Lohengrin als schwerreicher Investmentbanker, Lohengrin unter Faschisten, Lohengrin als Zimmermann, der das Häusle für die schwäbische Maid baut, Lohengrin als Schwächling und Störenfried, den die preußischen Militärs im Finale erschlagen, Lohengrin als Friedensengel und Demagoge, Elsa und Lohengrin auf dem Dorfe in Trachtenkostümen. All diese Varianten des Mythos und noch so manche andere haben kundige Theatermacher im letzten Jahrzehnt einem geduldigen Publikum vorgesetzt.
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Vanitas, Gehirnwäsche und Gelächter auf dem Rummelplatz oder wie aus einem Oratorium eine Beziehungskiste wird. Calixto Bieito inszeniert Il Trionfo del Tempo e del Disinganno an der Staatsoper Stuttgart
Vanitas, Gehirnwäsche und Gelächter auf dem Rummelplatz oder wie aus einem Oratorium eine Beziehungskiste wird. Calixto Bieito inszeniert Il Trionfo del Tempo e del Disinganno an der Staatsoper Stuttgart
Sagen wir es gleich und ohne alle Umschweife: in diesem frühen Oratorium (Händel komponierte es im Jahre 1707 in Rom auf einen Text des Kardinals Benedetto Pamphilj) wird in seiner Stuttgarter Version brillant und hinreißend musiziert und gesungen. Hier stehen mit Camilla de Falleiro, Ezgi Kutlu, Marina Prudenskaja und Charles Workman Sängerschauspieler auf der Bühne, wie man sie sich nicht besser wünschen kann. Hier spielt das Staatsorchester Stuttgart unter der Leitung von Sébastien Rouland einen faszinierenden Händel. Und jetzt muss man sich entschließen, alles zu vergessen, was man über Oratorien, Allegorisierung, barocke Vanitas Ideologie, barocke Grundthemen wie Trug und Desillusionierung („inganno“ und „disinganno“), barocke Standardmotive wie Spiegel, Urne, Asche usw. gelesen hat. Ja, wenn die Bildungsbürgerin und Literaturwissenschaftlerin, alles dies vergießt, dann erlebt sie einen grandiosen Opernabend: die Transponierung einer scheinbar luftleeren Allegorie in lebendiges, packendes Theater, in action und suspense. Theatermann Bieito macht aus der so konventionellen Disputation zwischen den vier Allegorien Bellezza, Piacere, Tempo und Disinganno (Schönheit, Vergnügungssucht, Zeit und Desillusionierung) über die Vergänglichkeit alles Irdischen und die Hinwendung zum Göttlichen als Ort der Erlösung eine wilde Love Story zwischen einer vergnügungssüchtigen jungen Schönheit namens Bellezza und einem nachdenklichen jungen Mann namens Il Tempo. Dieser Vanitas Philosoph zielt darauf, die angebetete Schönheit mit Worten und Taten gleichsam zu domestizieren und zu intellektualisieren, und er wird nicht müde, die Vergänglichkeit und Nichtigkeit alles Irdischen zu betonen und führt als warnendes Beispiel eine abgewrackte Rockerin und Drogenabhängige (bei Händel die Allegorie des disinganno, der Desillusionierung) vor. Nicht genug damit. Als Schocktherapie präsentiert er der Bellezza im Finale die von Krankheit und Verfall gezeichneten stummen Insassen eines Altenheims. Vor der Macht der Worte und der Exempla kapituliert die Bellezza. Da hat auch die Freundin, die Vertreterin der Vergnügungssucht (bei Händel Il Piacere), keine Chance, mag sie auch im Finale zum Gaudi des Publikums als Koloraturen zwitscherndes Follies Bergères Girl auftreten. So werden denn der so altkluge späte Jüngling und das so systematisch einer Gehirnwäsche unterzogene Mägdelein ein Paar, das ihn und sich gleich mit der Asche des Todes bestreut. Also doch barocke Vanitas? Nicht doch. Wer Bieito Inszenierungen kennt wie zum Beispiel seinen Stuttgarter Parsifal oder seine dortige Jenufa, der weiß, dass seine Inszenierungen nicht im Pathos enden und dass spätestens im Finale alles Pathos bei ihm aufgebrochen wird. Und so geschieht es auch in seiner Händel Version. Während die Bellezza so ‚überirdisch schön‘ von der „ewigen Sonne“: „Tu del ciel ministro eletto“ singt, mutiert sie eben nicht, wie das in gängigen Inszenierungen üblich ist, zur Nonne, sondern macht als eine neue Maria Magdalena einen halben Striptease. Und kaum ist ihr Adagio verklungen („pianissimo verlöschend“ – laut Programmheft), da springen die Altenheiminsassen lachend und vor Freude quiekend auf das Rummelplatz Karussell – das Karussell dominiert das Einheitsbühnenbild. Mit einer Groteske, mit unbändigem Lachen nimmt Regisseur Bieito all die großen Worte und letztlich auch all die sublime Musik wieder zurück. Alles ist doch nur Theater, alles ist nur ein Spiel, alles ist nur Trug und Schein. Und das gilt auch für das so asketische Christentum, das der Kardinal Pamphilj in seinem Textbuch verkündet und das der Musiker Händel in eine ‚Oper‘ auf die Schönheit der Musik verwandelt. Allgemeine Begeisterung im Publikum. Der einst so erschreckende Bieito schreckt nicht mehr. Er zeigt verborgene Sinnschichten der von ihm in Szene gesetzten Werke auf – und er amüsiert. Wir sahen die Aufführung am 24. Juli 2011, die elfte Vorstellung. Die Premiere war Am 28. Mai 2011.
Erlösung nicht erwünscht oder vom ewigen Kreislauf von Schuld, Erlösung und neuer Schuld. Calixto Bieito inszeniert Parsifal als postapokalyptisches Anti-Erlösungsspektakel an der Staatsoper Stuttgart
Beim späten Wagner harren die Gralshüter (oder mit ihnen gar die gesamte Menschheit?) der Erlösung, warten die Gralsritter auf den Retter, wartet vielleicht die Menschheit vielleicht auf die Wiederkehr Christi, erwartet ein religionsfernes Publikum vielleicht österliche Erbauung oder vielleicht auch nur einen Hauch von Erlösung durch die ‚Kunstreligion’. In Stuttgart werden all diese Erwartungen enttäuscht. Hier gibt es keine Erbauung. Hier gibt es ein Kontrastprogramm zwischen einer meist zurückhaltenden Musik und einem szenisch auftrumpfenden Bühnenspektakel. In Stuttgart präsentiert Calixto Bieito einen faszinierenden und zugleich einen manchen Altwagnerianer wohl schockierenden Parsifal, einen Parsifal wider den Strich. In Stuttgart gibt es keine Erlösung. Welcher Art sie auch sei. Hier erscheint zum Finale der angebliche Erlöser in der Maske einer verkitschten Jesusfigur aus dem Poesiealbum der Heiligen, und sein Triumphwagen ist ein Einkaufsmarkt aus dem Supermarkt. Die Umstehenden reißen ihm die Tunica vom Leibe, stürzen den Nackten in die Badewanne, in der sie zuvor den Begründer ihrer Sekte (bei Wagner ein gewisser Titurel) erschlagen hatten und führen ihn im Triumphzug davon. Und Gurnemanz verteilt mit irrem Blick kleine Dornenkronen, und die stumme Kundry schlingt Hostien in sich hinein. Eine Parodie auf alles Erlösungsgeschwafel? Ein parodistisches Endzeitspiel mit zum Plunder verkommenen christlichen Zeichen und Symbolen? Oder vielleicht doch eine ernsthafte Variante der Christusmythe? Parsifal als Postfiguration Christi, der als neuer Christus ein weiteres Mal alle Leiden auf sich nimmt und von Menschen getötet wird, die in ihrem Zustand verharren wollen, die gar nicht erlöst werden wollen und die dem neuen Erlöser ein zweites Golgatha bereiten? Ein intermediale Referenz, die zugleich auf den Tod des Revolutionärs Marat in der Badewanne und auf die stumme Christusfigur in Dostojewskis Großinquisitor verweist. Erlösung nicht erwünscht. Tod dem Erlöser. Vielleicht ist dies die Grundkonzeption, in der die Inszenierung gipfelt und auf die sie von Anfang an angelegt ist. In Stuttgart hausen heruntergekommene, halb irre, gewalttätige Sektierer unter einer zerstörten Brücke oder vielleicht auch in einem gesprengten Atlantikwall Bunker und in einem von einer Brandkatastrophe zerstörten Wald. Gralserzähler Gurnemanz verbirgt unter der Maske des Pfarrers und Gutmenschen pädophile Gewalttätigkeit. Während er getragen und inbrünstig die Mär von der verlorenen heiligen Lanze vorträgt, entkleidet und erschlägt er mit der Geiselrute einen Chorknaben und schiebt dem Parsifal die Schuld am Tod des Knaben zu. Wagners getöteter Schwan ist ein erschlagener Knabe. Parsifal ist ein ausgeflippter gewalttätiger Jüngling im Nazarener Look, der zur Gralsshow im ersten Akt von Gurnemanz unter Drogen gesetzt wird und der im zweiten Akt in dem Augenblick, als er sich zum Heilsbringer stilisiert, noch schnell eines der Blumenmädchen absticht. Der angeblich so „Reine“ ist ein Vergewaltiger. Kundry ist im ersten Akt eine von den Sektierern malträtierte Außenseiterin, im zweiten Akt mutiert sie als „Höllenrose“ zur Mutterfigur und zur Maria lactans, die dem mutterlosen Parsifal die Brust reicht – und noch einiges mehr: im dritten Akt erscheint Kundry als Hochschwangere. Bei der Gralsshow im Finale des ersten Akts greifen sich die die „Ritter“ allerlei liturgischen Krempel aus einem großem Sack, steigern sich in eine Art Hysterie und formieren sich mit den entsprechenden Pappschildern als Gott Suchende Demonstranten im Pennerlook. Nicht nur die Mär vom Gral liest Bieito gegen den Strich. Auch alle Figuren, alle Handelnden stellt er sozusagen auf den Kopf und zieht deren verdrängte Traumata oder wenn man es nicht so freudianisch will, zieht deren latente Ängste und Sehnsüchte hervor und schlägt damit eine neue und ungewöhnliche Deutung des Parsifal vor, die manch lieb gewordene Interpretation des angeblichen „Bühnenweihefests“ obsolet erscheinen lässt. In Stuttgart ist ein grandioser Parsifal zu sehen – und auch zu hören. Wir sahen die Vorstellung am 5. April. Es war die dritte Aufführung nach der Premiere am 28. März 2010.
Die Ballade von den erlösungssüchtigen Börsenspekulanten oder des Börsianers Fluch und Ende. Calixto Bieito inszeniert den Fliegenden Holländer an der Staatsoper Stuttgart
Bieitos Holländer hatte ich vor zwei Jahren schon einmal gesehen. Auch jetzt bei der Wiederaufnahme hat die Inszenierung nichts von ihrer Brillanz verloren. Noch immer fasziniert sie. Und so kann ich nur zitieren, was ich mir vor zwei Jahren notierte und publizierte (vgl. Zerlina von Faninal, „Die schöne Musik! […]. Da muß ma weinen“. Vom Spektakel der Inszenierungen. Blätter aus Zelinas Operntagebuch (2005-2008). München Martin Meidenbauer Verlag 2008 ).
Auch unsere sonst so hart gesottenen, von wilden Geldgeschäften gestressten, von den Steuerfahndern gehetzten Banker brauchen hin und wieder mal eine Auszeit. So machen sie denn allesamt einen Betriebsausflug und landen mit ihrem großen Schlauchboot in einer – laut Programmheft – „stählernen Bucht“, die, so heißt es mit einem Verweis auf Max Weber weiter im Programmheft, für das „stahlharte Gehäuse des Kapitalismus“ stehen soll. Dafür dass sie „Gestrandete unserer modernen Arbeitswelt“ sein sollen, geht es den Herren in ihren Business-Anzügen, mit ihren Aktenköfferchen, ihren Bilanzen, Börsennachrichten, Wertpapieren, Kontoauszügen, mit denen sie nur so um sich werfen, allerdings recht gut. Der Vize-Direktor des Unternehmens (bei Wagner der Steuermann) schafft zur Unterhaltung gleich eine Variétébühne en miniature herbei, aus der drei Playboyhäschen und ein Zirkusgnom im Brautlook kriechen und gibt dazu noch selber eine Gesangseinlage. Nur einer der Börsianer (bei Wagner der Holländer) will ernsthaft aussteigen, wirft seine Geschäftspapiere davon, träumt davon, dass endlich eine Frau sich seiner annimmt, auf dass er sich vom ewigen Stress an den diversen Finanzplätzen der Welt erholen kann. Aber skeptisch wie er ist, probt er schon mal mit Feuer und Benzin den Selbstmord. Da bietet ihm der Kollege Donald ein neues Geschäft an: ein Domizil nebst Hausfrau, und unser gestresster Aussteiger greift zu. Um endlich seine Ruhe zu haben, um endlich ein trautes, treues Weibchen zu bekommen, scheut er auch nicht davor zurück, seine Banksafes zu plündern und sie dem Kollegen Donald, der zu Hause noch eine unverheiratete Tochter sitzen hat, im Austausch gegen diese anzubieten. Eine auch unter Bankern etwas ungewöhnliche Transaktion. Aber der gute Donald (so heißt er in der in Stuttgart gespielten Urfassung) muss schließlich an seine Altersversorgung denken, und der Handel, den der Kollege Holländer anbietet, ist in der Tat mehr als vorteilhaft.
Calixto Bieito präsentiert in Stuttgart, obwohl nicht wenige Szenen eine parodistische Rezeption recht nahe legen, eine ernsthafte Variante des Holländer-Mythos, wenn er seinen Protagonisten zum Banker oder Businessman, zu einem „Kapitalisten“ macht, der inmitten einer vom „Kapital“ und von „Spekulanten“ bestimmten Welt der Geschäftemacherei überdrüssig ist und nur noch eines will: das Ende. Und für das Ende sorgt dieses Mal nicht Alberich, also nicht die Macht und das Kapital, sondern das „Weib“. Angesichts dieses vom Libretto her vorgegebenen Ausgangs, angesichts der Zwänge des Mythos geht Bieitos Kapitalismus Konzept, das im ersten Akt so wunderschön und so konsequent funktionierte, vom zweiten Akt an nicht mehr auf. Der Chor der Spinnerinnen lässt sich zwar noch leicht in einen Chor von Werbedamen für Siemens Kühlschränke transformieren, der abgewiesene Erik, der in der Urfassung noch als Georg firmiert, geht vielleicht noch als „Verlierer der Globalisierung“ oder auch als frustrierter und gewalttätiger Unterschichten Typ durch, wenn er da in seinem billigen Sportdress herumläuft, eine Axt schwingt und nicht so recht weiß, ob und wie er diese benutzen soll. Die Figur der Senta mit ihrem Erlösungswahn passt allerdings nur schlecht oder allenfalls mit einigen Verrenkungen in eine Kapitalistenwelt. Aber vielleicht ist ihr Wahn ja auch nur eine psychische Störung, nur sexueller Frust, verdrängte Sexualität, die sich in einer ausschließlich merkantil bestimmten Welt nicht ausleben lässt? Bieitos Senta läuft, noch bevor ihr Holländer leibhaftig auftaucht, schon mit der Matratze unter dem Arm herum und zieht ihr Objekt der Begierde, das eigentlich lieber von Erlösung und Treue schwafeln möchte, gleich auf die Matratze. Vor die Erlösung haben die Götter den Sex gesetzt? Allein die Erlösung findet in der Urfassung ja gar nicht statt. Oder vielleicht doch? Schlägt Erik alias Georg dem Rivalen vielleicht mit der Axt den Kopf ab? Oder kreuzigt ihn die Masse? Das Schlussbild zeigt einen Holländer, der in der Pose des Gekreuzigten in seinem Schiff (dem Schlauchboot aus dem ersten Akt) hängt – und daneben steht ein nackter Mann. Sex und Crime und christliche Symbole? Der Holländer zu guter Letzt auch noch eine Postfiguration Christi?
Bieitos Holländer ist eine spektakuläre Inszenierung, ein, wenn man so will, Kinofilm mit action und suspense von der ersten bis zur letzten Minute. Ehe ich es vergesse: es wurde auch gesungen und musiziert. Barbara Schneider-Hofstetter als Senta ist eine grandiose Sängerschauspielerin. Vielleicht sollten die Stuttgarter, was den musikalischen Part angeht, ihren Fliegenden Holländer unter dem Namen „Senta“ verkaufen. Ein solcher Reklamegag würde vielleicht die Rendite erhöhen.
Wir sahen die 22. Vorstellung nach der Premiere am 25. Januar 2008.
Im Panoptikum der Bilder und Figuren. Stefan Herheim inszeniert den Rosenkavalier in der Staatsoper Stuttgart
Wer zu Herheim geht, der weiß von vornherein, dass ihn ein großes Spektakel erwartet, dass Komponist und Librettist nur noch die Stichwortgeber sind für die alles überbordende Phantasie eines hoch begabten Theatermachers, mit der er auch die bekanntesten Stücke des Repertoires zum Gaudi oder auch zum Entsetzen des Publikums neu erzählt. Die Kehrseite der Medaille ist, dass in Herheims Operninszenierungen Musik und Gesang Gefahr laufen, zur quantité negligeable zu werden, zum Soundtrack zu verkommen drohen. So geschah es vor ein paar Jahren in Salzburg der Entführung aus dem Serail und im vergangenen Jahr dem Lohengrin in der Staatsoper unter den Linden. Und so geschah es jetzt dem Rosenkavalier in Stuttgart. Ohne Zweifel wurde durchweg auf hohem Niveau gesungen und musiziert. Doch angesichts des großen Spektakels, das sich da auf der Bühne ereignete, fiel der musikalische Part nicht weiter auf. So fragte sich denn am Ende eines höchst unterhaltsamen Theaterabends die Opernbesucherin, die sich ganz in die Rolle des Voyeurs gedrängt sah, ob da nun eine „Komödie für Musik“ geboten wurde oder ob das Ganze „halt eine Farce [war] und weiter nichts“. Ich glaube, es war weder das eine noch das andere. Was wir in Stuttgart erlebten, das war – wie zu erwarten – ein großer Stefan Herheim Abend – und weiter nichts, ein Fest des Theaters, in dem sich barocker und akademischer Malerei des 19. Jahrhunderts entsprungene Silen und Satyrn, Rokokoporzellanfiguren, Strauss Karikaturen, Personen aus der Commedia dell’arte, Karnevalstypen aus Venedig, ein leibhaftiger Lohengrin, Kindersoldaten aus der K. und K. Monarchie, eine Madonna im Strahlenkranz und wer weiß was noch für Personal tummelten. Wie unser Theatermacher in Berlin dem Lohengrin alles Romantische ausgetrieben hatte, so nimmt er jetzt in Stuttgart dem Rosenkavalier alles Sentimentale und alle Süßlichkeit und setzt auch hier wie schon in Berlin auf die Karnevalisierung des Geschehens: auf Komik, Groteske und Gelächter und hin und wieder, wenn ihn die Lust am Karneval verlässt, auch auf Nachdenklichkeit und vielleicht auch auf einen Gran Betroffenheit. So wird aus der Mär von der ach so entsagungsvollen, ach so großherzigen Dame von Welt, die in konventionellen Inszenierungen die sentimentalen Kühe im Publikum schon im Finale des ersten Akts zu Tränen rührt, ein Satyrspiel um die verdrängten sexuellen Gelüste und Sehnsüchte einer etwas überreifen Dame. Und dies auch im ganz konkreten Sinne. Noch vor der Ouvertüre sieht der Zuschauer eine Marschallin, die den Spiegel zerschlägt und in einem ganz konkreten Wolkenkuckucksheim bei dichtem Theaternebel von leibhaftigen Satyrn bedrängt wird und die ein höchst androgyner, schmächtiger Oktavian, der wie ein zu klein geratener Sankt Michael oder wie ein zu groß geratener Eros Knabe aus der Höhe herabfährt, nur mühsam vertreiben kann. Und wenn dann schließlich Marschallin und Oktavian ihr Liebespiel beginnen, dann schaut ein Satyr von einem Prospekt, eine Art Collage aus Nymphen und Faun (so genau kann man das nicht erkennen), breit grinsend herab: und alle (Woll)lust will Ewigkeit, und das Satyrspiel geht weiter. Mit einer ganzen Horde von Satyrn schneit der Baron Ochs auf Lerchenau herein und wenn er dann im zweiten Akt zum Liebesspiel mit der Duenna die Perücke abnimmt, dann trägt auch er die Hörner des Satyrs. Dass der Ochs zum Satyr wird, das ist nicht unbedingt originell – das Liebestolle oder meinetwegen das Geile ist ja in der Rolle schon angelegt. Originell ist indes, wie diese Anlage in aller Deutlichkeit in Szene gesetzt wird. Wenn der Ochs von seinen Eroberungen unter den Landmädchen erzählt, („Wollt ich könnt sein wie Jupiter selig / in tausend Gestalten, /wär Verwendung für jede“) dann springt er auf das Bett der Marschallin und sucht diese und ihre angebliche Kammerzofe gleichzeitig handgreiflich zu ‚erobern’. Mögen die Lerchenauer und ihr Anführer in ihrer Rolle als Satyrn dem Fundus der Museen entsprungen sein, so reiht sich der Graf Octavian in seiner Schmächtigkeit und in seinem Rokokokostüm in die Welt der Porzellanfiguren ein, wie sie in so mach einem Schlösschen aus galanter Zeit zu bewundern sind. Mag sein, dass er ähnlich wie die Satyrn nur in den erotischen und wollüstigen Träumereien der Marschallin existiert. Und Sophie? In ihrem ganzen Outfit ist sie als die Jungmädchenausgabe der Marschallin angelegt. Und jetzt könnten, wenn sie denn wollten, die alten Damen und die müden Greise im Publikum mit einem Male verstehen, was Oktavian in der Begegnung mit Sophie geschieht: er ist nicht untreu oder gar flatterhaft. Er ist verliebt in das Idealbild seiner Marschallin und glaubt es in der jungen Sophie gefunden zu haben. Ereignet sich die Begegnung des neuen Paars in einem geradezu kammerspielartigen Ambiente, geraten die Szenen mit Ochs und seiner Entourage zum großen Karnevalsfest – vor einer nur eben angedeuteten venezianischen Kulisse. Da erscheinen die Masken, die Harlekine, der Vogel Strauss(!), und selbst die Marschallin mischt sich unter die Ausgelassenen, ja und die sonst so keusche Duenna, die „Jungfer Marianne“, mutiert zur kleinen Femme fatale, die sich an den Ochs heranmacht. Und jetzt verstehen wir im Publikum auch, dass ein von all diesem lustvollen Treiben erschöpfter Ochs, ein trunkener Silen, dem Wein und Weib zu Kopf gestiegen sind, auf dem großen Himmelbett einschläft und zum Rendez-vous mit Mariandel/Oktavian aus Schlaf und Bett gezogen werden muss und schlaftrunken, wie er ist, gar nicht mitkriegt, was ihm angetan wird. Auch im dritten Akt, der in den konventionellen Inszenierungen sich in albernen Gags und Sentimentalitäten erschöpft, weiß Herheim sein Publikum noch zu verblüffen. Da fährt die edle Marschallin als Karikatur der Jungfrau Maria im Strahlenkranz vom Bühnenhimmel herab, da versinkt das neue Traumpaar – getrennt voneinander – im Nebel in der Unterbühne, da darf der dickleibige Faninal sein abschließendes Sprüchlein – „Sein schon aso, die jungen Leut!“ – aus einer Loge im ersten Rang aufsagen, und die Marschallin antwortet ihm von der gegenüber liegenden. Ein hübscher Metatheatergag: die scheinbar so hoch gesinnten Theaterfiguren – jetzt in Alltagskleidung – denken und schwatzen genau so banal wie das durchschnittliche Publikum. Die Antwort gibt in einer Pantomime der Satyr: er zerbeißt und verschluckt die silberne Rose, die doch nur ein billiges Glasprodukt, Glitzerzeug, war und verendet zum Ende des Spektakels. „Alle Lust will Ewigkeit“? Nein, alle Lust ist zu Ende. In Stuttgart – um es noch einmal zu sagen – ist ein grandioser Rosenkavalier zu sehen, ein Rosenkavalier indes, bei dem der musikalische Part ganz im Schatten der Inszenierung steht, ein Rosenkavalier, bei dem Richard Strauss letztlich zur Unperson, zur Karikatur wird. Nicht von ungefähr schlägt in einer Schlüsselszene im dritten Akt ein genervter Ochs so lange auf den Vogel Strauss ein, der da hilflos auf der Bühne herumsteht, bis dieser zusammensinkt. In Berlin hatte Theatermacher Herheim mit seinem Lohengrin den kleinen Sachsen erledigt. In Stuttgart war der kleine Bayer an der Reihe. Prima la messa in scena, e poi…? Wir sahen die Aufführung vom 10. Januar 2010, die 9. Vorstellung nach der Premiere am 1. November 2009.
Die Schmerzensmadonna der romantischen Liebe – eine höchst brillante Lucia di Lammermoor in der Staatsoper Stuttgart
Olga Motta, die für Regie, Bühne und Kostüme verantwortlich zeichnet, hat sich wie schon vor ein paar Jahren bei ihrem Lucio Silla auch jetzt bei der Lucia für eine manieristische Grundkonzeption entschieden. Manieristisch in dem Sinne, dass auf jedwede Referenz auf eine wie auch immer geartete Wirklichkeit verzichtet wird und alles Geschehen sich in einer Welt des Traums und der Bildzitate ereignet. Über dieses Konzept wird der Zuschauer von Anfang an nicht im Zweifel gelassen. Die offene sich perspektivisch erweiternde Bühne ist in bläuliches Licht gehüllt: die traditionelle romantische Farbe des Traums und der Illusion. Im Hintergrund leuchtet eine Art Mondscheibe, die immer wieder changiert und mal an ein Weltraumbild der Erde erinnert, mal Caspar David Friedrichs Fliegende Eule vor dem Mond evoziert. Edgardo scheint in seinem schwarzen Biedermeierkostüm geradezu Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer nachgestaltet zu sein. Lucia kriecht zu ihrem ersten Auftritt aus dem Sockel einer Schmerzensmadonna. Die Signale an die Zuschauer sind schon überdeutlich: ein Liebender, der von all dem, was ihm geschieht nichts begreift, der gleichsam im Nebel herumstochert, eine Liebende, die von Anfang an zum Leiden und zum Tode verurteilt ist. Die Regie nutzt die Bildzitate immer wieder für symbolische Gesten, für Gesten, die das jeweilige Geschehen verdichten und konzentrieren. Wenn der Bruder von Lucia verlangt, sie solle sich für die Familie aufopfern, dann agieren die Figuren vor einem Altarbild, und die in ihrem Leiden verspottete Lucia steht gleichsam als Heilige in der Imitatio des sich aufopfernden Christus. Ich muss gestehen, dass ich das Bild, das in dieser Szene zitiert wird: Fra Angelico: Die Verhöhnung Christi nur mit Hilfe des Programmhefts erkannt habe. Und das gleiche gilt auch für das Motiv der roten Stöcke. Wenn die Hochzeitsgesellschaft mit langen roten Stöcken herumfuchtelt, den Hochzeitstisch mit diesen Stöcken durchbohrt, die jetzt blutrot gewordenen Tischtücher zusammenlegt, dann sind die freudianischen Assoziationen, mit denen Lucias Hochzeitsnacht mit- und nachgespielt wird, mehr als überdeterminiert. Doch dass das Motiv der Stöcke ein Bildzitat aus einem Kriegsgemälde von Paolo Uccello ist und damit gleichsam als Dingsymbol auf den Streit zwischen der verfeindeten Familien verweist, das erschließt sich für mich wiederum nur mit Hilfe des Programmhefts. So mag es noch manch anderes Bildzitat geben, das mir entgangen ist. Aber eigentlich ist das gar nicht so wichtig. Das Vergnügen war auch ohne zusätzlichen Erkenntnisgewinn schon groß genug. Die Inszenierung mit ihrer Fülle der Bildzitate, dem albtraumhaften Biedermeierambiente, das sie evoziert, mit ihrer Stilisierung der Protagonistin zur Heiligen der ‚Liebe als Passion’ ist zweifellos brillant und beeindruckend. Doch noch beeindruckender ist das Ensemble, das in Stuttgart auf der Bühne singt und agiert. Phantastisch, grandios wird in den großen Rollen gesungen und gespielt. Doch Ana Durlovski in der Titelrolle übertrifft in Spiel und Gesang und nicht zuletzt auch als Bühnenerscheinung noch einmal alle anderen Mitwirkenden. Es mag ja sein, dass in Zürich noch eine bessere Belcanto Sängerin zu hören ist. Doch in ihrem hingebungsvollen Spiel, in ihrer anrührenden Erscheinung, in ihrer Gestaltung des sich immer mehr steigernden Wahns, da ist die Stuttgarter Lucia wohl kaum zu übertreffen. – Wir sahen die Vorstellung am 9. Januar 2010. Es war die neunte Aufführung seit der Premiere am 3. Oktober 2009.