Und wieder einmal ein Flop in der Wiener Staatsoper: Johannes Maria Staud – Durs Grünbein, Die Weiden. Ein Musikprofessor und ein Poet versuchen sich am Musiktheater

Es mag ja sein, dass Durs Grünbein, der das Libretto verantwortet, ein großer deutscher Dichter ist. Und so hätten wir gern in Wien seine hehren Worte vernommen. Vergebliche Hoffnung. Die Worte  unseres Poeten waren nicht rätselhaft. Sie waren einfach nicht zu verstehen, akustisch nicht zu verstehen. Alles scheiterte an der absoluten Textunverständlichkeit, zu der die beiden Hauptdarsteller neigten. So konnte man nur ahnen, was der deutsche Dichter uns sagen wollte. Aber vielleicht wollte er uns auch gar nichts sagen und hat deswegen seine beiden Protagonisten zur Textunverständlichkeit verurteilt.

Zu sagen gab es  auch nicht viel. Der Librettist und ihm im Gefolge der Komponist haben sich an einem Thomas Bernhard Verschnitt versucht: der Thomas Bernhard Leser kennt das schon:

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Sängerfest im Hollywood Spektakel. Hector Berlioz, Les Troyens an der Wiener Staatsoper

Eine banale Beobachtung: Opéra National de Paris und Wiener Staatsoper spielen in derselben Liga: Sängerstars der internationalen Opernszene, aufwendiges und teures Ausstattungstheater – meist im traditionellen Zeffirelli Stil – exorbitante Kartenpreise, Touristen, die den Event, Melomanen, die den Kick suchen (den ‚Orgasmus in der Opernloge‘, hätte wohl Stendhal gesagt), ältere Damen und Herren im Ruhestand, die seit vielen Jahrzehnten ihr Abonnement in der Staatsoper haben und nicht zu vergessen die Queers, die für Sängerinnen mittleren Alters schwärmen. Und wie es sich für Häuser in dieser Preisklasse gehört: grandiose, exzellente Aufführungen, wenn man Glück hat – unsägliche, abgespielte Flops, wenn man Pech hat.

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Im Habsburger Opernmuseum. Capriccio und Samson et Dalila an der Wiener Staatsoper

„Karajan hat gesagt – so wird kolportiert -, es gibt 40 großartige Abende (von den 240 im Jahr), und über den Rest breitet man den Mantel des Schweigens“. Mit Ariodante, Händels Oper, die wir am 8. März 2018 in der Staatsoper besuchten, war wohl unserer Kontingent an „großartigen Abenden“ für das erste Halbjahr schon erschöpft, und so breiten wir am besten „den Mantel des Schweigens“ über Capriccio aus und erinnern  uns lieber an die „großartigen Abende“ wie sie in Frankfurt, Paris und Brüssel mit Capriccio zu erleben waren.

Und wie war’s mit Samson et Dalila? Über diese Aufführung braucht man nicht „den Mantel des Schweigens“ zu breiten. Doch „großartig“ war dieser Abend auch nicht unbedingt. Anders ausgedrückt: zwei Starsänger haben den Abend gerettet. Mit  Roberto Alagna als Samson und Elina Garanca als Dalila waren die beiden Hauptrollen exzellent besetzt: die kühle Schöne mit der verführerisch gurrenden Stimme, der von Anfang an stimmlich so mächtig auftrumpfende ‚Held‘, den die femme fatale, ganz wie es dem Schema entspricht, zum Jammerlappen macht und der seine große Rache, die ihm das Libretto verspricht, nur in der Imagination erlebt.

Samson et Dalila ist ein hybrides Opus, eine Melange aus Oratorium, Operette (sic!) und Bacchanal – und entsprechend schwer hat es die Regie. So setzt Theatermacherin  Alexandra Liedtke auf eine vorsichtige Aktualisierung des biblischen Plots, ohne sich auf eine nahe liegende Politisierung des Geschehens einzulassen. So wird halt im ersten Akt mit den konventionellen Operngesten gejammert und geklagt, Jahwe um Hilfe angerufen und gemeuchelt. Nein, nicht nur. Im Finale tritt Dalila als Frühlingsgöttin auf, betört den Helden mit ihrem verführerischen Gesang („Printenps qui commence“) und reicht ihm eine Schale mit einem Getränk. Ist es Wein oder ist es Circes Zaubertrank? Letzteres wohl. Unser Held hat vom Weibergift genossen – und es wirkt.

Im zweiten Akt empfängt die kühle Blonde im weiten Bademantel einer keuschen Hausfrau den unbedarften Helden im großbürgerlichen Badezimmer. Eine Szene, die in ihrer Spießigkeit nicht der Operetten-Komik entbehrt. Nein, sie plantscht nicht mit ihm in der Badewanne. Sie bespritzt ihn nur vorsichtig mit Wasser. Als Sirene weiß  sie um die Macht ihrer erotischen Stimme: “Mon coeur s’ouvre à ta voix“  und schneidet dem Möchte-Gern-Liebhaber ein Löckchen ab. Wer dabei an Kastration denkt –  „Honi soit qui mal y pense“ -, der hat halt einen postfreudianischen Schaden. Vor so einem Übel wollte unsere  Theatermacherin, indem sie die komödiantischen Züge der Szene betont, ihr Publikum ganz bestimmt bewahren.

Im dritten Akt kommen dann doch noch die Voyeurs auf ihre Kosten. Zur französischen Oper gehört traditionell das Ballett. So darf denn die Tanzgruppe ein Bacchanal veranstalten und den armen Samson malträtieren (Pardon, das Double von Samson. Der richtige Samson konnte sich noch rechtzeitig vor den Souffleurkasten retten). Ehe ich es vergesse: einen Stuntman, der für uns Zuschauer den Palast der Feinde des Samson im Feuer untergehen lässt, den gibt es auch. Für Samson ereignet sich diese schöne Zirkuseinlage nur in der Imagination. Die Stärke, die ihm Jahwe – so wollte es der biblische Plot –  noch einmal verleiht, ist der Wunschtraum eines körperlich und seelisch vernichteten Mannes. Eine durchaus schlüssige Variante des Samson-Mythos. Eine Pointe indes, die es nicht mit dem Finale aufnehmen kann, für das sich Damiano Michieletto in  seiner Pariser Inszenierung entschieden hat. In Paris erschlägt Michieletto Saint-Saens mit der Wagner-Keule. Als Brünnhilde der Götterdämmerung zündet Dalila den Palast an und macht Samson glauben, Jahwe habe zu seinen Gunsten interveniert.

Samson et Dalila, wie es in Wien zu hören und zu sehen ist, ist das nun, wie einst Julius Korngold meinte (so zitiert ihn das Programmheft auf Seite 80)  Musik, „die auf der Zunge zergeht – feinste Himbeercreme in Des – und die doch auch die Linie der Empfindung überzeugend nachzeichnet“? Oder ist diese Musik vielleicht doch nur der überaus eingängige Soundtrack zu einer femme fatale Variante, die hier in Wien zur Story von der Badezimmersirene und dem unbedarften Macho reduziert wurde?

Wie dem auch sei. Schön und brillant gesungen wurde alle Male. Die Inszenierung ist nur konventionell. Wer Musiktheater in anspruchsvollen modernen Inszenierungen erleben will, der geht in Wien zum Theater an der Wien und nicht zur Staatsoper.

Wir besuchten Samson et Dalila am 18. Mai 2018, die „3. Aufführung in dieser Inszenierung“.

 

 

 

Händel ist in der Wiener Staatsoper angekommen – zur Hälfte. Eine (musikalisch) brillante Alcina in Wien

Während anderenorts Händel Opern  seit vielen Jahren einen festen Platz im Spielplan haben, hatte das berühmte Haus am Ring bisher  nichts für Händel übrig. Vor fünfzig Jahren – so liest man im Programmheft – wurde zuletzt eine Händel Oper  in der Staatsoper aufgeführt (Giulio Cesare als Julius Caesar in deutscher Sprache). Und jetzt unter der neuen Direktion wagt man sich an die Wiener Erstaufführung der Alcina und holt dazu  Minkowski und seine Musiciens du Louvre an die Staatsoper. Eine Entscheidung, zu der man die Direktion nur beglückwünschen kann. Maestro Minkowski und sein Orchester sind für mich ( und wohl nicht nur für mich als Dilettantin) das Non plus Ultra des Händel Musizierens. Oder einfacher gesagt: besser und schöner und faszinierender geht es nicht. Und wenn dann noch die Harteros und die Kasarova und die Cangemi  – alle drei hatte ich vor ein paar Jahren schon in Loys Münchner Alcina gehört und gesehen  – und wenn dann noch dazu diese drei Damen  für die Hauptrollen engagiert werden, dann kann man auch nur noch sagen: besser, schöner und faszinierender geht es nicht. Ja, und wenn man dann noch Christof Loy oder David Alden  für die Regie gewonnen hätte, dann wären wohl keine Wünsche offen geblieben. Aber in Wien wollte man wohl keine moderne und erst recht keine anspruchsvolle Händel Inszenierung, sondern eine Inszenierung der edlen Einfalt und der schönen Bilder. Regisseur  Adrian Noble verlegt das Geschehen um Glanz und Elend der Zauberin Alcina in den Palast einer Hochadligen des englischen 18. Jahrhunderts, die zusammen mit ihrer Familie und ihren Freunden in ihrem Ballsaal die Oper Alcina aufführt und gleich selber die Hauptrolle übernimmt. Alcina als Theater auf dem Theater in einem noblen  und hoch ästhetischen Ambiente. Kein sonderlich origineller, aber ein schöner Einfall, der überdies dem Produktionsteam viel Arbeit erspart. Da der Fiktion nach Laien Theater spielen, braucht es nicht viel Personenregie. Die Arien lassen sich dann konsequenterweise  von der Rampe singen, und die Sänger können sich mit den konventionellen Operngesten begnügen – eben weil sie der Fiktion nach ja Dilettanten sind. All das hat uns im Publikum nicht weiter gestört. Es war eigentlich alles schön. Kein Trash Theatermacher musste sich gegen die Musik behaupten. Alles war schön – und konventionell. Wir sind halt in Wien. Wir sahen die Vorstellung am 20. November 2010. Es war laut Programmheft die „3. Aufführung in dieser Inszenierung“. Die Premiere war am 14. November 2010.

„Wo weilet ihr so lang?“ bei Dr.Schnitzler und bei Dr. Freud. Claus Guth inszeniert einen faszinierenden Tannhäuser an der Wiener Staatsoper

Wo weilet ihr so lange?“   –  bei Dr. Schnitzler und bei Dr. Freud. Claus Guth inszeniert einen faszinierenden Tannhäuser an der Wiener Staatsoper

Regisseur Guth weiß stets die alten Geschichten neu zu erzählen und neu zu verorten. Nicht immer gelingt ihm dies. Nicht in Salzburg, wo er aus dem  Don Giovanni einen moribunden Waldschrat aus dem Salzkammergut machte – und seine Fans mehr als enttäuschte. Anderenorts gelingen ihm grandiose Neudeutungen wie in Zürich mit der Ariadne und dem  Tristan, die er in die Kronenhalle bzw. in die Villa Wesendonck verlegt. Auch jetzt in Wien gelingt ihm  mit seinem Tannhäuser Großartiges. Wie schon in Zürich so  nutzt  Guth  auch hier den genius loci, wenn er den ersten Akt  vor dem Entree eines Stundenhotels der Luxusklasse, den zweiten im Foyer der Staatsoper und den dritten  in einer psychiatrischen Klinik  spielen lässt. Dass die Klinik das Otto Wagner-Spital, das Etablissement das Hotel Orient nachstellen, in dem „sich Beamte aus den Ministerien mit ihren Sekretärinnen schnell ein Zimmer mieten, bevor sie in die S-Bahn steigen und wieder in ihr bürgerliches Leben eintauchen“, diese Verweise verstehen die Zugereisten allerdings nur über das Programmheft. Doch die Inszenierung ist weit davon entfernt, „die Fortsetzung des Programmhefts mit anderen Mitteln zu sein“ (Stadelmaier). Ihre Bilder und ihre Grundkonzeption  sprechen für sich und lassen sich auch unschwer ohne Sekundärinformationen verstehen. Zeitlicher Rahmen des Wiener Tannhäuser ist ‚die Welt von Gestern’, die späte Habsburgerzeit mit ihren Neurosen, ihrer Verklemmtheit, ihrer Doppelmoral und zugleich ihrer Eleganz und ihrer Kultiviertheit, eben die Welt wie wir sie von Schnitzler und im späten verklärenden Rückblick  von Stefan Zweig her kennen. In dieser Welt gibt es keinen Venusberg. Hier kann es allenfalls einen hinter einem Zwischenvorhang verborgenen Lustort, allenfalls verdrängte Lust geben. So ist es nur konsequent, dass Tannhäuser vor dem Zwischenvorhang steht oder hin und wieder mal unruhig auf und ab geht, dass er wohl niemals am Ort der Lust war und dass die Direktorin des Etablissements (bei Wagner eine gewisse Frau Venus) ihn vergeblich drängt hinein zu kommen. Nicht minder konsequent ist, dass die Wartburgsänger, eine leicht angetrunkene Gesellschaft wohl situierter Bürger, die  bald „der Liebe reinstes Wesen“ preisen werden, allesamt gerade mit ihren Grisetten aus dem Stundenhotel treten, wenn sie im Finale des ersten Akts den Kollegen Tannhäuser treffen. Konsequent im Sinne der Doppelmoral, des Verdrängens und der Verklemmung wird  auch das große Fest im zweiten Akt gestaltet. Die Festgesellschaft hüllt sich in lange schwarze Mäntel und trägt schwarze Masken, so als wolle sie sich wie in Schnitzlers Traumnovelle zu einer geheimen Orgie versammeln. Doch mit den Verweisen auf Freud und Schnitzler, obwohl sie alleine schon eine ganze Inszenierung tragen könnten, lässt Guth es nicht genug sein. Tannhäuser bleibt für ihn trotz der Verlegung in ein Fin de Siècle Ambiente  noch immer eine „große romantische Oper“, und da ergeben sich die Verweise auf die romantische Literatur geradezu von selber. Guths Tannhäuser ist ein psychischer Kranker oder um es besser in der Sprache der Literatur zu sagen: er ist eine E.T.A. Hoffmann Figur, die von einem Wahn geschlagen ist, der ‚Realität’ und Imagination ineinander übergehen, die aus ihren Wahnwelten nicht mehr herausfindet, eine gespaltene Persönlichkeit, der Guth ganz konsequent einen Doppelgänger zur Seite stellt, eine Figur, die  sich mit ihrem eigenen Spiegelbild konfrontiert sieht. Es sind nicht Lust und Leidenschaft, es ist nicht die „Göttin der Liebe“, die Tannhäuser in Bedrängnis bringen. Es ist ein unheilbarer Wahn, der ihn, wird er von der Liebe berührt, überfällt und der ihn schließlich zerstört. Eine Konzeption, die im zweiten Akt im Geschehen  und im Bühnenbild überdeutlich wird. Vor dem Erscheinen der Gäste begegnen sich noch einmal Tannhäuser und Elisabeth: eine pantomimische  Liebesszene, die den Wahn ganz konkret ausbrechen lässt: die Kulissen brechen auseinander und statt der vornehmen Festgesellschaft ziehen dunkle Gestalten ein, für Tannhäuser Lemuren aus der Unterwelt, die ihn bedrohen, und aus Elisabeth wird, wenn er sein Lied auf die „Göttin der Liebe“ singt, eine sich lasziv im Sessel rekelnde Venus. Zwar schickt die scheinbar entsetzte Festgesellschaft den  Tabubrecher zur Buße nach Rom –  ganz wie es  Richard Wagner will. Doch Rom ist die Wiener Irrenanstalt des Dr. Otto Wagner, hinter deren vergitterten Fenstern die Irren beim Hofgang den Gesang der frommen Pilger anstimmen, ein Ort, wo Tannhäuser regungslos im Krankenbett legt, wo Elisabeth zur Krankenschwester geworden ist, eine verzweifelte Elisabeth, die angesichts einer aussichtslosen Situation zur tödlichen Dosis Schlaftabletten  greift und  wo ein heruntergekommener, Selbstmord gefährdeter Wolfram schon mit der Pistole spielt. Und die berühmten Phrasen: „Er kehret nicht zurück“ – „Elisabeth, dürft’ ich Dich nicht geleiten“ – „Wie Todesahnung Dämmrung deckt die Lande“ gewinnen mit einmal eine ganz andere Bedeutung, eine tödliche. Erlösung – mag sie auch das Orchester mit seinem protestantischen Posaunengetöse intonieren, mag sie auch das Choralgeschmetter der „Pilger“ verkünden, gibt es nicht. Sie ist nur ein Wahn. Rettung bietet vielleicht (?)Venus, und auch sie ist nur eine Wahnvorstellung – so zitiert Guth im Finale Konwitschnys Dresdner Tannhäuser.

Eine zu Recht gefeierte Inszenierung, die sicher mit dazu beitragen wird, dass das berühmte Haus am Ring  sich endlich vom  Opernmuseum zum Haus des modernen Musiktheaters wandelt. Das Publikum, so möchte man der neuen Direktion des Hauses zurufen, möchte nicht nur die Stars der internationalen Opernszene auf der Bühne hören und sehen, möchte sich nicht nur von dem angeblich unnachahmlichen Klang der Wiener Philharmoniker bezaubern lassen. Es erwartet auch intelligente, durchdachte, vieldeutige Inszenierungen, Neuerzählungen der alten bekannten Geschichten, eben ‚Varianten des Mythos’ wie sie Claus Guth mit seinem Tannhäuser bietet. Ein großer Opernabend in Wien.  Unnötig zu sagen, dass brillant und auf höchstem Niveau gesungen und musiziert wurde – ganz wie man es von der Wiener Staatsoper erwartet. Wir sahen die Vorstellung am 27. Juni 2010, „die 4. Aufführung in dieser Inszenierung“. Die Premiere war am 16. Juni 2010.

Vollendet das mühvolle Werk – als Fantasy Spektakel und Sängerfest. Der neue Wiener Ring wird zum ersten Mal als Zyklus aufgeführt

5. bis 10. Mai 2009

Gleich nach der Rheingold Premiere vom 2. Mai (in Wien kommt halt das Vorspiel nach dem Nachspiel) präsentiert die Staatsoper den Ring als Zyklus. Die Walküre, den Siegfried und die Götterdämmerung hatte ich nach den jeweiligen Premieren im vergangenen Jahr  schon gesehen. Jetzt beim Gesamtwerk hat sich der erste Eindruck kaum verändert: ein Zögern zwischen Begeisterung  und Skepsis, wobei allerdings jetzt die Begeisterung überwiegt.  Keine Frage: in Wien wird grandios musiziert und in fast allen Rollen brillant gesungen und gespielt. Wenn man  noch dazu das Märchenhafte am Ring liebt, auf das die Regie den Hauptakzent setzt, dann bleiben keine Wünsche offen. Wer sich hingegen von Wagner und seinen Deutern Welterklärungsmodelle erhofft, der kommt in Wien  nicht auf seine Kosten. Mir persönlich ist allemal die „holde Kunst“ ganz ohne ideologische  Verbrämungen am liebsten. Und in diesem Sinne hat mir der Wiener Ring gefallen. Für den, der es etwas genauer wissen möchte, was mir denn an Welser-Mösts und Bechtolfs  Wagner Spektakel gefallen hat (oder auch missfallen hat), für den schreibe ich – mit der einen oder anderen Ergänzung –  noch einmal auf, was ich mir im vergangenen Jahr zu den einzelnen Aufführungen notiert habe (Vgl. Zerlina von Faninal, „Die schöne Musik! […] Da muß ma weinen“. Vom Spektakel der Inszenierungen. Blätter aus Zerlinas Opern-Tagebuch (2005-2008). München – Zürich – Salzburg –Stuttgart –Wien – und die Provinz. München 2008, Martin Meidenbauer-Verlag). 

Die Walküre oder Sieglindes fatale Liebe als Passion: ein Spiel der Leidenschaften und der Sehnsüchte

In Wien ist halt alles anders. Da beginnt man den neuen Ring gleich mit der Walküre und spielt Das Rheingold nach der Götterdämmerung. In Wien ist halt alles anders. Da gibt’s kein Kriegsszenarium und kein Weißes Haus und keine hohen Militärs, da gibt es  keine Umweltkatastrophe und keinen Kampf zwischen Matriarchat und Patriarchat, da gibt es kein romantisches Schicksalsdrama und keinen Traumdiskurs, keine Popkultur und keine amerikanischen Filmsequenzen, kein Bayreuther Festspielhaus als Szenarium und kein Metatheater und schon gar nicht Parodie und  Ironie. Hier erzählt man, ganz wie es im Libretto steht und wie es die „sehn-süchtige“ Musik suggeriert, zwei tragisch (oder vielleicht auch nur traurig) ausgehende wilde Liebesgeschichten, zwei inzestuöse Passionen, die nicht ausgelebt werden können. Dass Regisseur Bechtolf sich auf die erotischen Diskurse und deren Symbole versteht und diese in ganz der Musik entsprechende  Bilder umzusetzen weiß, dies ist dem Zuschauer, der Bechtolfs Zürcher Mozart-Inszenierungen kennt (und bewundert), nicht neu. Wenn man auf Erotik, Passion und Sinnlichkeit als Grundkonzeption der Inszenierung setzt, dann ist es nur konsequent, dass  Sieglinde nicht das verhärmte Frauchen an Macho Hundigs Herd ist, sondern zur passionierten Verführerin wird, die den etwas unbedarften Siegmund schon gleich in den ersten Szenen für sich gewinnt. Und dann versteht sich auch, warum diese Sieglinde zur Ouvertüre den Stamm, in den Wotan das Schwert gestoßen hatte, wie einen Phallus umklammert. In diesem – ganz wie es die Musik verlangt – erotisch aufgeladenem Szenarium muss das Schwertmotiv geradezu eindeutige sexuelle Konnotationen gewinnen, das Schwert, das der brave Siegmund so ohne Mühe herauszieht und im Finale des ersten Akts so jubilierend präsentiert. Selbst die Gestalt der Fricka, die konventionell so gern als frustrierte ältliche Ehefrau gegeben wird, wird bei Bechtolf in Kostüm und Habitus zur Fruchtbarkeitsgöttin und Verführerin. Nur der Figur der Walküre wird erotische Ausstrahlung versagt. Keusche Umarmungen deuten die mögliche inzestuöse Beziehung zu Vater Wotan gerade mal nur an. Alle mit der Walküre assoziierte Erotik wird in ein Nebenmotiv verlagert, in das Pferdemotiv. Im dritten Akt platziert die Regie gleich ein ganzes Rudel (Plastik)Pferde in den Bühnenhintergrund. Natürlich sind die Pferdefiguren im platten Realsinn die Pferde der von Wotan fort gescheuchten Walküren. Die symbolischen Konnotationen des Motivs sind indes überdeutlich: das Pferd ist  von alters her das Symbol der Wollust, das Sinnbild der Luxuria. Latente Wollust ist (oder wird) das Attribut der Walküre. Und wenn dann zum „Feuerzauber“ im Finale nicht ein Flämmchen glüht, sondern die Pferdefiguren gleichsam von innen heraus im Feuer aufglühen und die Flammen an allen Begrenzungsmauern emporzüngeln, dann schließt die Walküre nicht nur mit einem großen Spektakel und einem grandiosen technischen Gag, sondern ganz im Sinne der Grundkonzeption der Inszenierung mit einem erotisch aufgeladenem Signal. Das Feuer ist im symbolischen Sinne ähnlich wie das Pferd eines der ältesten (und natürlich auch konventionellsten) Bildsymbole für Leidenschaft und Sinnlichkeit. Und um diese geht es primär in der  Wiener Walküre. Ob das angeblich so aufgeschlossene und angeblich so kritische Staatsopernpublikum, das an diesem Abend (wir sahen die dritte Aufführung – in der Premierenbesetzung) nicht zu einem geringen Teil aus japanischen und amerikanischen Touristen bestand, das auch so gesehen hat? Rechts von mir saß ein französisch sprechendes Paar, das sich langweilte. Links von mir eine Dame mittleren Alters, der, so verkündete sie lauthals, schon auf der Schule die Nibelungen so gut gefallen hatten und die jetzt mal sehen wollte, wie „das der Wagner so macht“. Und der junge Mann aus dem Wiener Männerwohnheim, der einstens auf der Galerie sich von Wagner berauschen ließ? Besser nicht daran denken. Sprechen wir lieber von der Inszenierung, der Musik und den Sängern. Natürlich gelingen der Regie auch außerhalb des Erotik-Themas grandiose Szenen. So visualisiert sie z. B. das sonst so gern vernachlässigte Wolfsmotiv. Wölfe (virtuelle Wölfe) verfolgen Siegmund. Oder führen sie ihn auf die Spur Wotans? Wenn Wotan seinen Sohn Siegmund praktisch zum Tode verurteilt, dann trägt eine weiß gekleidete Frau  (Erda?) ein Wolfsfell herein und wenn Wotan dieses Fell mit einem Tuch bedeckt, dann breitet er noch vor dessen faktischem Tod über  seinen Wölfing das Leichentuch aus. Eigentlich unnötig zu sagen, dass grandios gesungen und musiziert wurde. Einen so jugendlichen und so lyrischen Wotan wie ihn Juha Uusitalo, den man von München her in Wagner Rollen kennt, in Wien verkörpert, dürfte man nicht so leicht wieder finden, einen Wotan, der seinen großen Monolog im zweiten Akt geradezu haucht und der doch bis in jede Silbe hinein verständlich bleibt. Und wie Nina Stemme als Sieglinde in Gesang und Spiel das Sinnlichkeitskonzept der Regie umsetzt, das ist einfach bewundernswert. Schade, dass in der Aufführung innerhalb des Zyklus (am 6. Mai) Nina Stemme kurzfristig absagen musste. Natürlich hatte man in Wien eine bekannte Wagner Sängerin als ‚Ersatz’ bereit. Doch ‚Sinnlichkeit’ war nicht so ganz deren Sache.

 

„Leuchtende Liebe, lachender Tod!“

Während die Walküre in der zyklischen Aufführung etwas von ihrem Glanz und ihrer Faszination verloren hat, wird der Siegfried, der mir vor einem Jahr (wir sahen damals, Anfang Mai, die  zweite Aufführung) noch etwas matt vorkam und der erst im Finale des dritten Aufzugs grandios war, jetzt zum zu Recht umjubelten Höhepunkt des Wiener Rings, wenngleich die beiden ersten Akte sich noch immer  recht betulich dahin ziehen. Gleichsam zur Entschädigung wird dann allerdings im dritten Aufzug so brillant gesungen, musiziert und gespielt, ja, dass man im Publikum einfach hingerissen ist.

Wieder stehen Sänger der ersten Kategorie auf der Bühne – ganz wie man es von der Staatsoper in Wien erwarten kann: Stephen Gould als Siegfried, Juha Uusitalo als Wanderer, Nina Stemme in der für sie wohl noch ungewohnten Rolle der Brünnhilde. Beeindruckende, überragende Sängerschauspieler, wie man sie sich nicht besser wünschen kann. Und die Musik? Ein rauschhafter, ein erotisierender Wagner ist das nicht, was da aus dem Orchestergraben klingt. Eher ein zurückhaltender, ein fast sanfter, ein fast leidenschaftsloser Wagner wird  von Maestro Welser-Möst präsentiert, eine Interpretation, die vielleicht manche Erwartungen enttäuscht und die doch – im zweiten Teil des dritten Aufzugs in perfekter Harmonie mit der Inszenierung steht. Gemeinsam drängen musikalische und szenische Interpretation alles platt Erotisierende  zurück  und  deuten  alle Passion geradezu verschüchtert nur an. Brünnhilde ist kein „wild wogendes Weib“, das mit ihrer mächtigen Leibesfülle und mit ihren schreienden Tönen  den armen Siegfried erschreckt, sondern eine ängstlich-schüchterne mädchenhafte Frau, die sich nicht gerade danach sehnt, die Mätresse des jungen Herrn aus bestem Hause zu werden, zu dem die Figur des Siegfried im Finale stilisiert wird. Vielleicht ist die Siegfried – Brünnhilde Szene überhaupt das Glanzstück der Inszenierung. Regisseur Bechtolf versteht sich eben, wie man weiß, auf die erotischen Diskurse und deren szenische Umsetzung. Seine Walküre liegt nicht platt realistisch im „Waffenschmuck“ im Schlaf, sondern sie verbirgt sich – in großer Abendrobe – unter einer Vielzahl von Schleiern. So wird ganz konkret das Erwecken und Erwachen der Schlafenden zu einer Art Entschleierung, zum Symbol der  Verwandlung der mitleidsvollen Walküre in die liebende Frau.  Und die allmähliche Annäherung des Paares  gerät zum vorsichtigen Flirten, zu einem zurückhaltenden Einsetzen der gestischen Signale, eine Reserviertheit, die sich erst in der obligatorischen Umarmung zum Fallen des Vorhangs löst. So brillant und so überzeugend  – so ganz anders als man sie von den konventionellen Inszenierungen  her kennt –  die Brünnhilde Siegfried Szene  gestaltet wurde, so betulich wirken dagegen die ersten beiden Aufzüge. Siegfried und Mime hausen endlich nicht mehr, wie das inzwischen bei manchen Theatermachern Brauch  geworden ist, als Proleten auf der Müllhalde. Ganz im Gegenteil. In Wien leben und arbeiten sie in einem eleganten Labor, in einer Art Designer-Schmiede und während Siegfried an seinem Schwert hämmert, ohne sich wohl die Hände schmutzig zu machen, kocht ihm Mime ganz realistisch einen Schlangenbrei. Im zweiten Akt gibt es einen richtigen Riesen zu bestaunen und dazu ein Ungeheuer, das Feuer speit, und Alberich und Wotan hocken um ein richtiges Lagerfeuer – wie zwei alte miteinander stets konkurrierende Pfadfinderführer, die sich im finsteren Wald getroffen haben und nochmals über ihre alten Zwistigkeiten schwatzen. Ob hinter dem Wiener Siegfried eine einheitliche Konzeption, eine tragende Idee steht, ich weiß es nicht. Der erste Akt ‚realistisch’, der zweite ein Märchenspiel für Kinder, der dritte Akt Thanatos (Wotan schaufelt Erda aus einem Grab heraus und versinkt  darin – nach der für ihn so fatalen Begegnung mit Siegfried) und das Finale Eros? War es vielleicht das? Wie dem auch sei. Herausragend gesungen wird allemal.

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 Götterdämmerung als  Fantasy Spektakel und Zitatenkonglomerat

Die Wiener Götterdämmerung lässt den Zuschauer zunächst ratlos. Sind die Nornen, die da im düstern Nebel inmitten von verkrüppelten Tännchen herumirren, die Hexen aus dem Macbeth, die anders als bei Shakespeare nicht mehr die Zukunft verkünden, sondern nur noch vom Vergangenen erzählen? Ist die Brünnhilde der ersten Szene eine heidnische Priesterin, die einen toten Siegfried (er liegt  – ganz eingehüllt in eine Art Kokon –  auf einer Grabplatte) noch einmal ins Leben zaubert, auf dass er ihr seine und ihre Geschichte noch einmal vorspiele? Ein versteckter Hinweis auf die Priesterin Morgaine und Die Nebel von Avalon? Ist Brünnhildes unzugänglicher Felsen vielleicht die Insel Avalon? Ruht im Finale der tote Siegfried auf einem Schiff, weil Brünnhild e/ Morgaine mit ihrem Siegfried/Artus in die Nebel von Avalon entschwinden wird? Oder sind wir vielleicht bei Böcklin und seiner Fahrt zur Toteninsel? Ist der kahlköpfige bleiche Hagen in seiner schwarzen Gewandung ein Mephisto/Gründgens Verschnitt? Oder ist er vielleicht ein Untoter, vielleicht ein Golem, den Alberich sich zur Rache geformt hat? Ein Untoter, dazu verdammt, ewig das gleiche Spiel von Machtgier und Trug, von Mord  und Untergang zu spielen? Verweisen die schwarz gekleideten „Mannen“ mit ihren flachen Helmen und den hoch gereckten Lanzen auf einen Mittelalter Kostümfilm, vielleicht auf Szenen aus einer Verfilmung der Nebel von Avalon? Zitiert die Szene Hagen und die „Mannen“ vielleicht einen Bildausschnitt aus Breughels Bethlehemschem Kindermord (der Offizier, der inmitten seiner Leute das mörderische Treiben beobachtet). Versinken Gunter und seine Leute nach dem Mord an Siegfried zusammen mit diesem in der Unterwelt, in Dantes Inferno? Und wird dabei der Trauermarsch zum Einzugmarsch in die Hölle? Bilder über Bilder, die auf Literatur, Film und Malerei verweisen und die doch in all ihrer Zeichenhaftigkeit nie aufdringlich wirken, nur Assoziation evozieren, die nie von der Musik ablenken, einem kaum rauschhaften, eher einem, wenn man das so sagen darf, ‚intellektuellen’ Wagner. In Wien präsentiert man keinen Wagner, der mit seiner „Sinnlichkeit“ „den Geist mürbe und müde macht“. Hier hat Nietzsches böses Diktum: „Wagner wirkt wie ein fortgesetzter Gebrauch von Alkohol“ keine Gültigkeit. In Wien wird  unter der Leitung von Maestro Welser-Möst einfach nur schön musiziert und (in fast allen Rollen) schön gesungen. Hier ist Wagner im positiven Sinne „ dieser alte Zauberer“ als den ihn Nietzsche einst abwerten wollte. In Wien wird  kaum in der Musik, hier wird in Bildern geschwelgt, auf jeglichen Metatheaterehrgeiz verzichtet und aufgesetzter politischer oder gesellschaftlicher Impetus verschmäht. In Wien erzählen Welser-Möst und Bechtolf den Mythos von Göttern, Heroen und Menschen, von deren Konflikten, deren Untergang und möglicher Wiederkehr als ein Märchen für Erwachsene, die im Märchen  die Antimärchenzüge  und die intermedialen Verweise erkennen mögen. Ein konventioneller Wagnerabend oder wenn man es ein wenig böswillig sagen will: ein bedächtiger, ein betulicher Wagnerabend, der kein Risiko eingeht, der das Publikum nicht emotional oder gar intellektuell überfordert und der so richtig zur  k. und k. Behäbigkeit der Wiener Staatsoper passt.

 Und Das Rheingold? Nach all dem Märchen- und Fantasy-Zauber, der am ersten, dem zweiten und dem dritten Tag des „Bühnenfestspiels“ geboten wurde, war zu erwarten, dass der Zauber auch im Rheingold weitergeht. Und so war es  auch. Natürlich gibt es – ganz wie im Märchen – richtige Riesen zu bestaunen, die in ihren Gummianzügen wie zu groß gewachsene Michelin-Männchen wirken. Feuergott Loge – in Kostüm und Maske ein  reinkarnierter „Highländer“ –  ist wohl gerade aus dem gleichnamigen Kultfilm entlaufen. Die beiden kleinen Götter mimen reiche russische ‚Sommergäste’ in Baden Baden,  und Wotan mit seiner mächtigen Gestalt, seinem Glatzkopf, seinem weiten schwarzen Mantel könnte leicht den Türsteher einer Nobelbar geben. Göttin Fricka macht auf große Dame, und Freia, “die Gute“, hat wohl schon lange nicht mehr von ihren Jungmacher Wunderäpfeln genascht. Doch seien wir nicht böse oder gar zynisch. Das Rheingold ist halt das Satyrspiel nach der Tragödie und bleibt doch ein Kindermärchen für Erwachsene, so suggeriert es mit ironischem Blinzeln hin zum Publikum die Regie: alles ist doch nur Theater, alles nur ein Spiel. Lassen wir doch den ganzen ideologischen Überbau vom Weltverneiner Schopenhauer bis hin zum Langweiler Brecht und deren Adepten auf dem Müll der Geschichte faulen. Spielen und singen und musizieren wir auf hohem Niveau und appellieren wir mit unserer Inszenierung an das Populärkultur- Gedächtnis der Zuschauer! Und reichen wir dazu gelegentlich ein bildungsbürgerliches Zückerli! Dann sind alle zufrieden und begeistert und werden es auch in den nächsten Dekaden sein.  In Wien erfreuen sich die Inszenierungen bekanntlich eines langen Lebens.