Mythen aus dem verkommenen Österreich. Martin Kusej inszeniert Rusalka an der Bayerischen Staatsoper

In Salzburg hatte Jossi Wieler vor ein paar Jahren Dvoráks Variante des Undine Mythos als Antimärchen mit einer Prise Gesellschaftskritik und einem Bonbon Feminismus (entsprungene Liebhaber werden im Gully entsorgt) in Szene gesetzt. In Graz (und in Brüssel) wollte Stefan Herheim von Märchenzauber und Antimärchen Tristesse nichts wissen und hatte  Rusalka als großes Karnevalsspektakel im Irma la Douce Ambiente inszeniert, in dem der „Wassermann“ zum frustrierten Kleinbürger mutiert und als Jack the Ripper endet und Rusalka, die kleine Dirne mit der großen Sehnsucht, im ewigen Kreislauf  gleich wieder auf die Prinzenjagd geschickt wird. Und jetzt in München: da wird dem einstigen „lyrischen Märchen“ aller Märchenzauber radikal ausgetrieben. Auch vom Antimärchen ist nichts mehr übrig geblieben und von Komik und Karneval nur noch die böse Groteske. Man muss wohl wie das Münchner Produktionsteam aus der  tiefsten österreichischen Provinz stammen und dazu seinen Thomas Bernhard kennen, um aus dem Rusalka Märchen  eine so bitterböse Österreich Satire zu machen, um die schlimmsten Mythen aus dem heutigen Habsburgerland dem romantischen Undine Mythos überzustülpen: die Kampusch Erzählungen von Gefangenschaft und Flucht aus den Kellerverliesen eines Unterschichtenmacho, die Amstettener  Inzest Geschichten von den im Heizungskeller gefangenen und missbrauchten Mädchen, die Geschichten von den Schönen und Mächtigen, die sich hübsche Gespielinnen aus der Unterschicht halten und diese, wenn sie unbequem werden und bei neuen Affären stören, von sich stoßen. Kinderschänder sind sie alle, die da auf der Bühne versammelt sind: der elegante „Prinz“, der sich die Gespielin vom Jagdausflug mitbringt und der in Maske, Kostüm und Auftreten an die Schönsten (oder vielleicht auch gerade an den Schönsten) unter Österreichs Politikern und Bankern erinnert, der proletarische „Wassermann“ in Unterhemd, Jogginghose und Bademantel, der gerade vom Aldi heimkommt und Schokolade  an die Mädchen in seinem Heizungskeller verteilt – Herr Wassermann: eine Kreuzung aus Amstettener  Inzestpapa und Kampusch Quäler, die Kupplerin von „Hexe“, die sich in der Bergsee Idylle im Sessel rekelt, der  scheinbar biedere „Förster“, der nach seiner kleinen Nichte, dem „Küchenjungen“, grapscht. Und wer vielleicht nicht zu den Kinderschändern gehört wie die Spaßgesellschaft im Hause des „Prinzen“, der ist verblödet, voyeuristisch, gierig, neidisch – nicht dekadent, einfach nur verkommen und pervers – und Tierquäler dazu. Zum Tanz hält die Spaßgesellschaft ausgeweidete Rehe in den Armen und besudelt sich mit deren Blut. (Die Symbolik mit ihrem Hinweis auf das Geschick der Gespielin des „Prinzen“ ist überdeutlich).  Die einzige Szene, die ein vielstimmiges Buh im Publikum provoziert – ein entlarvendes Buh: Kinderschänder  auf der Bühne nehmen wir Gutmenschen hin. Tierquälerei nicht. Man mag wie manch biederer Abonnent, der sich auf ein vorweihnachtliches Märchenspiel gefreut hatte, die Regiekonzeption für abwegig halten. Doch in ihrer Kohärenz und Konsequenz, in ihrer Bildersprache und ihrer Bildsymbolik ist sie geradezu bewundernswert. Vielleicht, wenn man so will, hin und wieder etwas zu plakativ.  Zur Ouvertüre öffnet sich der Vorhang vor der Bilderbuchkulisse des heilen Österreichs mit seinen Wäldern, Wiesen und Seen, seinem heiteren Himmel. Und dann kommt langsam die Unterbühne hoch: der Heizungskeller mit den misshandelten und gefangenen Mädchen (zur Erinnerung: bei Dvorák sind es die „Waldnymphen“). Und jetzt hat wohl auch der Unbedarfteste unter den Zuschauern die Regiekonzeption  verstanden:  unter der heilen Welt des idyllischen Habsburgerlandes lauert das Grauen, ein Grauen, das nicht  am Ende zum erlösenden romantischen Todeskuss führt, sondern geradewegs ins Irrenhaus, letzter Ort für die von der Polizei aus den Verliesen befreiten Mädchen, der Ort, in dem eine irre gewordene Rusalka ihren vom Wahn infizierten „Prinzen“ absticht. Und zu all dem Grauen erklingt aus dem Orchestergraben eine vollendet schöne, sublime spätromantische Zaubermusik. Und damit sind wir wieder einmal bei der romantischen Ästhetik, für die der Theatermacher Kusej schon so lange ein Faible hat. Das Sublime und das Groteske, das heißt: das Schöne und das Edle auf der einen Seite und das Monströse und das Schaurige, dem das Buffoneske nicht fern ist, auf der anderen Seite, sie gehörten zusammen und  aus ihrem Kontrast entstünde großes Theater – so hat vor bald zweihundert Jahren Victor Hugo argumentiert. Theatermacher Kusej folgt diesem bewährten Rezept. Für das Sublime waren bei ihm  in Salzburg und in Zürich Mozart, Schumann und Maestro Harnoncourt  zuständig. In München waren es Dvorák und Maestro Tomás Hanus und ein brillantes Sängerensemble, die für das Sublime sorgten. Für die Groteske auf hohem Niveau sorgten Kusej und sein Team. Und aus dem Kontrast und dem Ineinanderübergehen beider ästhetischer Prinzipien  entstand in München ein großer Opernabend. Nach so manch ärgerlichem Flop, nach so manch peinlicher Repertoireaufführung hat die Bayerische Staatsoper mit der Rusalka wieder eine Produktion der allerersten Kategorie auf ihrem Spielplan. Wir sahen die Vorstellung am 4. November 2010.