Der Ring an einem Abend mit dem Rheingold-Sound. David Hermann inszeniert Das Rheingold am Badischen Staatstheater Karlsruhe

In Karlsruhe hat man zu Ende der Spielzeit mit einem neuen Ring begonnen und in der Nachfolge des einst so erfolgreichen Stuttgarter Modells für jedes der vier Stücke einen anderen Regisseur engagiert. David Hermann, der für Das Rheingold zuständig ist, hat diese Entscheidung  vielleicht nicht so ganz behagt. Er hätte wohl lieber den gesamten Ring in Szene gesetzt. Ein Dilemma, aus dem er einen originellen Ausweg gefunden hat.

Ist Das Rheingold, wenngleich es gern als „Konversationsstück“ apostrophiert wird, nicht schon ein Ring in nuce? Vornehm ausgedrückt: ist Das Rheingold nicht eine ‚mise en abyme‘, eine konzentrierte Duplikation des Bühnenfestspiels? Erklingen nicht dort schon Leitmotive, die den Ring bestimmen? Gibt es neben den musikalischen nicht auch textuelle Verweise auf die Handlung der folgenden Stücke? Die Antworten auf diese Fragen liegen für die Wagnerianer auf der Hand. Die Urzeit verweist schon auf die Endzeit. Betrug, Raub und Mord, grenzenlose Machtgier, drohender Untergang, all diese Basisthemen, die das Geschehen im Ring bestimmen, sind schon im Rheingold angelegt. So ist es durchaus konsequent und keineswegs ein Gag, wenngleich es dem Zuschauer auf den ersten Blick so erscheinen mag, dass die Regie die Schlüsselszenen des Rings als pantomimische Parallelhandlung zu dem Geschehen im Rheingold in Szene setzt. Begnügen wir uns damit, aus der Fülle der Verweisungen nur einige signifikante Beispiele zu nennen.… → weiterlesen

Giacomo Meyerbeer, Le Prophète. Eine aktualisierte Reality-Show am Badischen Staatstheater Karlsruhe

Revolte in der Banlieue, ein Fanatiker als Muttersöhnchen und Tyrann nebst Belcanto in der Tiefgarage. Spannend und (manchmal) unterhaltsam ist das Spektakel, das Theatermacher Tobias Kratzer in Karlsruhe in Szene setzt, alle Male.

Die Regie transponiert die Geschichte vom Aufstieg, Terror und Untergang der Wiedertäufer und deren Propheten  aus der Reformationszeit in die Pariser Vorstädte von heute, hängt dem scheinbar so charismatischen Anführer der Sektierer und Revoluzzer einen Ödipuskomplex an – und lässt doch Belcanto zu. Und dies nicht nur beim scheinbar so idyllischen Beginn, sondern vor allem im vorletzten Bild, wenn Fidès, die Mutter des Propheten (in der Person der Ewa Wolak), auf der Ladefläche eines Kleinlasters in der Tiefgarage hocken muss und trotz dieser für die Sängerin mehr als unbequemen Lage einfach grandios singt. Le sublime et le grotesque, das Schöne und Hässliche, verschränken, überlagern sich – ganz wie es sich für eine Grand opéra aus romantischer Zeit gehört.

Ob der sublime Belcanto all die Hässlichkeit, als dieses Hyperreale, in dem die Inszenierung schwelgt, als Kontrastprogramm  braucht? … → weiterlesen

Unterammergau ohne Stückl. Oder wie ein bekannter Tenor sich als Hauptdarsteller, Regisseur und Ausstatter in Personalunion versucht: Samson und Dalila im Badischen Staatstheater Karlsruhe

Die Mär von der niederträchtigen femme fatale und dem tölpelhaften Kraftmeier Samson ist halt eine schlimme Geschichte. Doch ganz schlimm wird sie, wenn sie jemand in Szene setzt, der weder über eine tragfähige Konzeption noch über die handwerklichen Fähigkeiten verfügt, die man eigentlich von einem Theatermacher erwartet.

In Köln hatte im vergangenen Jahr Tilman Knabe  die biblische Erzählung vom Krieg der Israeliten mit den Philistern und von der schönen Dalila, die den einfältigen Muskelprotz der Israeliten erledigt, als aktuelle Variante vom ewigen Hass und von permanenten Gewaltexzessen zwischen verfeindeten Völkern oder Stämmen oder Gruppen neu erzählt. In Köln geschieht dies mit den Mitteln des Films: mit Zitaten aus den Genres des Kriegsfilms und des französischen Gangsterfilms. Und die heikle Schlussszene – ein wieder zu Kräften gekommener Samson reißt den Tempel der Feinde ein – wird erst gar nicht realisiert.

Die größten Gewaltexzesse  ereignen sich in der Phantasie, in der perversen Gewaltphantasie, in der von der medialen Gewalt infizierten Phantasie des Zuschauers. Nicht so anspruchsvoll war man in  St. Gallen. Dort beim sommerlichen Festspektakel auf der Freilichtbühne vor dem Dom  hatte man Samson und Dalila als bunten Bilderbogen aus den Märchen von Tausend und einer Nacht verstanden. Und in Karlsruhe? Da weiß man nicht so recht, was man will. Ein bisschen alttestamentarischer „Krippenspielrealismus“? Ein bisschen Sadismus? Ein bisschen Kastrationsangst des armen Macho? Ein bisschen Traumtheater? Ein bisschen Nazi Perversionen? War es das?  Ort der Handlung ist ein  Konzentrationslager. Oder vielleicht auch ein Auffanglager für Latinos in Arizona, die von einem machtlüsternen Sheriff drangsaliert werden?  Oder vielleicht auch eine Bohrinsel, die zum Konzentrationslager umfunktioniert wurde? Die drei Stahlkonstrukte, die herumstehen, erinnern an Wachttürme oder auch an Bohrtürme. Alte, Frauen und Kinder – letztere dürfen zwischendurch ein bisschen fangen spielen – liegen jammernd am Boden, und ein wohlgenährter langhaariger Samson stachelt zum Aufstand an und erledigt schon mal den schwarz gekleideten Kommandanten. Den SS-Offizier? Eine Aktion, die den Oberkommanten – im Libretto der Oberpriester der Philister –  beträchtlich in Rage bringt.

Keine Sorge, liebes Publikum. Gleich kehrt Ruhe ein. Gleich dürfen die matten Krieger träumen. Da kommt auch schon eine Schar weiß gekleideter blonder Mädchen (Priesterinnen der Aphrodite? Schülerinnen eines Mädcheninternats, einer Waldorfschule, die sich alle in weiße Gewänder gehüllt haben?) und kümmert sich um die müden Männer. Samson stört das nicht weiter. Er ist erschöpft von der Treibjagd auf die Feinde. Die Anführerin der Mädchenschar (die Oberpriesterin der Aphroditejüngerinnen?, die Direktorin der Waldorfschule?) – eine blonde Dame in Schwarz – macht dem Helden gewisse Avancen  und singt ihm und uns Zuschauern (leider ein wenig hölzern) das berühmte Frühlingslied – einen Hit aus der Oper, den wir alle kennen.

Im zweiten Akt hat sich auch Dalila in Weiß geworfen  und räkelt sich mit ihren Mädchen  in weißen Tüchern und Schleiern auf der Vorderbühne.  Sind wir im Harem  oder vielleicht in einer Versammlung von zärtlich miteinander spielenden Lesben? Der sehnsüchtig erwartete Samson, als er denn endlich erscheint, ist von dieser Situation völlig überfordert und steht erstmal nur so herum (der viel beschäftigte Sänger-Regisseur hatte offensichtlich nicht die Muße, sich auch noch mit der Personenregie zu beschäftigen. Sei’s drum). Immerhin kriegt die böse Dalila, die den verführerischen Charme einer frustrierten Hausfrau ausstrahlt und die der Oberkommandant  zuvor so richtig heiß gemacht hat, den Trottel von Samson schließlich doch noch herum. Im dritten Akt sind wir dann so richtig im KZ. Eine sadistische Wachmannschaft treibt ihre Spielchen mit dem jammernden Samson und seinen Gefährten. Dalila ist zur Domina mutiert und macht zwischendurch auch mal die Hilfspriesterin für den Oberpriester.

Und zum Finale  darf der geschundene Samson an den Türmen wackeln, die aber mitnichten zusammenbrechen, sondern sich nur ein wenig zur Seite neigen. Immerhin ein plausibler Grund dafür, dass die Vielzahl der Choristen und Statisten, nicht zu vergessen die große Schar der Kinder, die alle auf der Bühne versammelt sind,  mausetot  spielen dürfen und dass das sowieso schon dämmrige Licht ganz ausgeht. Und wenn es dann gleich wieder angeht, dann sind alle im Opernhaus, die auf der Bühne und die im Zuschauerraum, mehr als begeistert. Welch grandioses Spektakel hat uns doch unser Tenor aus Argentinien bereitet. Perdón, muy estimado Senor  Cura: Sie sind zweifellos ein sehr guter Sänger. Doch bevor Sie sich das nächste Mal als Theatermacher versuchen, schauen Sie sich doch bitte ein paar Videos von Konwitschny, von Loy und von Guth an. Oder noch besser: nehmen sie ein paar Nachhilfestunden bei diesen Herren.

Wir sahen die Premiere am 15. Oktober 2010.

Initiationsriten und Traumwelten. Euryanthe am Badischen Staatstheater Karlsruhe

In Karlsruhe ist eine Rarität zu hören und zu sehen: Webers „große heroisch-romantische Oper“, vor der die Musiktheater wohl nicht wegen der Musik, sondern wohl wegen des krausen Libretto zurückschrecken. Kraus und krude ist in der Tat die Geschichte vom Ritter Adolar, der sich von seinem Feinde und Rivalen zu einer Wette auf die Constantia seiner Braut Euryanthe verleiten lässt, Braut und Besitz verliert, die Braut verstößt und dabei doch nur einer Eifersuchtsintrige aufgesessen ist und der am Ende doch alles  schon verloren Geglaubte wiederbekommt. Vermischt und überlagert wird die Geschichte vom  vordergründig gesehen nur rachsüchtigen Tölpel mit einer Wiedergänger- und Geistergeschichte: die Schwester des Ritters, die sich aus Liebeskummer selber meuchelte, kann nur Ruhe finden, wenn die Tränen einer Unschuldigen den Ring benetzten, aus dem sie das tödliche Gift trank. Wie setzt man diese Mischung aus Schauerromantik, Mittelalter Klischees, Ariosto und Cervantes Motiven (die Treueprobe) in Szene? In Karlsruhe haben sich Roland Aeschlimann und sein Team für den Traumdiskurs als Basis der Inszenierung entschieden und diesen mit Referenzen auf den Sommernachtstraum und auf Freud- und Strindbergmaterialien konkretisiert und überdies diese Traum- und Wahnwelten mit Motiven aus dem Initiationsritus der Zauberflöte kontaminiert. Eine Konzeption, die, mag das eine oder andere Motiv auch etwas platt und anderes vielleicht zu vulgärfreudianisch’ erscheinen, überzeugt und fasziniert. Schon zur Ouvertüre erscheint die stumme, gesichtslose in ein Leichentuch gehüllte Gestalt der Selbstmörderin, und in nahezu allen Szenen ist sie als stumme Zeugin präsent. Sie ist es, die sich Euryanthe als Opfer, als Instrument für die eigene Erlösung, erwählt hat. Sie ist die Spielleiterin und alle anderen sind Werkzeuge ihrer Inszenierung. Ein schauerromantisches Motiv, eine Variante des Dracula-Mythos, deren dramatische Funktion sich schnell erschöpfen würde, würde sie nicht von den Verweisen auf die Traumwelten gestützt. Die Treueprobe und deren sinistre Folgen und ebenso die Schauergeschichte von der ‚schnöden Revenantin’ ereignen sich in den Traumwelten des nur auf sich selbst, auf seine Musik und seine Muse Euryanthe bezogenen Künstlers und Ritters Adolar. Ein Traumspiel, in dem ganz im Sinne von Strindbergs Traumspiel alles geschehen kann, alles „möglich und wahrscheinlich ist […] Vor einem unbedeutenden Wirklichkeitsgrund entfaltet sich die Einbildung und webt neue Muster: ein Gemisch aus Erinnerungen, Erlebnissen, freien Erfindungen, Absurditäten und Improvisationen“. In eine in dieser Weise strukturierte Welt steigert sich der Protagonist immer mehr hinein und zieht auch die naiv-unschuldige Euryanthe, eine Art Elsa avant la lettre und in ihrem Leiden eine neue Genoveva, mit hinein. Dieser an Strindberg gemahnende Traumdiskurs, der immer wieder mit Freudklischees verbunden wird, zieht sich von Anfang an durch die Inszenierung. Dunkel, schwarz gekleidet, nur bei den Frauen sind die Gesichter erkennbar, ist die Hofgesellschaft, die dem ebenfalls ganz in schwarz gekleideten Ritter aus einem Gazevorhang heraus schemenhaft, eben als Traumbild, erscheint. Albtraumgestalten, die Adolar, der sich an einen überdimensionierten Geigenkasten klammert (an die ihm verschlossene, unerreichbare Muse, an die für ihn unerreichbare Donna), bedrängen. Mögen der Geigenkasten und das in ihm verborgene Musikinstrument nebst seinen weiblichen Konnotationen, eine Art Leitmotiv der Inszenierung, in ihrer symbolischen Bedeutung schwanken, so ist anderes wiederum leicht zu entschlüsseln: die Treppe, die Stiege, auf der alles Geschehen sich abspielt, auf der auf- und nieder gestiegen wird, als ein Freudsches Sexualsymbolik. Das Dreieck auf der Höhe der Treppe, vor dem  und in dem Euryanthe im ihr unbewussten Streit mit ihrer Rivalin um Adolar unterliegt, steht konventionell für das Weibliche („le sexe féminin“). Die Schlange, die Adolar attackiert und die er nur mühsam überwindet, erscheint natürlich  in Gestalt der bösen Rothaarigen, die den armen Rittersmann und seine ‚süße Braut’ vernichten wollte. Und natürlich erscheint ihm diese Schlange in dem Augenblick, als er sich in seinem Wahn im Walde (im Wald der Sünde, im Wald der Sommernachtsträume verirrt hat) und an der Liebe seiner Braut irregeworden ist. Doch am Ende, ganz wie es sich für ein Märchen gehört, bestehen der Held und seine treue Gefährtin alle Prüfungen: die Initiation ist gelungen, die edle Selbstmörderin findet die ewige Ruh, „und es war alles, alles gut!“ Es gibt sicher noch manche relevante Besonderheit, die mir in der komplexen und zugleich so stringenten Inszenierung entgangen sein mag. Wie dem auch sei. Faszinierend und spannend ist die Karlsruher Euryanthe alle Male. Roland Aeschlimann hat gezeigt, dass auch ein scheinbar so wenig bühnenwirksames Stück, wenn man es nur in die ihm angemessene Welt der Träume und der Schauder zu transponieren weiß, einem aufgeschlossenen und interessierten Publikum zugänglich ist. Und dies erst recht, wenn wie jetzt in Karlsruhe  durchweg berückend schön gesungen und musiziert wird (allen voran Edith Haller in der Titelrolle). Am Badischen Staatstheater hat man eine zu Unrecht fast vergessene Oper Webers neu entdeckt.  Wir sahen die Premiere am 29. Mai 2010.