rosenkavalier: einen sanften, zurückhaltenden oder auch, wenn man so will, einen konventionellen Rosenkavalier, der auf den ersten Blick auf allen inszenatorischen Ehrgeiz zu verzichten scheint. Will das Produktionsteam im Bühnenbild, in der Ausstattung, im Auftritt der Personen vielleicht die Dresdner Uraufführung nachstellen oder zumindest mit sanfter Ironie und vorsichtiger Parodie auf die Rezeptionsgeschichte verweisen? – so fragt sich zunächst die etwas irritierte Zuschauerin. Da finden sich auf der Bühne das elegante Boudoir der Hochadligen, das protzige Palais des reichen Bürgers, das Heurigenlokal in der Vorstadt, die barocken Staatsroben, die Perücken, die Unzahl der Lakaien, der Don Juan vom Lande und sein halbdebiles Gefolge, das schüchterne und doch zugleich zielstrebige Mädchen, der androgyne Jüngling, die schöne und noch immer sehr jugendliche große Dame. Eigentlich alles, wie man das so kennt. Und doch ist alles ein bisschen anders, und diese Variatio, diese unaufdringliche Variation des Althergebrachten macht den Reiz der Aufführung aus. Die Zeit, die vergehende Zeit („In den Gesichtern rieselt sie, im Spiegel da rieselt sie…“), ist das Grundmotiv der Inszenierung: ein schöner Einfall, eine Sichtweise ganz im Sinne eines barock verstandenen Hofmannsthal. Hat man den Vanitas Gedanken, der eben nicht nur Vergänglichkeit, sondern auch die Lust an der Vergänglichkeit bedeutet, einmal als Grundkonzeption der Inszenierung verstanden, dann befremdet das scheinbar Historisierende nicht mehr. Die Zitate aus der Rezeptionsgeschichte, eben aus einer vergangenen Zeit, und ihre mal vorsichtigen, mal plakativen Brechungen erscheinen dann nur konsequent. Vielleicht wird die Konzeption im ersten Akt noch nicht ganz deutlich, im zweiten und vor allem im dritten Akt wird sie geradezu überdeutlich. Mag der sommerliche Heurigengarten im dritten Akt noch eher ein vorsichtiges Absetzen von der Tradition der dämmrigen Schuppen als Ort der Handlung sein, so ist der zweite Akt geradezu ein Zitatenkonglomerat aus Altem und Neuem: aus dem scheinbar so konventionellen Lever im Boudoir ist eine Holiday on Ice Show im Foyer der Semper Oper geworden, in der das neue Paar indes etwas verloren wirkt. Das Pseudoballett der Choristen agiert dafür umso wuchtiger (das Eislaufen hat man indes den Choristen erspart. Das haben ein paar schlanke Jünglinge aus der Statisterie übernommen). Im dritten Akt wird das Leitthema der Vergänglichkeit geradezu parodiert. Aus dem „kleinen Mohren“, der noch im ersten Akt für die Schokolade und den Transport der silbernen Rose zuständig war, ist im letzten Akt ein hoch gewachsener Farbiger im weißen Anzug geworden, ein Zuschauer, den die Maskerade amüsiert, die da vonstatten geht, ein Rosenverkäufer, der das Taschentuch aufnimmt, das Sophie aus dem Alkoven wirft und der eine rote Rose vor der Bettstatt deponiert. Kitsch pur? Natürlich. Aber ein sanfter. Und während das neue Paar sein berühmtes Schlussduett singt, entledigt sich die Marschallin der Staatsrobe und der Perücke und steht wie am Anfang im Negligé da – und macht sich auf die Suche nach einem neuen Liebhaber. Die vergangene Liebe macht Platz für eine neue. Ein bisschen banal. Aber warum auch nicht. Die vergehende Zeit, die ist halt „ein sonderbares Ding“. Phrasen, wie Oktavian zu Recht bemerkt (und wie sich Hofmannsthal korrigiert): „Sie spricht ja heute wie ein Pater“.
Ein schöner Abend – ganz im Gegensatz zu dem ärgerlich verlorenen gestrigen. Eben die „schöne Musik“ – detailverliebt dirigiert und mit wenigen Ausnahmen recht brillant gesungen. Wir sahen die Vorstellung am 16. Oktober 2010. Die Premiere war am 10. Juli 2010.