Im Hospiz zu Charenton. Eine Wiederaufnahme von Barrie Koskys Fliegendem Holländer am Aalto-Musiktheater in Essen

Wagner in der Kapelle nebst Kanzel und Beichtstuhl, Wagner als Wirtschaftskrimi und jetzt Wagner unter Irren in  De Sades Hospiz zu Charenton. Wagners Opern halten so ziemlich alles aus, sind – vornehm gesagt – ‚offene Kunstwerke‘, sind auf Polyvalenz angelegt. Weniger vornehm gesagt: Wagners Opern sind eine Spielwiese für unsere Theatermacher, auf der sie ihre ‚Kunstfertigkeiten produzieren‘ können.

Wir haben zufällig binnen einer Woche drei ambitiöse Wagner-Inszenierungen gesehen: einen Tannhäuser in Freiburg, bei dem die Regie plakativ die Überlagerung von Christlichem und Paganem herausstellte und dabei dem Libretto noch relativ nahe blieb, einen Lohengrin in Düsseldorf als Wirtschaftskrimi in der Hochfinanz, bei dem vom traditionellen Lohengrin nichts mehr übrig blieb. Und jetzt in Essen einen Fliegenden Holländer, bei der Sentas Wahnvorstellungen radikal ernst genommen werden und wo diese konsequenterweise in einer psychiatrischen Klinik lebt, vulgo: im Irrenhaus. Zusammen mit den anderen Irren  spielt sie noch einmal ihre Geschichte, ein Stück, das zwei Herren, die aus Logen zusehen, wohl inszeniert haben.… → weiterlesen

„La froide majesté de la femme stérile ». Stefan Soltesz verabschiedet sich vom Aalto-Musiktheater mit einem grandios zelebrierten Richard Strauss

 

Sechzehn Jahre lang war Maestro Soltesz Intendant und GMD in Essen, und in all den Jahren hat er immer wieder mit seinen Wagner- und Strauss-Interpretationen  das Publikum fasziniert und begeistert. „Sei außer Sorg“. Ich reproduziere jetzt keine Feuilletonkritiker-Poesie und sage  nicht, seine Musik sei filigran, subtil, einfühlsam, dynamisch, kongenial, klangschön, reich an Farbnuancen. All diese durch ständigen Gebrauch zu Floskeln und Leerformeln gewordenen Attribute lassen wir beiseite. Ich sage nur: für mich als simple Opernbesucherin gehört Maestro Soltesz zu den wenigen Dirigenten, die Sinn für Sinnlichkeit in der Musik haben und zugleich Ästheten sind und die die Sinnlichkeit und Schönheit der Musik ihrem Publikum zu vermitteln wissen und es begeistern und verzaubern können. Und all dies geschieht ganz ohne Starallüren und Eitelkeiten.… → weiterlesen

Trash oder Satire mit Märchentheatereinlagen? Parsifal am Aalto- Musiktheater in Essen

Dass man den Parsifal auch billig aktualisieren kann, ihn auf der Intensivstation eines heutigen Hospitals beginnen und ihn unter Pennern auf der Müllhalde enden lassen kann, dies erfuhren wir im Aalto-Musiktheater in Essen. Bot der Kölner Parsifal ein faszinierendes und anspruchsvolles Spektakel,  bietet der Essener Parsifal einen tristen und langweiligen Abend. Es sei denn, man begreift die Inszenierung  als Satire mit Märchentheatereinlagen. Die Intensivstation ist eine Art Slapstick Krankenhaus, in dem der Patient Amfortas immer wieder aus dem Bett fällt und von den herbei stürzenden Pflegern  wieder gewaschen und verbunden und neu ins Bett gesteckt wird und wo der Chefarzt nebst Gefolge bedeutsam dreinschaut. In der Lounge   des Hospitals lümmelt  sich ein gelangweilter Gurnemanz, dessen Geschichten die Internatsschüler (bei Wagner die Knappen) als Einschlafmittel genießen. Kundry – und jetzt kommt das Märchenmotiv – tritt gleich in doppelter Gestalt auf – ein Regieeinfall, der der Sängerin der Kundry im zweiten Akt erhebliche Entlastung bringt, übernimmt doch die Zweit-Kundry das non-verbale Verführungstheater. Das liturgische Geländespiel im Finale des ersten Akts  fällt  für den Zuschauer aus. Das Geschehen ereignet sich – für ihn unsichtbar – im geschlossenen Krankenhaus-Container, ein Konklave ganz besonderer Art, das dem Regisseur erhebliche  Entlastung bringt. Und die Müllhalde? Dorthin hat man wohl für den dritten Akt die Intensivstation entsorgt. Gurnemanz kriecht unter einer Matratze hervor. Ein paar  als Clochards verkleidete Statisten   treiben sich als Lumpensammler herum .Der Chor der Gralsritter singt aus dem Off. Nein, nicht immer: im Finale sind sie allesamt auf der Vorderbühne versammelt, nehmen einer kleinen Person das Lumpenkostüm ab. Welch Wunder, ein Knabe kommt unter den Lumpen hervor und hat eine Leuchtkugel in der Hand. „Enthülle den Gral“. Hätten sie ihn doch lieber verhüllt gelassen. Was unser blonder Parsifal mit seiner Lanze auf der Müllhalde eigentlich soll, das wissen wir noch aus anderen Inszenierungen.… → weiterlesen

Die Entführung findet nicht statt – und Konstanze landet in der Endlosschleife. Jetzke Mijnssen inszeniert Die Entführung aus dem Serail am Aalto- Musiktheater in Essen

Eine Wohltat. Endlich einmal keine Türkenposse, kein Märchen aus dem Morgenland, keine verschleierten Damen, keine als Gutmenschen getarnte Machos, keine hochnäsigen Europäer, keine frohgemut zu heimischen Betten zurückkehrenden Damen. Keine Angst vor der Hochzeitsnacht, keine Freud Sublimierungen und keine Volkshochschulkurse. Nichts von alle dem findet sich in der Essener Inszenierung.
In Essen steht Konstanze im Zentrum des Interesses, eine Frau, die zwei Männer liebt, die sich weder für den einen noch für den anderen zu entscheiden vermag. Wendet sie sich dem einen zu, dann sehnt sie sich nach dem anderen und will zu diesem zurückkehren. Und umgekehrt. Dieses Zögern, dieses Sich-nicht-Entscheiden- können geht wie in einer Endlosschleife immer weiter. Konsequenterweise hat die Essener Entführung kein Finale und erst recht kein happy end. Wo das Stück üblicherweise zu Ende ist, da beginnt die Ouvertüre von neuem. Konstanze, die allein auf der Bühne zurückgeblieben ist, greift sich die Reisetasche, die sie bei ihrer Ankunft im Hause des Selim mit sich trug, und geht davon. Zu welchem der beiden Männer? Zu Selim? Zu Belmonte?Das Spiel, das Spiel um die unmögliche Beziehung, um die nicht auflösbare Dreiecksgeschichte, das wir im Publikum gerade als Voyeure miterlebt haben, wird von neuem beginnen: Konstanze, eine junge Frau von heute liebt Selim, einen erfolgreichen, allseits beliebten jungen Mann von heute und kann ihren einstigen Geliebten Belmonte, den netten jungen Mann aus der Nachbarschaft (?), nicht vergessen. Auf der Party im Hause Selims trifft sie Belmonte wieder, will an die frühere Beziehung anknüpfen, tut es am Ende doch nicht, möchte zu Selim zurück, bleibt allein, bleibt beiden Männern treu und zugleich untreu. Frei nach Goethe eine Stella Variante, eine feminisierte Stella Variante? Oder ist alles nur viel banaler? Frei nach der Maxime, die eine Fraueninitiative in der Pariser Metro großflächig propagiert: “ Etre fidele a deux hommes c‘ est etre deux fois plus fidele“.
Wie dem auch sei. In Essen schlägt die Regie eine Variante, eine Version der Entführung vor, die überzeugt und gefällt. Schade nur, dass die Situierung der Handlung in ein Partymilieu nicht ganz durchgezogen wird. Zur „Qual der Seele“ , zur Seelenpein und Liebesklage treffen sich die Liebenden wohl in unbewohnten Räumen des Hauses ( sprich an der Rampe) und dass sich all dies im Rahmen einer Geburtstagsparty für einen gut situierten jungen Mann ereignen soll, das verliert der Zuschauer aus den Augen. Vielleicht passen auch die beiden Konzeptionen – Psychostudie einer zweifach Liebenden und Situierung der Handlung in eine oberflächliche ‚Spassgesellschaft‘ nicht so ganz zueinander. „Allein, was tut’s“. In Essen ist, das sagen wir ohne alle Mäkelei, ist eine ungewöhnliche Entführung zu sehen. Und das gilt nicht minder für Orchesterklang und Musik. Mit Simona Saturova als Konstanze und Bernhard Berchtold als Belmonte sind die Rollen der Protagonisten brillant besetzt sind. Es ist ein Vergnügen ist, die so oft gehörten Arien wieder zu hören, wenn sie – wie jetzt im Essener Musiktheater – so perfekt und so „seelenvoll“ vorgetragen werden.

Wir sahen die Vorstellung am 21. Juni 2012. Die Premiere war am 10. Juni 2012.

Blütenträume und Liebeshändel in der Reihenhaussiedlung: Eugen Onegin am Aalto-Musiktheater in Essen

Als „lyrische Szenen“, nicht als Oper wollte Tschaikowsky bekanntlich seinen Onegin verstanden wissen. Und „lyrische Szenen“ ereignen sich in Essen in der Tat: im brillanten Orchesterklang mit seinen solistischen Passagen, in dieser Verbindung von „Lyrik, Pathos und Tragik“, wie Maestro Srboljub Dinic im Programmheft die Musik des Onegin beschreibt. „Lyrische Szenen“ ereignen sich nicht minder in den fast durchweg brillant vorgetragenen Gesangpartien. Ja, es wäre alles so schön, oder wenn man will, so schön kitschig und romantisch, so süß und sentimental gewesen, wenn die Regie nicht versucht hätte gewaltsam gegenzusteuern: mit der Folge, dass die Szene in den ersten beiden Akten  im Kleinbürgermief  erstickte und im Schlussakt im Hollywood Kitsch versank.… → weiterlesen

‚Tannhäuser – das bin ich, Richard Wagner‘. Eine Wiederaufnahme von Neuenfels Wagner Patchwork im Aalto-Musiktheater Essen

 

Der Tannhäuser, den  Neuenfels vor knapp vier Jahren in Essen in Szene gesetzt hat und  der jetzt  dort wiederaufgenommen wurde, hat nicht eine Spur von Patina angesetzt, ist so effektvoll und spektakulär wie am ersten Tag. Und was ich mir damals zur Inszenierung notiert und in meinem Buch veröffentlicht habe,  das kann ich auch heute noch unterschreiben (Vgl. „Die schöne Musik! […] Da muß ma weinen“. Blätter aus Zerlinas Opern-Tagebuch (2005-2008).  München – Zürich – Salzburg – Wien – und die Provinz. München 2008. Meidenbauer Verlagsbuchhandlung, S.28-30). So zitiere ich mich im Blog selber und füge das eine oder andere hinzu, was mir in der Aufführung am 30. Dezember 2011 noch aufgefallen ist.… → weiterlesen