Wenn der Postmann zweimal klingelt…

Leipzig, dritte Aufführung von Strawinskys The Rake’s Progress am 24. April 2014. Zerlina ist verhindert und vermacht einem kleinen Mann vom Lande – nennen wir ihn Pécuchet – ihre Opernkarte. Als der silbrig glitzernde Lamettavorhang sich nach einem scheinbar harmlosen Auftakt in Schwiegervaters Garten zum zweiten Mal über dem Biedermann mit dem Allerweltsnamen Tom Rakewell (Norman Reinhardt) hebt, staunt der brave Provinzler Pécuchet nicht schlecht angesichts des Aufgebots an Verführungen, mit dem der Sündenpfuhl London seinem Bruder im Geiste bei dessen Ankunft in der Hauptstadt aufwartet. Bald an der einen, bald an der anderen Stelle, bald alle gleichzeitig aufblinkend, schweben in neonfarbenen lateinischen Lettern die sieben Todsünden wie Leuchtreklamen für einschlägige Etablissements von der Decke – Zerlina, da ist Pécuchet sich sicher, wär’s eine helle Freude gewesen! In einem als Planschpool ausstaffierten Puff zu Füßen der knallbunten Buchstaben üben sich die so spärlich wie schrill kostümierten „kopulierenden Körper“ der Chormitglieder im „Poppen zur poppigen Todsündenbeleuchtung“, schreibt Tobias Prüwer im aktuellen Stadtmagazin Kreuzer, während BILD Leipzig den Premierenabend „trotz Sex“ leider nicht „OPERGEIL“ fand und das bigotte Organ der Sittenwächter mit Damiano Michielettos Deutschlanddebüt eine neue „Schmuddel“-Ära heraufziehen sah: „Seit Konwitschnys Abgang haben wir derlei nicht mehr ertragen müssen. Mit Schirmer war wieder Pracht und Verzauberung ins Haus eingezogen. War’s das jetzt?“… → weiterlesen

Ein Sängerfest in Langeweile erstorben. The Rake’s Progress. Eine „Neueinstudierung“ am Theater an der Wien

Gleich mit zwei Stücken nach Bildern von William Hogarth beginnt in Wien die neue Spielzeit:  mit Strawinskis modernem Klassiker und  der Uraufführung von A Harlot’s Progress von Iain Bell. Ob das eine sehr weise oder zumindest kluge Entscheidung war? Ich habe da meine Zweifel. Wir haben gerade in einer sogenannten Neueinstudierung einer Inszenierung vom Jahre 2008 die Mär von Aufstieg und Fall des ‚Wüstlings‘ Tom gesehen (Die Uraufführung vom Leben und Sterben „einer syphilitischen Hure“ kommt im Oktober heraus), und ich muss gestehen, dass ich The Rake’s Progress, obwohl von einem renommierten Theatermacher in Szene gesetzt, sterbenslangweilig fand. Die Aktualisierung des Geschehens, die Transponierung der Handlung  in ein Big Brother Ambiente mit No future kids, die in ihrem Tun und Lassen von der Welt des Unterschichten TV determiniert sind, das mag ja seinen Reiz haben. Aber nicht drei Stunden lang. So sehen wir geduldigen Zuschauer also, wie es Ann, die scheinbare Unschuld vom Lande, zum Schlagersternchen  bringt und der Einfallspinsel Tom Lottomillionär wird, der, als er sein Vermögen in Orgien und Shows und scheinbarer Wohltätigkeit verpulvert hat, dem Wahnsinn verfällt. All das  ist  nicht ohne Witz gemacht,  und an den grotesken Szenen kann man auch seinen Spaß haben. Aber, wie schon gesagt, nicht drei Stunden lang. Einziger Trost: ein hochkarätiges Ensemble, allen voran Anna Prohaska als Anne Truelove, singt und spielt brillant.  Daher mein Vorschlag an die Intendanz: Bringt das nächste Mal The Rake’s Progress als „Oper konzertant“ und verschont uns mit abgespielten Inszenierungen.

Wir sahen die Aufführung am 19. September 2013. Die Premiere der Wiederaufnahme war  am 16. September 2013.

 

Intermedialitätsrevue unter Schwulen. The Rake’s Progress in der Staatsoper im Schillertheater

Intermedialitätsrevue unter Schwulen. The Rake’s Progress in der Staatsoper im Schillertheater

Strawinsky mag ich eigentlich nicht sonderlich. Und ganz unerträglich erscheint mir das Libretto: dieser Mischmasch aus armseligem Faustjüngelchen, impotentem Don Giovanni, ewig-weiblichem Erlösungsdrang, sozialkritischem  Quark und Brecht ‚Verfremdung“. Doch wenn Metzmacher dirigiert, Warlinowski, der in München vor ein paar Jahren Eugen Onegin als grandios-effektvolle Schwulenoper in Szene gesetzt hatte, inszeniert und wenn noch dazu die Besetzung viel versprechend ist (und man überdies sowieso gerade in Berlin ist), ja dann meint man etwas zu versäumen, wenn man nicht zur Neuproduktion von The Rake’s Progress geht (Die Premiere war am 10.Dezember. Wir sahen die Aufführung am 12. Dezember). Ich hätte nicht viel versäumt, wenn ich zu Hause geblieben wäre. Kein Zweifel, dass brillant gesungen und gespielt wurde und sicherlich wurde auch dem entsprechend musiziert. Mir allerdings kam alles ein bisschen langweilig vor – der unmaßgebliche Eindruck einer Dilettantin.  Langweilig ging es auch auf der Bühne zu. Ja, warum soll man nicht eine Strawinsky Oper  als Revue Theater, als Theater auf dem Theater, als Video Show, als Studioaufnahme für einen Fernsehfilm, bei dem die Studiogäste auf der Bühne gleich mitspielen dürfen, als trianguläre Beziehungskiste unter Schwulen (der Jüngling, der Verführer, der Transvestit) in Szene setzen. Warum soll man nicht die Andy Warhol Kiste aufmachen und dessen Popfiguren sich auf der Bühne tummeln lassen. Warum soll man nicht Film- und Theaterfiguren wiederauferstehen lassen und diese parodieren: so wird aus dem Idol James Dean ein kümmerlicher Schwächling (der Protagonist Tom Rakewell), da erinnert in der Friedhofsszene der Verführer Nick Shadow von ferne an den Gründgens Mephisto (es fehlt nur die weiße Schminke im Gesicht), da scheint die erlösungssüchtige  Anne gerade aus einer Probe  zu Brecht/Weill Die Sieben Todsünden der Kleinbürger herüber gelaufen zu sein.  All das ist hübsch anzusehen und anfangs auch recht unterhaltsam. Der technische Aufwand, der betrieben wird, ist bewundernswert. Lichtregie und Statisterie kommen kaum zur Ruhe.  Und trotzdem: auf die Dauer wirkt das alles ein bisschen öd und fad. Aber wie gesagt: ich bin eben kein Strawinsky Fan. Vielleicht ist dies auch der Grund, warum es mir nicht sonderlich gefallen hat. Ein Renner für die Berliner Staatsoper wird The Rake’s Progress wohl ohnehin nicht. Schon die zweite Vorstellung war nur mäßig besucht.