Giacomo Meyerbeer, Le Prophète. Eine aktualisierte Reality-Show am Badischen Staatstheater Karlsruhe

Revolte in der Banlieue, ein Fanatiker als Muttersöhnchen und Tyrann nebst Belcanto in der Tiefgarage. Spannend und (manchmal) unterhaltsam ist das Spektakel, das Theatermacher Tobias Kratzer in Karlsruhe in Szene setzt, alle Male.

Die Regie transponiert die Geschichte vom Aufstieg, Terror und Untergang der Wiedertäufer und deren Propheten  aus der Reformationszeit in die Pariser Vorstädte von heute, hängt dem scheinbar so charismatischen Anführer der Sektierer und Revoluzzer einen Ödipuskomplex an – und lässt doch Belcanto zu. Und dies nicht nur beim scheinbar so idyllischen Beginn, sondern vor allem im vorletzten Bild, wenn Fidès, die Mutter des Propheten (in der Person der Ewa Wolak), auf der Ladefläche eines Kleinlasters in der Tiefgarage hocken muss und trotz dieser für die Sängerin mehr als unbequemen Lage einfach grandios singt. Le sublime et le grotesque, das Schöne und Hässliche, verschränken, überlagern sich – ganz wie es sich für eine Grand opéra aus romantischer Zeit gehört.

Ob der sublime Belcanto all die Hässlichkeit, als dieses Hyperreale, in dem die Inszenierung schwelgt, als Kontrastprogramm  braucht? Wie dem auch sei. Anders als die aktualisierte, in den ewigen Krieg zwischen Israelis und Palästinensern transponierte Salome, die wir vor ein paar Tagen in Stuttgart gesehen haben, bietet sich Le Prophète geradezu für eine Aktualisierung an.  Die Geschichte vom simplen Gastwirt, der sich nichts anderes vom Leben wünscht als ein idyllisches Beisammensein mit Mama und Liebchen und den, weil ihm die Mächtigen dieses vermeintliche Glück zerstören, drei religiöse Fanatiker  zur Galionsfigur ihrer Bewegung machen können, zum machtlüsternen Tyrannen und falschen Heiligen, der erbärmlich scheitert und Mama und Liebchen mit sich in den Tod reißt.

Ein Stoff, aus dem die Mélodrames sind, ein Erzählmaterial aus aneinander gereihten Klischees, die Tobias Kratzer mit leichter Hand – doch leider ohne einen Funken von Ironie oder gar (Gott bewahre) Parodie und Satire – in die Welt von heute, in die Fiktion einer Welt von heute, überträgt. Gleich zur Ouvertüre geht es mit den Klischees los: Kiffer in der Garage, korrupte, gewalttätige  Polizisten, die die Drogensüchtigen vertreiben und das zurück gelassene Rauschgift einstecken, Inzest zwischen Mutter und Sohn. Und dann geht es Schlag auf Schlag. Die Wiedertäufer des Libretto sind zu scheinbaren Biedermännern mutiert, die die Bibel (oder vielleicht auch den Koran oder die Mao-Bibel) verteilen, Fanatiker und Aufwiegler, die sich bei Gefahr in der Menge verstecken – einer Masse aus Ghetto Kids, Dealern und abgestürzten Proleten. Ein Prophet, den die Dunkelmänner für den Fernsehauftritt eines Politikers zurecht machen und dessen Reden sie manipulieren. Ein Volk, das sich von der Macht der Bilder und der Worte willenlos verführen lässt, Breakdance der Ghetto Boys zu Meyerbeers eher klassischer Ballettmusik, fernsehgerechtes Bad  des Tyrannen in der Menge, Gejammer des zu spät zur Einsicht gelangten falschen Propheten, Massenmord als Selbstmordattentäter usw.

Ja, wenn man diese Art von Reality-Show, dieses trostlose Wühlen in den Bildern, Klischees und Stereotypen von heute, wie sie uns alltäglich die Fernsehnachrichten und die einschlägigen Blätter liefern, mag?  Realismus im Theater? Nachgestellte Fernsehbilder im Theater? Das ist doch das Ende aller Imagination. Der Imagination, die Baudelaire einst „la reine des facultés“ nannte. Regisseur Kratzer, der zuletzt in Karlsruhe eine so ungewöhnliche Deutung der Meistersinger präsentiert hatte, hatte wohl beim Propheten nicht seinen allerbesten Tag. Wie schade: all der Witz, all die Brillanz, all dieses leichte Spielen mit der Rezeptionsgeschichte, all dieses geistreiche Umdeuten der Figuren, die Katzers Meistersinger Inszenierung auszeichnete, fehlt jetzt beim seinem Prophète. Ja, wir wissen schon. Le Prophète, das ist eine politische Parabel, die ewige Geschichte von der Verführbarkeit der Massen durch geschickte Propaganda, die sich stets wiederholende Geschichte der enttäuschten Hoffnungen, der Vergeblichkeit aller Revolten. Doch muss man deswegen daraus bierernstes Dokumentationstheater machen und implizit mit dem Brecht Zeigerfinger drohen?

Und die Musik? Enttäuschend wie die Inszenierung war auch der Musik- Part. Zwar standen durchweg brillante Solisten auf der Bühne (allen voran  Marc Heller in der Titelrolle und Ewa Wolak als Fidès). Doch was aus dem Graben klang, das erschien mir so seltsam  verhalten, so wenig spektakulär. Mit Verlaub gesagt: alles war ein bisschen langweilig. Oder wollte man uns signalisieren, dass Wagner eben doch ‚besser‘ als Meyerbeer sei?

Wir sahen die Aufführung am 15. Januar 2016. Die Premiere war am 18. Oktober 2015.